„Wir kommen morgen früh, seid bereit! Der Zug ist um 7:20 Uhr.“ Diese knappe Nachricht brachte Anastasija völlig aus dem Gleichgewicht. Mit gesenktem Blick saß sie auf der Sofakante, starrte auf ihr Handy und hoffte vergeblich auf eine Fortsetzung der Botschaft. Doch die Verbindung wurde einfach unterbrochen – kein “Darf ich?” oder “Ist es euch recht?”. Nur ein kurzer, befehlender Satz. Die Anruferin war Veronika, ihre Cousine, mit der sie lange keinen Kontakt mehr hatte. Ein Anruf von ihr bedeutete normalerweise nur eines: Sie brauchte etwas. Ein unvermittelter Besuch war undenkbar.
Im Bauch regte sich das Kind, als würde es die innere Unruhe seiner Mutter spüren. Ihr Mann Artjom arbeitete noch. Mechanisch begann Anastasiya, ihre To-do-Liste für den kommenden Tag durchzugehen: Einkäufe, Kochen, Arzttermin vereinbaren. Und jetzt das: Unerwarteter Familienbesuch.
Bereits wusste Anastasija, dass sie ihre Wohnung diesmal nicht öffnen würde – auch wenn es zu Streit käme. Sie würde es durchsetzen, egal wie verletzt sich die Verwandtschaft fühlen mochte.
Ein schmerzliches Déjà-vu
Anastjas Reaktion war nicht unbegründet. Der letzte Besuch von Veronika hatte sich tief eingeprägt – und zwar aus keinem erfreulichen Anlass.
Vor ungefähr fünf Jahren lebte Anastasia noch bei ihren Eltern in einer beengten Drei-Zimmer-Wohnung mit typischem sowjetischem Grundriss: ein Durchgangszimmer, ihr eigenes Zimmer und das Schlafzimmer ihrer Eltern. Damals stürmten die Tante Raisa und ihre Tochter Veronika in ihr Zuhause – zunächst geplant für ein paar Tage, doch der Aufenthalt zog sich fast über eine Woche hin.
Tante Raisa war die ältere Schwester von Anastjas Mutter, Sofja Petrowna, und war in der Familie gefürchtet. Sie sprach laut, verlangte viel und befahl, als sei sie Hauptmieterin. Während ihres Aufenthalts zog sich Anastjas Vater Oleg Pawlowitsch in die Garage zurück, um der unangenehmen Atmosphäre zu entgehen. Die Mutter war hingegen hektisch in der Küche beschäftigt, als besuche sie eine Königin.
Veronika bezog Anastjas Zimmer, während Raisa das Durchgangszimmer beanspruchte, ohne je zu fragen. Veronika begann sofort, sich aufdringlich aufzuführen: Durchwühlte den Kleiderschrank, benutzte Anastjas Kosmetikartikel und griff in deren Schminktäschchen.
„Ach, ich wollte nur mal ausprobieren“, grinste sie, während sie Anastjas Wimperntusche auftrug. „Bei uns zuhause gibt’s sowas nicht. Hier ist es ja richtig schön!“
Es wurde noch schlimmer:
- „Darf ich heute deinen Anzug tragen? Schau, wie gut der sitzt! Ehrlich, dir steht der eh nicht.“
Anastasia versuchte, zu widersprechen, doch Tante Raisa schritt ein:
„Warum auch nicht? Ihr seid doch Schwestern. Teilen gehört dazu. Ihr habt ja alles, und wir nicht.“
Sofja Petrowna sah bei diesen Worten schuldbewusst zu Boden:
„Nun, liebe Allinka… Familie ist Familie. Sie durchleben gerade eine schwere Zeit. Hab bitte Geduld.“
Schlussendlich versteckte Anastasia einige ihrer Sachen im Elternschlafzimmer, andere verschenkte sie. Das belastendste Gefühl war jedoch, sich in den eigenen vier Wänden fremd zu fühlen: ständiges Beobachtetwerden und Anspannung prägten den Aufenthalt.
Seitdem waren fünf Jahre vergangen. Anastasia heiratete Artjom, begann eine neue Karriere in einem Designbüro, wo sie ihr Potential voll entfalten konnte. Kürzlich zogen sie in eine helle Wohnung mit großen Fenstern und einem Traumwohnzimmer um, erwarteten ihr erstes Kind und lebten friedlich – ohne unangekündigte Besuche.
Und nun das.
Das Wort „Überraschung“ klang in ihren Ohren wie Hohn.
Sie wusste sofort: dieses Mal wird alles anders verlaufen.
Ein liebevoller Partner als Rückhalt
Artjom holte Anastasia wie gewöhnlich am Abend ab, brachte Kaffee und ihre Lieblingskekse mit.
„Schlechter Tag?“, fragte er fürsorglich, als er sie betrachtete.
„Veronika hat angerufen. Sie kommen morgen früh mit dem Zug um 7:20. Ohne Einladung. Ohne Frage, ob es passt. Nur: ‘Bereitet euch vor, Überraschung!’“ Anastasia berichtete ruhig, doch in ihrer Stimme lag unverhohlene Enttäuschung.
„Kommt die zu dir?“, wollte Artjom wissen.
„Ich weiß nicht. Wahrscheinlich fahren sie zur Mutter, deren Adresse kennen sie noch. Meinen Wohnort kennen sie nicht. Zum Glück.“
„Dann sollen sie dorthin fahren“, antwortete Artjom gelassen, während er den Wagen Richtung Zuhause lenkte. „Du bist nicht aus Stahl und sicher kein Hotel für unangemeldete Gäste. Und vor allem darfst du dich nicht aufregen. Eine Überraschung sind Blumen, nicht ein Koffer an der Tür.“
Während draußen die Stadt lebte und funkelte, erfüllte Ruhe ihr Inneres. Neben ihr saß jemand, der keine Erwartungen stellte, der Verständnis zeigte und Schutz versprach.
Der unverhoffte Empfang
Am nächsten Morgen, einem Samstag, klingelte das Telefon früh:
„Schläfst du noch? Wir sind am Bahnhof. Warum kommst du nicht?“ Veronikas genervte Stimme hallte durch den Hörer.
„Guten Morgen, Veronika“, antwortete Anastasija gelassen, während sie sich streckte. „Ich schlief noch. Artjom ist schon bei der Arbeit. Ich mache mich jetzt auch fertig. Ihr müsst euch ein Taxi nehmen.“
„Und deine Eltern?“
„Keine Ahnung. Wir haben gestern nicht telefoniert. Wahrscheinlich zu Hause. Ihr könnt sie anrufen.“
„Du hast uns also nicht informiert?“
„Ihr habt nicht gefragt. Ihr habt nur informiert, dass ihr kommt.“
„Aber ich habe angerufen!“
„Das stimmt. Aber du hast nicht gefragt, ob wir euch empfangen können. Jeder hat seine eigenen Pläne, Veronika. Ich bin kein Hotel.“
Anastasija legte auf und atmete tief durch. Wie befreiend es doch war, sich keine Sorgen um Bequemlichkeiten zu machen.
Familielle Spannungen hinter den Kulissen
Unterdessen tobte Sofja Petrowna in einer Dreizimmerwohnung mit Balkon und Vorräten zwischen Küche und Flur hin und her. Das Telefon klingelte ununterbrochen, jeder Anruf ließ ihr Herz schwerer schlagen.
„Wir sind am Bahnhof, niemand hat uns abgeholt!“, beschwerte sich Raisa ungehalten, kaum dass Sofja Petrowna den Hörer abnahm.
„Warum habt ihr nicht Bescheid gesagt?“, war ihre nervöse Antwort. „Oleg ist gerade Brot holen, er holt euch ab. Oder nehmt ein Taxi, das geht schneller. Ihr seid sicher müde von der Reise…“
„Wir sind nicht nur müde, wir sind enttäuscht! Nika und Wadim haben sich kaum von der Arbeit losreißen können, und uns erwartet niemand.“
Sofja Petrowna legte auf und begann hastig, alles Essbare auf dem Tisch auszubreiten. Für aufwendige Gerichte reichte die Zeit nicht mehr, aber der Tisch wirkte trotzdem einladend: Kuchen, Marmelade, Salat, Hähnchenfrikadellen und eingelegte Gurken vom Vorrat.
Als Raisa, Veronika und ihr Mann müde und mit betrübten Gesichtern und rollbaren Koffern eintrafen, lächelte Sofja Petrowna gequält und sagte:
„Kommt rein. Entschuldigt, dass euch niemand abgeholt hat. Das war unerwartet. Eine vorherige Nachricht wäre hilfreich gewesen.“
„Wir haben zwei Stunden am Bahnhof gewartet, und kein Mensch kam! So sieht Verwandtschaft aus“, fügte Veronika hinzu und musterte den Raum.
Die Szene wiederholte sich: Raisa übte Kritik, Veronika fühlte sich missverstanden, Wadim hingegen tippte gelangweilt auf seinem Handy und gab sich unbeteiligt.
Abends saß Sofja Petrowna erschöpft am Bettrand, während Oleg Pawlowitsch sie und die Situation finster musterte.

„Vielleicht sollte Anastasia sie bei sich aufnehmen? Dort gibt es mehr Platz“, schlug er zögernd vor.
„Das tut sie nicht“, seufzte Sofja. „Sie hat schon genug um die Ohren. Schwanger, Arbeit. Ich habe ihr nichts gesagt, wollte sie nicht beunruhigen. Und sie muss das nicht noch einmal ertragen.“
Zur gleichen Zeit begannen die Gäste, ihre Sachen auszupacken. Veronika bemerkte zwischenbei:
„Anastasias Wohnung soll sehr schön sein, zentral gelegen, in einem Neubau. Dort würden wir uns mit Wadim bestimmt wohler fühlen.“
„Hier ist es eben zu eng“, ergänzte auch Raisa mit offenem Seitenhieb.
Sofja Petrowna nickte nur, unfähig zu erwidern. Die Geschichte wiederholte sich, als hätte die Zeit einen Kreis vollzogen.
Ein Abend bei Anastasija und Artjom
Am Sonntag, wie geplant, luden Anastasija und Artjom die Verwandten zu sich ein – allerdings nur für einen Abend. Veronika war beim Betreten der Wohnung merklich überrascht von der hohen Decke, den Panoramafenstern und dem skandinavischen, hellen Minimalismus-Stil. Alles wirkte gemütlich und modern.
„Wow“, staunte sie offen. „Anastasija, du bist echt talentiert. So fühlt es sich an wie aus einer Zeitschrift. Wadim und ich würden hier glatt wohnen bleiben – viel schöner als bei den Alten.“
Tante Raisa nahm ebenfalls alles genau unter die Lupe, als wäre sie auf einer Führung:
„Na, Schwiegersohn, wie läuft’s hier? Hypothek, was?“
Artjom nickte, als hätte er die Frage kaum gehört, während Anastasija zum Essen einlud.
Die Unterhaltung verlief schleppend. Veronika erzählte von den Ausstellungen, die sie bereits besucht hatten und dem Mangel an kulturellem Umfeld. Tante Raisa klagte über Nachbarn, Läden und das Wetter. Wadim aß genussvoll, während Artjom höflich beibetragen und immer wieder zu Anastasija schielte, die zwar freundlich, aber sichtlich erschöpft wirkte.
Als sie um 19 Uhr die Gäste verabschiedeten, stand Artjom auf, sammelte leere Teller ein und erklärte sachlich:
„Der Abend war schön, aber jetzt wird es Zeit. Anastasija muss morgen arbeiten und braucht Ruhe. Schwanger zu sein ist kein Kinderspiel.“
Tante Raisa zog erstaunt die Augenbrauen hoch:
„Wir hatten gehofft, heute Nacht bei euch bleiben zu können, um nicht zurückfahren zu müssen.“
„Leider geht das nicht“, antwortete Artjom bestimmt, aber freundlich. „Wir haben morgen früh einen Arzttermin.“
Nachdem sie die Verwandten verabschiedet hatten, kehrte Ruhe in die Wohnung ein – zum ersten Mal an diesem Tag richtig.
Ein unerwarteter Notfall
Doch die Stille währte nicht lang. Am Montagnachmittag klingelte das Telefon:
„Anastasija, komm bitte. Mutter geht es schlecht. Der Rettungsdienst ist gerufen.“
Sofort machten sich Artjom und Anastasija auf den Weg. Vor dem Haus stand das Rettungsfahrzeug, eine Nachbarin winkte ihnen zu.
Im Wohnzimmer lag die Mutter blass auf dem Sofa, ein feuchtes Tuch auf der Stirn. Raisa und Veronika saßen schweigend daneben, verwirrt und ratlos.
Der Arzt trat zu Anastasija, reichte ihr ein Rezept und erklärte:
„Nichts Ernstes. Erhöhter Blutdruck und Erschöpfung. Ruhe, Vitamine, Frieden. In ihrem Alter ist Vorsicht besser als Heldentum.“
Anastasija nahm die Hand ihrer Mutter, die mit verschwommenem Blick sagte:
„Alles gut, mein Schatz. Ich bin nur müde.“
Artjom stellte sich an die Tür und wendete sich an Raisa:
„Vielleicht reicht es jetzt. Sofja Petrowna braucht Ruhe, und ihr benehmt euch, als wäret ihr im Urlaub.“
Raisa fuhr auf:
„Was? Wir stören also?“
Anastasija griff ruhig, aber bestimmt ein:
„Mama ist wirklich krank. Wir können es nicht länger erlauben, dass ihr hier bleibt. Gebt uns bitte eure Pässe, wir kaufen die Zugtickets. Oder wenn ihr in der Stadt bleiben wollt, fahrt ins Hotel.“
„Aber wir haben für übermorgen Theaterkarten!“, protestierte Veronika.
„Das ist schön“, erwiderte Anastasija. „Aber nicht auf Kosten der Gesundheit anderer.“
Raisa seufzte laut, ohne Einwände zu machen. Veronika drehte sich zum Fenster, und schwere Stille legte sich über den Raum.
Der letzte Abschied
Anastasija blickte aus dem Küchenfenster, wie ihr Vater langsam zur Apotheke ging, um Medikamente zu besorgen. Artjom saß am Tisch und buchte die Fahrkarten.
„Morgen früh“, sagte er ohne aufzusehen. „Schneller ging es nicht. Wir erledigen das selbst, damit ihr schnell abreisen könnt.“
Anastasija nickte. Im Nebenzimmer flüsterten Raisa und Veronika, murmelten Beschwerden, öffneten Schränke und packten ihre Sachen.
Sofja Petrowna lag mit hochgelagertem Kopfkissen und versuchte nicht mehr aufzustehen oder hektisch zu sein.
„Mama…“, setzte Anastasija sich zu ihr. „Jetzt heißt es Ruhe bewahren. Kein ‚Noch-einmal-gedulden‘ mehr. Einverstanden?“
Sofja Petrowna nickte dankbar. Anastasija umarmte sie und wusste: Jetzt ordnet sich alles an seinen Platz.
Später brachte Artjom die Gäste zum Bahnhof. Veronika versuchte noch eine Spitze:
„Ich hätte nicht erwartet, dass ihr so seid. Die Tickets zu kaufen wirkt wie Rausschmiss.“
Artjom antwortete ruhig, den Blick auf den Rückspiegel gerichtet:
„Das war’s mit den Besuchen. Ohne Erlaubnis aufzutauchen ist nicht normal.“
Raisa schnaubte, schwieg aber.
Am Bahnhof verabschiedeten sie sich kurz. Keine Umarmungen, kein Versprechen auf Wiedersehen.
Anastasija saß am Abend lange schweigend unter der Decke und beobachtete, wie die Dunkelheit sich über die Stadt legte. In ihrem Inneren herrschte nur eines: Frieden und das sichere Gefühl, dass ihr Zuhause wirklich ihr Rückzugsort ist. Ihre Mutter geschützt. Und ihr Kind wird in einer Welt geboren, in der man auch einmal nein sagen darf.