Ich stand in der Küche und rührte gedankenverloren in meinem Tee, der längst kalt geworden war. Die altmodische Wanduhr neben mir gab weiterhin ihr monoton-sachliches Ticken von sich. Es war bereits ein ganzer Monat vergangen, seitdem ich allein lebte. Wolfgang, mein Mann, hatte seine Koffer gepackt und die gemeinsame Wohnung verlassen. Er war fortgegangen – zu Anja im dritten Stock.
„Gisela, glaub mir, es ist für uns alle das Beste“, hatte er damals gesagt, während er seine Hemden in einen abgewetzten Koffer stopfte. „Wir sind einfach nicht mehr eins.“
Mit nur einem Satz waren drei Jahrzehnte Ehe zusammengefasst. Dreißig Jahre, in denen ich ihm Borschtsch gekocht, seine Hemden gebügelt und seine Stimmungsschwankungen geduldig ertragen hatte. Ein Jahrzehnt des Verzeihens, Anpassens und Durchhaltens. Manchmal glaubte ich, genau das sei der Kern von Liebe.
„Siehst du nicht, wie absurd das ist?“, hatte ich ihn zur Rede gestellt, um meine Würde zu schützen. „In deinem Alter hinter einer jüngeren Nachbarin herzujagen…“
Er schnitt mir das Wort ab: „Anja versteht mich. Bei ihr fühle ich mich lebendig.“
Lebendig – und ich? War ich damit nicht mehr lebendig? Drei Jahrzehnte schleichenden Zerfalls – so sah er es. Ich sah ihm nach, und innerlich zerbrach etwas. Kein Herzschmerz, vielmehr ein tiefer Riss. Ein unsichtbarer Faden, der mich mit dem früheren Leben verband, war gerissen.
Die ersten Wochen lebte ich wie betäubt. Morgens aufzustehen, zur Stadtbibliothek zu gehen, abends in meine leere Wohnung zurückzukehren – das wurde zur Routine. Die Nachbarn tuschelten hinter meinem Rücken, einige boten Trost an. Doch ich wollte weder Mitleid noch Trost.
- Die Nachbarin Ursula rief mir zu: „Gisela, halte durch! Männer sind alle gleich, grauer Bart, aber immer ein Teufel im Rücken.“
Beim Blick in den Spiegel erkannte ich mich selbst kaum wieder. Wann war ich zu dieser fahlen, erschöpften Frau geworden? Wann hatte ich zugelassen, dass ich nur noch ein Schatten meines Mannes war?
Langsam begann ich, mein Leben neu auszurichten. Zuerst schrieb ich mich im Schwimmbad ein, nur um Abende auszufüllen. Danach folgten Englischkurse. Meine Kinder riefen täglich an, doch ich wollte sie nicht mit meinen Problemen belasten. Sie hatten ihr eigenes Leben und ihre eigenen Sorgen.
„Mama, warum ziehst du nicht zu uns?“, fragte meine Tochter Lena. „Du wolltest doch immer nach Berlin.“
„Nein, Lena“, entgegnete ich. „Hier ist mein Zuhause. Mein ganzes Leben ist hier verwurzelt.“
Sieben Monate später saß ich am Fenster und starrte hinaus in die dunkle Nacht. Plötzlich bemerkte ich, dass ich nachts nicht mehr weinte. Ich hörte nicht mehr auf die Schritte auf der Treppe. Und ich wartete nicht darauf, dass Wolfgang seine Meinung änderte und zurückkehrte.
Als ich gerade den Morgenkaffee aufbrühte, hallte ein energisches Klopfen an der Tür wider. Es war kein sanftes Nachbarschaftsklingeln, sondern hartnäckig und eindringlich. Vor mir stand Anja. Sie war geschminkt, trug ein figurbetontes Kleid und hatte eine Mappe unter dem Arm.
„Wir müssen reden“, sagte sie ohne Begrüßung und trat scheinbar selbstbewusst in meine Wohnung ein. Ihr Duft von scharfem Parfüm erfüllte den Raum.
„Worum geht es?“, fragte ich automatisch und zog meinen Bademantel enger, spürte dabei Unbehagen in ihrem prüfenden Blick.
„Es geht um die Wohnung“, erklärte sie, setzte sich auf einen Küchenstuhl und verschränkte selbstbewusst die Beine. „Wolfgang will alles rechtlich klären. Er hat Anspruch auf die Hälfte.“
Ein wütendes Gefühl stieg in mir empor, diesmal war es keine Trauer, sondern pure Empörung.
„Was meinst du mit ‚Anspruch‘?“, meine Stimme wurde plötzlich laut und bestimmt.
„Genau das bedeutet es“, entgegnete sie und zog einige Dokumente hervor. „Dreißig Jahre Ehe – alles, was wir gemeinsam erworben haben, wird gerecht aufgeteilt. Wolfgang und ich beabsichtigen zu heiraten, sobald die Scheidung erfolgt. Er möchte mir die Hälfte der Wohnung übertragen.“
Ungläubig sah ich sie an. Diese Frau, etwa fünfzehn Jahre jünger als ich, saß unverschämt in meiner Küche und beanspruchte meine Wohnung, als gehöre sie ihr bereits.
„Anja“, begann ich langsam, „hat Wolfgang dir erklärt, wie diese Wohnung zu mir gekommen ist?“
Sie zuckte mit den Schultern.
„Was soll das schon? Gemeinschaftliches Eigentum wird gesetzlich fair geteilt.“
„Es ist die Wohnung meiner Eltern“, spürte ich, wie Zorn in mir aufstieg. „Sie schenkten sie mir lange vor unserer Ehe. Wolfgang kennt diese Tatsache sehr wohl.“
„Hör zu, Gisela“, trat Anja näher. „Lass uns dieses Drama beenden. Wolfgang meint, wenn du nicht zustimmst, wird es ein Verfahren geben. Du willst doch keinen Rechtsstreit, oder?“
In diesem Moment riss etwas in mir endgültig. Der letzte unsichtbare Faden zu dem früheren unterwürfigen Ich zerfetzte.
„Verlass jetzt meine Wohnung“, sagte ich ruhig, aber bestimmt.
„Wie bitte?“
„Raus!“, stand ich auf, meine Hände zitterten vor Entschlossenheit. „Und richte deinem Wolfgang aus: wenn er vor Gericht ziehen will, soll er das tun. Aber ich bin nicht länger die Frau, die jedes Unrecht stillschweigend erduldet.“
Anja lächelte spöttisch, sammelte ihre Unterlagen zusammen.
„Das wirst du bereuen, alte Hexe. Wir zeigen dir, was du verloren hast.“
Nachdem sie gegangen war und die Tür ins Schloss fiel, sank ich erschöpft in einen Stuhl und weinte – Tränen des Zorns, aber auch der Entschlossenheit.
Noch am selben Tag kontaktierte ich meine Freundin Sabine, die in einer Anwaltskanzlei arbeitet.
„Gisela, du hast den richtigen Schritt getan, dass du dir Unterstützung holst“, sagte sie, nachdem sie die Dokumente geprüft hatte. „Der Schenkungsvertrag deiner Eltern ist ein fester Beweis. Solches Eigentum wird bei einer Scheidung nicht geteilt.“
In Sabines Büro saß ich zwischen hohen Aktenstapeln. Sie arbeitete schnellen Schrittes an ihrem Laptop.
„Weißt du, was mich am meisten erstaunt?“, sah sie über ihre Brille hinweg zu mir. „Dein Wolfgang weiß ganz genau, dass die Wohnung dir allein gehört. Er hat nur angenommen, du würdest wieder nachgeben.“
Diese Worte trafen mich ins Herz. Mein ganzes Leben hatte ich oft nachgegeben – bei kleinen Dingen genauso wie bei den großen. Als er wollte, dass ich mein Studium abbreche. Als er das Klavier meiner Mutter verkaufte, weil es „zu viel Platz wegnahm.“ Als er allein über unser Familienbudget entschied.
Wichtige Erkenntnis: Jeder Mensch verdient es, sein Eigentum und seine Würde zu schützen – besonders in Zeiten der Veränderung.
„Jetzt hör dir den Plan an“, reichte Sabine mir ein Papier mit Notizen. „Erstens: Scheidung einreichen. Zweitens: alle Eigentumsnachweise zusammentragen. Drittens…“
Plötzlich klopfte es an der Tür. Eine junge Sekretärin kam herein:
„Sabine Nikolaevna, ein Mann wartet und behauptet, es sei dringend.“
„Lass ihn warten“, winkte Sabine ab. Doch gerade in diesem Augenblick stürmte Wolfgang herein, dicht gefolgt von Anja.
„Da bist du ja“, schrie er und stand bedrohlich vor mir. „Schon wieder Beschwerden?“
Ich zog mich zurück, aber dann richtete ich mich entschlossen auf. Die Angst war verschwunden.
„Wolfgang Mikhailovich“, sagte Sabine mit kühler Stimme, „verlassen Sie bitte den Raum. Sonst werde ich Sicherheitskräfte rufen.“
Wolfgang senkte seine Stimme zu einem bedrohlichen Flüstern: „Verstehst du nicht, dass ich mein Ziel erreiche? Glaubst du, ich werde keinen Weg finden?“
„Nein, Wolfgang“, stand ich auf und traf seinen Blick fest, „versteh: Ich bin nicht mehr die Frau, die du kontrollieren kannst.“
Diese Geschichte zeigt, wie tiefgreifend ein Verlust sein kann, aber auch, wie wichtig es ist, nach vorne zu schauen und für sein Recht einzustehen. Auch wenn schmerzhafte Veränderungen unser Leben erschüttern, liegt darin die Chance für einen Neubeginn und das Wiederentdecken der eigenen Stärke.