Wenn familiäre Verpflichtungen zur Belastung werden: Die Geschichte von Vasilisa und Sergej

Vasilisa sortierte sorgfältig ihre Schulhefte auf dem Tisch und schlug das Mathematikbuch auf der richtigen Seite auf. Neben ihr saß ihr zehnjähriger Bruder Sergej, der seufzend die Beispiele zu Brüchen betrachtete.

„Vasya, ich verstehe es nicht“, jammerte der Junge. „Kannst du es mir noch einmal erklären?“

Die fünfzehnjährige Schwester antwortete geduldig: „Schau genau hin. Beim Addieren von Brüchen muss man sie auf einen gemeinsamen Nenner bringen…“

Aus der Küche erklang die Stimme ihrer Mutter, Ludmila Petrowna: „Vasilisa, hilf deinem Bruder! Du bist älter, das Lernen fällt dir leichter. Sergej ist noch klein, für ihn ist es schwerer.“

Vasilisa nickte, obwohl sich in ihr eine leichte Gereiztheit regte. Warum war immer sie diejenige, die helfen musste? Warum konnte Sergej die Hausaufgaben nicht selbst bewältigen?

„Jetzt hast du es verstanden?“ fragte die Schwester, während sie bereits den dritten Rechenaufgabe erklärte.

„Ja“, nickte Sergej, doch Vasilisa bemerkte, dass ihr Bruder lediglich Lösungen abschrieb.

„Ältere Geschwister sollten den Jüngeren Unterstützung bieten – das ist das Familiengesetz“, betonte Ludmila Petrowna immer wieder.

So verlief es über Jahre hinweg: Vasilisa erklärte Algebra, half bei Aufsätzen und bereitete Sergej auf Klassenarbeiten vor. Eines Tages fragte sie ihre Mutter: „Warum sollte ich seine Hausaufgaben machen? Er sollte doch selbst lernen.“

„Nicht machen, sondern helfen“, korrigierte die Mutter. „Du bist schlau, für dich ist es kein Problem, aber Mathematik fällt Sergej schwer.“

„Weil er sich nicht anstrengt!“

„Sei nicht unhöflich!“, fuhr Ludmila Petrowna sie an. „Innerhalb der Familie hilft man einander, besonders die Älteren den Jüngeren.“

Bis zur Abschlussklasse war Sergej so sehr an die Unterstützung seiner Schwester gewöhnt, dass er gar nicht mehr versuchte, Aufgaben selbst zu lösen. Er kam nach Hause, warf den Ranzen auf den Boden und sagte: „Lisa, morgen ist Chemie-Klassenarbeit. Hilf mir beim Lernen.“

Nachdem Vasilisa an der Universität Wirtschaftswissenschaften studierte und nebenbei arbeitete, um das Wohnheim und Lehrbücher zu finanzieren, kam Sergej ebenfalls ins Studium. Ludmila Petrowna schlug vor: „Vasilisa, nimm deinen Bruder bei dir auf. Im Wohnheim gibt es keinen Platz, und eine eigene Wohnung zu mieten, ist teuer.“

„Mama, meine kleine Zimmergröße wird nicht reichen für uns beide.“

„Doch, das klappt schon. Sergej ist ein bescheidener Junge, er nimmt nicht viel Platz ein.“

So zog Sergej zu seiner Schwester, schlief auf einer Feldbettliege und beanspruchte viel von dem kleinen Raum mit seinen Sachen, ohne Miete zu zahlen.

  • Vasilisa arbeitete abends als Kellnerin und am Wochenende als Aushilfskraft bei Flyeraktionen.
  • Sergej studierte entspannt und half gelegentlich beim Aufräumen.
  • Finanzielle Belastungen lagen hauptsächlich bei der Schwester.

„Lisa, hast du Geld? Ich muss mir Bücher kaufen“, fragte Sergej.

„Für Bücher habe ich, aber neue Jeans kann ich mir nicht leisten“, antwortete Vasilisa, während sie ihre zerknitterten Scheine zählte.

„Jeans kannst du später kaufen, aber eine Ausbildung ist wichtiger“, beruhigte Sergej sie.

Nach dem Studium fand Vasilisa eine Stelle als Trainee in einer Bank. Der Job war stressig, aber vielversprechend. Drei Jahre später erhielt sie eine Beförderung und ein gutes Gehalt. Sergej begann als Programmierer zu arbeiten und zog schließlich aus der Wohnung seiner Schwester aus.

„Jetzt bin ich unabhängig“, erklärte er stolz beim Packen. „Danke, dass du mir geholfen hast, auf eigenen Beinen zu stehen.“

Vasilisa spürte nach langer Zeit Freiheit: keine Verpflichtungen mehr, für andere zu sorgen, keine Miete zu teilen – sie konnte Geld endlich für sich selbst ausgeben. Sie erneuerte ihre Garderobe, kaufte hochwertige Kosmetik und meldete sich zu Englischkursen an.

Mit 27 Jahren entschied sie sich zu einem großen Schritt: eine Einzimmerwohnung in einem Neubau auf Kredit zu kaufen. Die monatliche Rate betrug ein Drittel ihres Einkommens, dennoch war ihr die eigene Wohnung jeden Cent wert.

„Herzlichen Glückwunsch! Du bist jetzt wirklich erwachsen“, freute sich ihre Mutter, als Vasilisa von ihrem Kauf erzählte.

Doch Sergej wohnte weiterhin zur Miete, oft unzufrieden mit den ständig steigenden Nebenkosten und einer strengen Vermieterin.

„Du hast Glück“, seufzte Sergej mit Neid beim Betrachten der Fotos von Vasilisas Wohnung. „Meine Vermieterin verbietet mir vieles, und die Miete wächst weiter.“

„Du bist Programmierer, hast gutes Einkommen. Spar doch auf eine eigene Wohnung“, gab Vasilisa zu bedenken.

„Leicht gesagt, wenn die Hälfte meines Gehalts für die Miete draufgeht. Wo soll ich da sparen?“

„Finde einen Nebenjob oder miete erst einmal ein Zimmer statt einer ganzen Wohnung.“

„Lisa, du verstehst nicht — ich bin ein Mann, ich brauche Platz und Komfort. So eine kleine Kammer ist nichts für mich.“

„Und ich? Als du bei mir wohnte, haben wir uns auf zehn Quadratmetern durchgeschlagen.“

„Das war vorübergehend. Jetzt bin ich erwachsen und will eine eigene Familie gründen.“

Die Mutter hörte dem Gespräch aufmerksam zu und nickte immer wieder bestätigend.

„Natürlich, Junge, du brauchst dein eigenes Zuhause. Ohne geht es nicht“, erklärte Ludmila Petrowna.

Kurze Zeit später rief die Mutter bei Vasilisa an:

„Wie läuft es mit deiner Wohnung?“

„Ganz okay, der Renovierungsfortschritt ist langsam.“

„Sergej ist sehr niedergeschlagen. Seine Vermieterin kündigt ihm, weil sie verkaufen will.“

„Was macht er jetzt?“

„Sucht eine neue Wohnung, doch alles ist zu teuer. Vielleicht kannst du ihm helfen?“

„Wie soll ich helfen?“

„Du verdienst gut und hast Stabilität. Sergej hat es schwer.“

Im Laufe der Wochen wurde die Forderung der Mutter immer deutlicher; sie drängte zur Unterstützung des Bruders bei der Wohnungssituation.

  • Sergej beklagte sich oft über seine Mietsituation.
  • Ludmila Petrowna legte nahe, Vasilisa solle ihrer Familie beistehen.
  • Vasilisa fühlte sich zunehmend unter Druck gesetzt, obwohl sie sich ihres eigenen Kredits bewusst war.

Eines Abends klopfte es an der Tür, und Ludmila Petrowna stand überraschend mit Sergej davor.

„Wir wollten nur vorbeischauen“, sagte die Mutter fröhlich.

Beim Teetrinken gab die Mutter schließlich bekannt:

„Sergej hat eine eigene Wohnung gekauft, die Kreditraten wirst aber du bezahlen.“

Vasilisa erstarrte. Ihre Mutter erklärte, sie habe als Bürge für den Kredit unterschrieben und damit die Tochter eingespannen.

„Wie kann das sein?“, fragte Vasilisa ungläubig. „Ihr habt ohne mein Wissen den Kredit aufgenommen und mich verpflichtet, zu zahlen?“

Sergej rechtfertigte sich, er verdiene nicht genug, und Vasilisa habe ein höheres Einkommen.

„Warum sollte ich für deine Schulden geradestehen?“, entgegnete sie.

Der Streit eskalierte, wobei Ludmila Petrowna betonte, dass die Familie zusammenhalten müsse und die Ältesten helfen sollten.

„Familie bedeutet Unterstützung, aber nicht unaufgeforderte finanzielle Lasten“, betonte Vasilisa entschieden.

Sie erinnerte an all die Jahre, in denen sie für Sergej da war – Hausaufgabenbetreuung, Unterkunft, Essen – und stellte klar, dass sie nicht für ewig die finanzielle Last übernehmen würde.

Schließlich erklärte Vasilisa, dass die Mutter und der Bruder, wenn sie nicht für den Kredit zahlen könnten, das Eigentum an die Bank zurückgeben sollten.

Als Mutter und Bruder fassungslos waren, unterstrich sie, dass jeder selbst die Konsequenzen tragen müsse, wenn man finanzielle Verpflichtungen eingeht.

Nach einem letzten Appell der Mutter verließ die Tochter entschieden die Wohnungstür hinter sich und blockierte telefonisch sowohl Mutter als auch Bruder.

Für das erste Mal in ihrem Leben setzte Vasilisa klare Grenzen und sagte „Nein“ zu Manipulationen und unberechtigter Belastung.

Sie fühlte trotz der Anspannung eine innere Ruhe, denn endlich konnte sie für sich selbst leben, ohne sich schuldig zu fühlen.

Nach einem langen Tag setzte sich Vasilisa mit einer Tasse Tee und ihrem Lieblingsbuch in den Sessel. Niemand forderte sie mehr auf, sich für andere zu opfern, und das erfüllte sie mit einem wunderbaren Gefühl von Freiheit.

Fazit: Dieses Familienporträt zeigt, wie familiäre Erwartungen zur Belastung werden können, wenn Unterstützung zur Pflicht wird. Es unterstreicht die Wichtigkeit von Grenzen und Selbstbestimmung, selbst innerhalb naher Beziehungen. Nur durch offene Kommunikation und gegenseitigen Respekt lassen sich gesunde Familienbande gestalten.