Der unerwartete Anruf der Schwiegermutter brachte Raya aus dem Gleichgewicht. Mechanisch schob sie die Tasse an das andere Ende des Tisches, während sie versuchte, ihre Gedanken zu sammeln.
Die Frühlingssonne tauchte die Stadt in warmes Licht, doch im Inneren hallten die Worte von Ludmila Borisovna nach.
„Petjka,“ – die Stimme der Frau klang wie gewohnt süßlich und hallte aus dem Lautsprecher – „am Wochenende ist Familienessen. Ich erwarte euch! Und richte deiner…“ – eine Pause, scharf wie ein Fallbeil – „Frau aus, dass sie sich angemessen kleidet. Wir sind schließlich eine feine Gesellschaft.“
Drei Jahre Ehe hatten die Schwiegermutter nicht milder gestimmt. Begriffe wie „Waisenhausmädchen“ oder „Arme“ – Worte, die Raya heimlich aus den Gesprächen der Frau mit Freunden aufgeschnappt hatte – brannten wie Nadeln unter ihrer Haut.
„Lass den Kopf nicht hängen,“ tröstete Petr sie, während er sie an den Schultern umarmte. „Mama hat einfach noch nicht erkannt, wer du wirklich bist.“
Ein schwacher, trauriger Humor lag in Rayas Lächeln: „Die Zeit macht alles nur noch komplizierter. Selbst Marina sieht mich kaum an.“
Petrs Gesicht verdüsterte sich. Die Familie, eine traditionsreiche Industriellenelite, wollte den Erben einfach nicht akzeptieren – besonders die Mutter mit ihrer lang gehegten Sehnsucht nach einer Schwiegertochter aus einer Bankendynastie.
„Sollen wir dieses Mal vielleicht aussetzen?“ Rayas Stimme trug einen Hauch von Hoffnung.
„Nein. Wir erscheinen und zeigen, dass wir stolz sein können,“ erwiderte Petr mit Entschlossenheit in der Stimme. „Du hast die Universität mit Auszeichnung abgeschlossen, baust gerade eine erfolgreiche Karriere auf. Doch am wichtigsten ist, dass du ein wundervoller Mensch bist. Und genau so liebe ich dich.“
Nur in seiner Nähe schmolz die Kälte der fremden Blicke.
Die Erinnerung schenkte den Moment ihres Kennenlernens zurück: Sie – Kellnerin in einem Café, er – zufälliger Besucher, verschütteter Kaffee und eine Geschichte, die immer noch märchenhaft wirkte.
Wieder klingelte das Telefon. „Ludmila Borisovna“ blinkte auf dem Display.
„Ja, Mama?“
„Sohn, erinnere deine Gattin an das Geschenk. Hoffentlich kennt sie wenigstens die Etikette,“ tönte ein herablassendes Lachen.
„Mama, hör auf!“, seine Stimme war vor Zorn bebend. „Das geht zu weit!“
„Ach, schweig. Wir erwarten euch am Samstag um sechs!“
Raya ließ sich auf das Sofa sinken. Der bevorstehende Besuch im Landhaus glich einem Gang zum Schafott. Aber sie würde durchhalten – für Petr und sich.
Ein heimlich vergossene Träne wischend, setzte sie ein Lächeln auf:
„Morgen schaue ich noch in diesem Laden auf der Newskij-Straße vorbei, wo deine Mutter Porzellan kauft. Ich suche etwas Besonderes aus.“
Petr bewunderte seine Frau zutiefst. Genau darum hatte er sie lieben gelernt: Ihre Fähigkeit, sich selbst treu zu bleiben und Wärme zu schenken, auch wenn andere sie mit Kälte begegneten.
Zentrale Erkenntnis: Wahre Stärke zeigt sich oft in dem Mut, Niederträchtigkeit mit Würde zu begegnen.
„Du bist unglaublich!“ flüsterte er und küsste ihr das Haar. „Niemand, nicht einmal meine Mutter, wird dir weh tun dürfen.“
Der Apfelgarten um Ludmila Borisovnas Anwesen glich einem prachtvollen Hochzeitskleid: weiß, luftig und voller betörender Düfte. Einen Moment lang verharrte Raya, bewunderte die Schönheit und drückte das Päckchen mit der Vase aus Limoges fest an sich.
„Endlich!“ Ein scharfer Ton der Schwiegermutter zerschnitt die zauberhafte Stimmung. „Petjka, mein Liebling!“
Ludmila Borisovna, gekleidet in ein seidenes bordeauxrotes Kleid, stürmte zu ihrem Sohn. Ihre Schwiegertochter schenkte sie nur einen flüchtigen Blick, als wäre diese lediglich ein Teil der Einrichtung.
Hinter ihr schwebte Marina wie ein Schatten, herausgeputzt für einen königlichen Empfang.
„Das ist für euch,“ sagte Raya und reichte die Vase, doch die Schwiegermutter winkte gelangweilt ab:
„Stell sie irgendwo hin. Petjka, du wirst es nicht glauben! Alle sind da: Vera mit ihrem Mann, Tante Zoya aus Petersburg…“
Der weitläufige Hof glich einem kleinen gesellschaftlichen Empfang. Rund fünfzehn Verwandte saßen an einem gedeckten Tisch wie Schauspieler vor einer prächtigen Kulisse: steife Tischdecken, Kristallgläser, Silberbesteck. Jedes Detail verkündete den Status der Gastgeberin.
- Vera, die einzige ehrliche Seele in diesem absurden Theater, umarmte Raya herzlich: „Raya, wie schön, dich zu sehen! Hast du ein neues Kleid?“
- Raya lächelte endlich.
- Eine boshafte Bemerkung von der Schwägerin: „Waisenhausmädchen shoppen jetzt auch in Boutiquen.“
Ihre Wangen glühten rot vor Verlegenheit. Vera wollte eingreifen, doch Ludmila Borisovna hatte bereits die Sitzordnung diktiert:
„Petjka, setz dich neben mich! Marina, auf die andere Seite. Und du…“ – ein abschätziger Blick zur Schwiegertochter – „such dir einen Platz irgendwo.“
Raya ergriff die blass gewordene Hand ihres Mannes: „Alles gut. Ich bleibe bei Vera. Kein Streit.“
Das Abendessen entwickelte sich zur großen Bühne der Schwiegermutter.
Sie sprang von Thema zu Thema: Europatournee, neue Firmenprojekte, Verlobung einer Nichte mit einem Ölbaron. Zwischen den Pausen säten ihre spitzen Bemerkungen gegen Raya Zwietracht, die Marina mit hämischem Lachen begleitete.
„Raya, gab es im Waisenhaus auch Festtage?“ – die Stimme der Schwiegermutter triefte vor falscher Anteilnahme. „Oder habt ihr sie irgendwie überlebt?“
Petrs Muskeln spannten sich deutlich an.
„Liebling, was für eine Frage ist das?“ – entgegnete sie theatralisch. „Ich interessiere mich doch nur für das Leben eines Familienmitglieds.“
Ein Würgegefühl beschlich Raya. Tränen drohten, und sie erhob sich mit zitternder Stimme:
„Entschuldigt, ich muss… kann ich mich ins Haus zurückziehen?“
„Natürlich, mein Schatz, entspann dich,“ ertönte ein kaum verstecktes Triumphieren in Ludmilas Ton. „Das Haus ist groß, du findest bestimmt einen Platz.“
Mit dem Rücken die neidischen Blicke spürend, eilte Raya ins Haus. Nur nicht weinen. Nur nicht zerbrechen.
Im stillen, leeren Haus fand Raya Ruhe. Sie ging die Treppe hinauf ins Gästezimmer, von dem aus der Garten besonders reizvoll wirkte. Automatisch machte sie ein paar Fotos mit dem Handy.
Unter ihr hallte die Feier mit Gelächter, klirrenden Gläsern und Gesprächsfetzen wider. Zwanzig Minuten in Einsamkeit linderte etwas den Schmerz.
„Zeit zurückzukehren,“ dachte Raya. Doch ein entsetzlicher Aufschrei drang vom Hof herein.
Dort tobte ein unfassbares Chaos. Ludmila Borisovna, vor Wut purpurn im Gesicht, stürmte zwischen den Gästen hin und her:
„Die Halskette! Meine Halskette! Fünf Millionen! Ein Geschenk meines Mannes! Wo ist sie?!”
Verwirrt sahen sich die Anwesenden an. Marina tröstete ihre Mutter demonstrativ.
Als sie Raya bemerkte, blieb Ludmila wie angewurzelt stehen. Hass funkelte in ihren Augen:
„Was für ein Luder du bist! Du hast meine fünf Millionen teure Brillanten-Halskette gestohlen!“
Die Zeit schien stillzustehen. Alle Blicke ruhten auf Raya.
„Was?“ – sie schwankte.
„Wer sonst?“ – mischte sich Marina ein. – „Nur du bist ins Haus gegangen!“
Leises Gemurmel erhob sich auf dem Hof. Einige drehten sich weg, andere schüttelten den Kopf. Vera wollte eingreifen, doch die Schwiegermutter stoppte sie mit einem Blick.
„Wagt es nicht!“ – Petr stellte sich schützend vor seine Frau. „Raya könnte das nicht.“
„Natürlich, so ein Waisenhaus-Mädchen!“ Die Stimme von Ludmila Borisovna überschlug sich. „Ich wusste, dass ich diese… nicht ins Haus lassen darf!“
„Halt die Klappe!“ – Petr stürmte auf seine Mutter zu. „Ich erlaube dir kein schlechtes Wort über meine Frau! Versprich es!“
„Warte!“, Raya hielt ihn an der Hand.
Die Ruhe, die jetzt folgte, überraschte alle Anwesenden.
„Ich habe eure Gemeinheiten, eure Demütigungen ertragen,“ sagte sie und sah zu den verstummten Gästen. „Aber mich des Diebstahls zu beschuldigen – das ist zu viel. Ich mische mich nicht gern in fremde Angelegenheiten ein. Keinesfalls hätte ich über das gesprochen, was ich zufällig vor zehn Minuten hörte. Doch wenn ihr mich so beschmutzt… dann lasst uns die Wahrheit klären.“
Sie zog ihr Handy hervor. Die Schwägerin wurde bleich wie Kreide.
„Und was willst du damit beweisen?“ – Ludmilas Stimme war bitter. „Du bist eine Diebin! Die Polizei wird sich darum kümmern!“
Ohne ein Wort zu erwidern, startete Raya die Wiedergabe. In der Stille durchbrach Marinas Stimme das Schweigen:
„Alles lief bestens, Liebling! Die Halskette ist versteckt. Natürlich wird jeder glauben, dass diese Arme sie gestohlen hat. Wer sollte sonst verdächtigt werden?“
Die Schwiegermutter wurde blass und griff nach dem Tisch. Marina sprang aufs Telefon los:
„Lüge! Sie hat die Aufnahme gefälscht! Sie will mich verleumden!“
„Bruder wird natürlich seine Prinzessin vom Waisenhaus verteidigen,“ fuhr die Stimme fort, „aber wen interessiert das schon? Die Halskette ist fünf Millionen wert, Mama liebt sie. Ein Skandal wie er im Buche steht! Morgen bringe ich dir das Schmuckstück, dann kannst du deine Schulden begleichen. Versprich nur, dass du nicht mehr spielst! Okay, Andrei?“
„Andrei?“ flüsterte Ludmila Borisovna. „Der Spieler und Verlierer? Du hättest dich längst von ihm trennen sollen…“
Marina fiel schluchzend auf den Stuhl.
„Mama, ich kann alles erklären! Es ist nicht so, wie du denkst!“
Petr trat mit Abscheu an seine Schwester heran:
„Was willst du erklären? Wie du meine Frau zerstören wolltest für deinen Lebemann? Oder wie du deine eigene Mutter für einen Betrüger bestohlen hast?“
Die Gäste machten sich eilig auf den Weg. Vera hielt Rayas Hand fest, Tante Zoya schüttelte den Kopf:
„Ach Ludmila… Du hast das Mädchen verleumdet, dabei ist sie reiner als wir alle! Schande über dich!“
„Wir gehen,“ Petr umarmte seine Frau und hielt sie fest, als wolle er sie vor allem Schlechten schützen. „Hier haben wir nichts mehr zu suchen, weder jetzt noch in Zukunft!“
„Petja!“ – die Schwiegermutter rief ihm noch nach.
„Mama, keine Seifenoper mehr. Das funktioniert nicht. Das ist zu weit gegangen. Es ist Zeit Schluss zu machen.“
Ludmila Borisovna senkte schweigend die Hände.
„Ein Rat? Kümmere dich um Marina. Meiner Meinung nach hast du große Probleme mit ihr. Und wir werden ohne euch leben.“
Auf dem mit Apfelblüten bedeckten Weg gingen die Eheleute zum Auto. Plötzlich blieb Raya stehen:
„Seltsam, aber ich empfinde Mitleid. Ich wünsche mir sehr, dass alles anders wäre. Dass sie mich eines Tages akzeptieren und wir eine echte Familie werden.“
„Mitleid? Ich nicht. Aber ich bin stolz auf dich,“ zog Petr sie an sich. „Du hättest zurückschlagen können. Aber du hast es nicht getan. Du hast einfach die Wahrheit gezeigt.“
Der Sohn und seine Frau fuhren fort. Auf der Veranda weinte Marina, während Ludmila Borisovna schweigend in die Ferne blickte. Vielleicht begriff sie zum ersten Mal, was sie verlor, als sie die Schwiegertochter verstieß, in der sich mehr Anstand zeigte als in ihrer eigenen Tochter.
Diese Geschichte demonstriert eindrucksvoll, wie tief Familienstreitigkeiten schmerzen können und wie wichtig aufrichtige Liebe, Standhaftigkeit und das Eintreten für die Wahrheit sind. Trotz aller Widrigkeiten gibt es Mut und Hoffnung auf Akzeptanz, wenn man sich selbst treu bleibt.