Schlaflosigkeit plagte mich. Im Dunkeln lag ich wach, starrte an die Decke und hörte die Stille meiner leeren Wohnung. Oleg war wieder nicht über Nacht geblieben. Sein Anruf am Abend klang vertraut und müde: Er steckte auf der Baustelle fest, die Subunternehmer hatten Papiere vermasselt, er müsse bis zum Morgen bleiben, um alles zu regeln. Ich glaubte ihm. Schon monatelang vertraute ich seinen Worten.
Langsam erhob ich mich und trat ans Fenster. Draußen fiel feiner Regen, die Laternen verschwammen im nassen Glas. Unser Hof wirkte verlassen – es war tiefste Nacht, alle schliefen. Eigentlich wollte ich die Gardine schließen und zurück ins Bett, doch da fiel mir ein Auto ins Auge. Ein dunkler Geländewagen, direkt unter meinem Fenster geparkt. Genau wie Olegs.
Mein Herz setzte einen Schlag aus.
Vorsichtig öffnete ich das gekippte Fenster und spähte hinaus. Die Nummern konnte ich im Dunkeln nicht erkennen, doch das Auto war eindeutig seins. Bedeutete das, er war hier? Warum stieg er dann nicht hoch zu mir?
Dann entdeckte ich sie. Oleg verließ den Eingang eines Nachbarhauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er war nicht allein. Neben ihm lief eine junge Frau, in einem kurzen Rock und einer leichten Jacke – trotz der Kälte. Sie lachte, hielt seine Hand fest. Am Auto angekommen, zog er sie eng an sich, legte den Arm um ihre Taille.
Gelähmt stand ich da. Ich beobachtete sie aus meinem Fenster, von meiner eigenen Wohnung aus, in der ich ihn doch die ganze Nacht erwartet hatte. Und er war nur wenige Meter entfernt, in der Nähe – mit seiner Geliebten.
Die Frau sprach etwas, zeigte mit dem Finger in Richtung unseres Fensters. Oleg folgte ihrem Blick nach oben, ich wich instinktiv in den Schatten zurück, war mir sicher, dass man mich im Dunkeln nicht sehen konnte. Er grinste und murmelte etwas. Nur ein Satz drang zu mir durch:
„Meine Frau ahnt nicht, wo ich die Nacht verbringe!“
Ein gemeinsames Lachen erfüllte die Nacht. Sie stieß ihn spielerisch gegen die Schulter, er küsste sie – ein langer Kuss, der mir körperlich zusetzte. Danach stiegen sie ins Auto und fuhren davon.
Am Fensterboden ließ ich mich nieder, die Hände zitterten. Ein Kloß verschloss meine Kehle. Ich wollte schreien, aber es kam nur ein heiseres Keuchen hervor. Wie lange ich so saß, wusste ich nicht. Erst beim Morgengrauen kehrte ich zurück in mich.
Ich stand auf, wusch mein Gesicht mit kaltem Wasser und betrachtete mich im Spiegel. Ein gewöhnliches Gesicht einer Frau um die Vierzig. Feine Fältchen um die Augen, die ersten grauen Haare. Nie war ich eine Schönheit gewesen, doch Oleg versicherte mir stets, dass ich ihm gefalle. Er liebte mich, so wie ich war. Außeres sei Nebensache – doch offenbar war es das doch nicht. Die junge Frau vor meinem Fenster sah vielleicht Mitte Zwanzig aus: lange Beine, schlanke Taille, straffe Haut.
Was bleibt, ist oft nur die Erkenntnis der eigenen Verletzlichkeit.
Ich kochte mir einen Kaffee. In der Küche saß ich mit dem warmen Becher in den Händen. Gedanken wirbelten unkontrolliert durch meinen Kopf, entschieden sich nicht und ließen keinen Fokus zu.
Am Morgen kehrte Oleg wie gewöhnlich zurück. Schlüssel im Schloss, Schritte im Flur. Frisch und munter betrat er die Küche. Seine Jeans und das Hemd waren sauber, als hätte er wirklich die Nacht auf der Arbeit verbracht.
„Hallo, Sonnenschein“, begrüßte er mich mit einem Kuss auf den Scheitel. „Gibt’s Kaffee?“
„Ja“, gab ich ihm eine Tasse. Die Hände zitterten kaum merklich. „Wie lief’s auf der Baustelle?“
„Ich bin völlig erschöpft“, antwortete er und streckte sich verschlafen. „Bis drei Uhr nachts haben wir die Papiere sortiert. Danach habe ich mich im Auto hingelegt, wollte nicht am Steuer einschlafen.“
„Im Auto? Ist das nicht unbequem?“
„Eigentlich nicht. Sitz zurückgeklappt, Jacke drüber. Ein bisschen Schlaf ist besser als nichts.“
Seine Lügen kamen mühelos und natürlich. Mit festem Blick erzählte er von der Baustelle, den Dokumenten und dem Schlaf im Auto. Dabei war sein Herz für eine andere Frau geschlagen – ganz nah nebenan in der Wohnung gegenüber.
„Warum gehst du denn nicht normal schlafen, wenn du so müde bist?“ fragte ich vorsichtig.
„Keine Zeit“, sagte er und trank den Kaffee aus. „In einer Stunde habe ich einen Termin. Ich dusche schnell und fahre los.“
Er verschwand im Badezimmer, während ich in der Küche saß. Sein Handy lag auf dem Tisch, vergessen. Früher hätte ich nie hineingeschaut, vertraute ihm blind. Kontrolle zerstört Vertrauen, glaubte ich. Doch jetzt griff meine Hand unwillkürlich danach.
Den Entsperrcode kannte ich, unser Hochzeitstag. Oleg hatte nie etwas verheimlicht, behauptet, zwischen uns dürfe es keine Geheimnisse geben. Das Telefon war geöffnet. Ich öffnete die Nachrichten.
Ganz oben stand der Name Kristina. Ein Chat vom Vorabend.
- „Wann kommst du? Ich vermisse dich.“
- „In einer halben Stunde. Hab gesagt, ich bleibe länger auf der Arbeit.“
- „Du bist ein Genie. Sie ahnt wirklich nichts?“
- „Kein bisschen. Sie lebt in ihrer kleinen Welt, kocht Eintöpfe und guckt Serien.“
- „Die Arme. Willst du ihr nicht die Wahrheit sagen?“
- „Wozu? Solange es so passt. Zuhause habe ich eine ruhige Ehefrau, zum Vergnügen dich.“
Die Unterhaltung wurde immer offener und vertraulicher. Sie planten heimliche Treffen, besprachen Wochenendpläne – Oleg reiste nicht zu Geschäftsreisen, sondern mietete mit ihr ein Hotelzimmer außerhalb der Stadt.
Der Wasserstrahl aus der Dusche lief noch, ich scrollte weiter und stellte Fotos fest. Gemeinsame Selfies, sie in Unterwäsche, Nachrichten voller Herzchen und Liebeserklärungen. Die Affäre zog sich offenbar über acht Monate hin.
Wichtige Erkenntnis: Acht Monate hatte er mich belogen und betrogen, und ich hatte blind an seine Ehrlichkeit geglaubt.
Der Duschstrahl verstummte. Schnell legte ich das Telefon zurück, kehrte zum Kaffee zurück. Als Oleg aus dem Bad kam, saß ich noch immer an der gleichen Stelle, mit maskiertem Gesichtsausdruck.
„Ich fahre jetzt“, sagte er und küsste mich erneut auf den Kopf. „Ich versuche heute Abend früh zurück zu sein.“
„Okay“, nickte ich, „ich koche etwas Leckeres.“
Er verließ die Wohnung, die Tür schlug zu. Ich blieb allein zurück, setzte mich auf das Sofa und umarmte mich selbst. Im Inneren brannte ein Schmerzfeuer: Enttäuschung, Wut, Trauer vermischten sich zu einem Knoten, der das Atmen erschwerte.
Was tun? Einen Streit entfachen? Die Sachen packen und gehen? Vergeben und so tun, als wüsste ich nichts?
Den ganzen Tag verbrachte ich wie in Trance. Mechanisch räumte ich auf, bereitete das Abendessen vor, wusch ab. Die Gedanken drehten sich, doch keine Entscheidung formte sich.
Am Abend rief meine Freundin Lena an. Ihr Tonfall verriet Sorge, als sie meine Stimme hörte.
„Was ist los? Du klingst, als wärst du krank.“
Ich wollte lügen, sagen, es sei nichts, nur eine Erkältung. Doch die Stimme versagte, und ich erzählte alles: Von der Nacht am Fenster, dem Lachen, den Nachrichten. Lena hörte schweigend zu, stumm, nur gelegentlich mit einem leisen “ach”.
„Was für ein Mistkerl“, schnaufte sie, als ich endete. „Tanja, du musst ihn sofort rausschmeißen.“
„Wohin soll ich? Die Wohnung gehört uns beiden. Wir haben sie zusammen gekauft und bezahlen die Hypothek.“
„Dann geh selbst. Oder fordere die Scheidung und die Aufteilung.“
„Ich bin vierzig Jahre alt. Zwanzig Jahre mit ihm. Mein ganzes Leben dreht sich um ihn: Arbeit, Zuhause, alles. Wohin soll ich jetzt?“
„Zu mir“, wurde ihre Stimme fest. „Tanja, wach auf. Er schätzt dich nicht. Erniedrigt dich. Lacht mit seiner Geliebten direkt vor deinem Haus. Das ist der Tiefpunkt. Du verdienst Besseres.“
Ich schwieg, tief innerlich stimmte ich ihr zu. Aber die Angst war groß: Mit vierzig neu anfangen. Arbeit finden, Wohnung suchen, ein neues Leben beginnen – allein.
„Überleg es dir wenigstens“, sagte sie sanfter. „Triff keine übereilten Entscheidungen, aber ertrage das auch nicht. Du bist es nicht schuldig.“
Wir verabschiedeten uns. Ich legte auf und kehrte zurück zu meinen Gedanken. Lena hat Recht. Ich weiß es. Doch Wahrhaben und Tun sind zwei verschiedene Dinge.
Oleg kam spät nach Hause. Er berichtete von einem verlängerten Termin und Verhandlungen mit dem Kunden. Beim Abendessen erzählte er von der Arbeit, während ich lächelnd zuhörte und Tee nachschenkte. Die perfekte Ehefrau – für einen Mann, der mich für eine Torfrau hielt.
Nach dem Essen setzte er sich mit Bier vor den Fernseher. Ich räumte ab und plötzlich empfand ich eine Wut: Seine Angewohnheit, auf dem Sofa zu faulenzen, während ich in der Küche wirbelte; die Socken, die überall lagen; die Selbstverständlichkeit, dass ich immer da sein, kochen, waschen und aufräumen würde.
„Oleg, wir müssen reden“, begann ich und wischte mir die Hände am Handtuch ab.
„Hm?“, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden, antwortete er. „Sag.”
„Leg die Fernbedienung weg. Es ist wichtig.“
Er sah mich überrascht an, legte die Fernbedienung ab.
„Was ist los?“
„Ich weiß von Kristina.“
Sein Gesicht wurde blass. Er schwieg einige Sekunden, versuchte dann ein Lächeln.
„Welche Kristina?“
„Die, mit der du letzte Nacht warst. In der Wohnung gegenüber. Während ich hier auf dich gewartet habe.“
„Tanja, wovon redest du? Ich war auf der Baustelle…“
„Hör auf zu lügen“, wich ich zurück. „Ich habe euch gesehen. Wie ihr aus dem Haus kamt. Wie du sie umarmt hast. Wie ihr gelacht habt und in unsere Wohnung geschaut habt. Ich habe gehört, wie du sagtest, dass deine Frau nicht weiß, wo du schläfst.“
Oleg erstarrte. Er konnte nicht mehr leugnen, ran seine Gesicht, setzte sich wieder auf das Sofa.
„Tanja, entschuldige. Ich wollte nicht, dass du es so erfährst.“
„Wie hättest du es denn sagen wollen? Oder war es gar nicht geplant?“
Er schwieg, starrte zu Boden, ballte die Fäuste.
„Wie lange dauert das schon?“ fragte ich.
„Das spielt keine Rolle.“
„Acht Monate. Ich habe eure Nachrichten gelesen.“ Meine Stimme war erstaunlich ruhig. „Acht Monate hast du mich jeden Tag belogen.“
„Tanja, das bedeutet nichts“, hob er den Kopf. „Das ist nur Spielerei. Sie ist nichts für mich.“
„Ich scheine für dich praktisch zu sein — die stille Frau, die zuhause sitzt, Eintöpfe kocht und in ihrer kleinen Welt lebt. So hast du es ihr geschrieben.“
Oleg presste die Kiefer zusammen, wusste, dass ich alles gelesen hatte.
„Ich lag falsch. Entschuldige. Aber lass uns nicht zerstören, was wir haben. Wir sind so lange zusammen. Ich mache mit ihr Schluss. Versprochen.“
„Versprichst du das?“, lächelte ich bitter. „So wie du Treue schwört, als wir geheiratet haben? Deine Versprechen sind nichts wert, Oleg.“
„Tanja, gib mir eine Chance“, trat er näher, wollte meine Hände fassen, doch ich wich zurück. „Ich liebe dich. Wirklich. Manchmal passieren Fehler im Leben…“
„Fehler? Acht Monate sind kein Ausrutscher. Es ist eine bewusste Entscheidung. Du hast sie gewählt. Oder genauer gesagt, du hast dich entschieden, sie und mich gleichzeitig zu haben. Und das hat funktioniert, bis ich es herausfand.“
„Ich wähle dich“, packte er meine Schultern. „Hörst du? Ich wähle dich. Kristina war ein Fehler. Eine Dummheit. Ich werde sofort mit ihr Schluss machen.“
„Nein“, befreite ich mich. „Mach nicht Schluss. Leb mit ihr. Ich gehe.“
„Was?“
„Ich verlasse dieses Haus. Morgen packe ich meine Sachen und gehe. Die Wohnung kannst du behalten. Ich will nichts, was mit dir zu tun hat.“
„Tanja, rede nicht so“, versuchte er mich zu umarmen, doch ich stieß ihn weg. „Wohin willst du? Du hast doch niemanden außer mir.”
Sein Satz traf mich wie ein Schlag. Ich hatte außer ihm wirklich niemanden. Er denkt, ich sei nichts ohne ihn. Kein Ort, wohin ich gehen könnte.
„Ich gehe zu einer Freundin“, antwortete ich ruhig. „Dann werde ich sehen, wie es weitergeht. Aber hier bleibe ich nicht länger.“
Ich ging ins Schlafzimmer, holte den Koffer heraus. Oleg stand in der Tür und beobachtete, wie ich meine Sachen einpackte.
„Du wirst es bereuen“, sagte er plötzlich. „Draußen wartet niemand auf dich. Du bist an dieses Leben, dieses Haus gewöhnt. In einer Woche wirst du bettelnd zurückkommen.“
Ich richtete mich auf und sah ihn an – diesen Mann, mit dem ich zwanzig Jahre gelebt hatte, den ich für Familie, Halt, Liebe hielt. Doch er war nur ein Feigling, der lügt, betrügt und mich noch beschimpft.
„Weißt du was, Oleg? Vielleicht hast du recht. Es wird schwer. Aber ich werde wenigstens ehrlich leben. Ohne Lügen, ohne Erniedrigung. Das ist schon viel wert.“
Ich schloss den Koffer, nahm meine Dokumententasche und ging zum Ausgang. An der Tür drehte ich mich ein letztes Mal um.
„Leb wohl.“
Die Tür fiel leise ins Schloss. Ich stieg die Treppe hinunter und trat in den Hof. Der gleiche Hof, in dem er letzte Nacht mit seiner Geliebten stand und über mich lachte. Jetzt war er leer und still.
Ich ging zur Haltestelle, spürte, wie mit jedem Schritt eine Last von mir fiel. Angst? Ja. Schmerz? Unerträglich. Aber ich hatte eine Entscheidung getroffen. Ich bin gegangen. Und das war der erste ehrliche Schritt seit Monaten.
Lena empfing mich mit Umarmungen und Tee. Ohne Fragen richtete sie mir ein Gästezimmer ein. Nachts saß ich am Fenster, schaute in den fremden Hof und dachte darüber nach, wie es weitergeht. Doch jetzt wusste ich eins: Die Zukunft gehört mir. Nicht der Welt aus Lügen und Bequemlichkeit, sondern dem echten Leben. Vielleicht schwierig, vielleicht furchteinflößend, aber ehrlich. Und nur mein eigenes.
Diese Geschichte zeigt, wie schmerzhaft Verrat sein kann – und wie wichtig es ist, sich selbst treu zu bleiben, auch wenn es schwerfällt. Der Mut, die Wahrheit anzunehmen und Konsequenzen zu ziehen, ist der erste Schritt zu einem Neustart und zu mehr innerer Freiheit.