Familiäre Bindungen und Wohnungsnot: Ein bewegender Bericht aus dem Alltag

„Überlass doch deine Wohnung, wohin sollen denn sonst die Kinder mitkommen? Schließlich seid ihr Verwandte.“

Lena stand am Fenster und blickte hinaus auf den Innenhof, wo die vereinzelten Straßenlaternen das feuchte Bild der geparkten Autos nur schwach erhellten. Das gleichmäßige Trommeln des Oktoberrregens auf der Fensterbank verlieh ihr ein seltsames Gefühl der Geborgenheit inmitten der eintönigen Geräuschkulisse.

In Gedanken war sie bereits bei einem neuen Vorhang für ihr Schlafzimmer. Die verblassten, roséfarbenen Beigetöne, die von ihrer Mutter stammten, passten schon lange nicht mehr zu ihr. Die ganze Wohnung, etwa die Hälfte der Möbel, und sogar die Angewohnheit, jeden Abend an diesem Fenster innezuhalten, schienen ihr Erbstücke der Vergangenheit zu sein.

„Lenya, gibt es Abendessen?“ rief András aus der Küche.

„Ich komme“, antwortete sie, doch sie blieb noch einen Moment am Fenster stehen, sah dem Hausmeister in seiner orangenen Weste zu, der müde die Blätter zusammenkehrte, nur damit der Wind sie sofort wieder verstreute – eine vergebliche Mühe, so sinnlos wie vieles im Leben.

In der Küche breitete sich der Duft von gebratenen Kartoffeln und Dill aus. András schöpfte sich gerade seinen Anteil auf den Teller, konzentriert und mit einem leicht zusammengezogenen Blick, der seine braunen Augen freundlich wirken ließ.

Lena schätzte an ihrem Mann besonders seine ruhige und überlegte Art. Er ließ sich nie hetzen und stellte keine unerfüllbaren Ansprüche an das Leben. Sie liebte ihn auch dafür, dass er nie Anspruch auf die Wohnung erhob, die sie nach acht Ehejahren weiterhin als ihr eigenes Reich betrachtete – ihr Rückzugsort, den András respektierte.

„Morgen kommt meine Mutter vorbei“, erwähnte er beiläufig, als er sich gegenüber setzte. „Sie wollte noch etwas mit dir besprechen.“

Lena nickte, während sie eine Kartoffelscheibe auf ihre Gabel spießte. Tamara Ivanovna, ihre Schwiegermutter, tauchte nicht oft auf, doch wenn, dann steckte stets eine gewisse Schwere hinter ihren Besuchen – oft in Form von gutgemeinter Fürsorge verpackter Bitten oder mahnender Worte. Seit sie ihre Zweizimmerwohnung gegen eine Einzimmerwohnung getauscht hatte, um ihren Söhnen bei den Hochzeiten zu helfen, war sie scheinbar bescheidener geworden – zumindest schien es so.

„Okay“, murmelte Lena nur.

Beim Essen herrschte stille Routine, unterbrochen von gelegentlichen belanglosen Bemerkungen. Danach setzte sich András vor den Fernseher mit seinem Laptop, während Lena mit dem Abwasch begann. Der Wind ließ einen Ast der alten Pappel am Küchenfenster schlagen, und sie dachte daran, die Hausverwaltung anzurufen, damit der Ast abgeschnitten wird.

Früher hatte sich ihr Vater immer selbst darum gekümmert: Er kam mit der Säge, stellte sich auf einen Hocker, während die Mutter besorgt von unten zusah. Jetzt waren beide tot, und nur die Wohnung war geblieben – beständig und unverrückbar, dachte Lena, während sie die Teller abtrocknete.

Als sie abends von der Arbeit zurückkam, standen fremde Sportschuhe, Kinderstiefel und mehrere Paar festere Schuhe vor der Tür. Ihr Herz zog sich ohne ersichtlichen Grund zusammen – sie erkannte die bunte Schuhsammlung noch bevor sie den Schlüssel ins Schloss steckte.

Hinter der Eingangstür empfing sie Lärm. Tamara Ivanovna stand da, rundlich und entschlossen wie ein Panzer, in ihrem blauen Cardigan; daneben ihr Schwager Oleg mit blassem Gesicht und schuldbewusstem Blick; seine Frau Vika, eine aufwendig geschminkte Blondine, die nervös umhersaß; und zwei Kinder, ein etwa sechsjähriger Junge und eine jüngere Tochter, die ihr Gesicht in Vikas Rock vergraben hatte und weinte.

„Ach, da ist ja unsere Lenocska!“, rief Tamara Ivanovna laut, als wäre Lena ein unerwarteter Gast im eigenen Heim. „Komm rein, wir haben etwas Wichtiges zu besprechen.“

Lena warf András einen Blick zu, der so aussah, als wollte er am liebsten durchs Fenster fliehen. Langsam zog sie ihren Mantel aus, hängte ihn sorgfältig an die Garderobe und stellte ihre Tasche auf das Regal. Sie versuchte, Zeit zu gewinnen.

„Bitte, setzt euch ins Wohnzimmer“, sagte sie dann in sachlichem Ton.

Alle begaben sich in das Zimmer, in dem früher ihre Mutter den Weihnachtsbaum aufgestellt hatte und in dem der alte Vitrinenschrank des Vaters mit seinen Büchern und Bleikristallen stand. Oleg und Vika setzten sich auf das Sofa, die Kinder kauerten still daneben, während Tamara Ivanovna den Lehnstuhl wie einen Thron einnahm. Lena blieb stehen, lehnte sich an den Türrahmen.

„Siehst du, Lena, die Situation ist folgende“, begann die Schwiegermutter mit geübter Stimme. „Bei Oleg und seiner Familie gibt es große Schwierigkeiten. Der Vermieter verkauft die Wohnung und hat ihnen mitgeteilt, dass sie in zwei Wochen ausziehen müssen – ohne jegliche Vorwarnung. Sie haben nach einer neuen Unterkunft gesucht, aber du weißt ja, wie die Preise derzeit sind. Mit Kindern will niemand vermieten. Daher haben wir gedacht…“

Sie machte eine bedeutungsvolle Pause. Lena lauschte und spürte, wie ihr Inneres erstarb.

„…dass sie bei euch vorübergehend wohnen könnten, bis sie etwas Passendes finden.“

„Mama…“ begann András verzweifelt.

„Was heißt hier ‚Mama‘?“, entgegnete die Frau scharf. „Leugnest du etwa eure Verwandtschaft? Es geht um Kinder, Andruska! Kinder! Willst du, dass deine Neffen und Nichten auf der Straße landen?“

Lena sah zu Oleg, der mit gesenktem Blick saß – war es Scham oder schiere Bequemlichkeit des Schweigens? Vika schniefte still. Die Kinder wurden ganz still und spürten die Spannung im Raum.

„Tamara Ivanovna“, sagte Lena leise, aber bestimmt, „verstehe ich richtig, dass Sie vorschlagen, dass Oleg mit seiner Familie in unserer Wohnung unterkommen soll?“

„Natürlich, nur vorübergehend!“, winkte die Schwiegermutter ab. „Ein oder zwei Monate, bis sie etwas finden. Ihr seid jung, das wird für euch kein Problem sein, euch anzupassen.“

„Und wohin sollen wir dann?“ Die Stille drückte schwer wie ein Zementsack.

„Ihr könntet eine kleine Einzimmerwohnung mieten“, schlug Tamara Ivanovna so beiläufig vor, als ob sie einen Spaziergang vorschlagen würde. „Oder einen Kredit aufnehmen und in eine Neubauwohnung ziehen! Diese Wohnung ist alt und müsste ohnehin renoviert werden. Ihr hättet etwas Modernes.“

Lena spürte, wie das Blut an ihren Schläfen pochte. Sie sah zu ihrem Mann, der ihren Blick mied.

„Das ist die Wohnung meiner Eltern“, sagte sie leise, doch deutlich. „Sie haben sie mir hinterlassen. Hier habe ich mein Leben verbracht.“

„Und was dann?“, fuhr Tamara Ivanovna dazwischen. „Eine Wohnung ist eine Wohnung, und Verwandtschaft ist Familie. Willst du etwa sagen, dass dir die Wände mehr bedeuten als die Kinder?“

„Ich sage, dass dies mein Zuhause ist.“

„Oleg und Vika haben kein Zuhause!“, rief die Schwiegermutter mit metallischer Stimme. „Sie werden mit den Kindern auf der Straße stehen! Überlass deine Wohnung doch, wohin sollten sie auch sonst? Ihr seid doch Verwandschaft!“

Vika begann lauter zu schluchzen. Auch die kleine Tochter fing wieder an zu weinen. Die Szene wirkte wie inszeniert.

„Tamara Ivanovna“, richtete sich Lena auf, „warum nimmst du sie nicht zu dir?“

„Ich?“, sprang die Frau fast aus dem Lehnstuhl auf. „Ich habe nur eine Einzimmerwohnung! Wohin soll ich die denn stecken, vielleicht in den Schrank?“

„Aber auch in einer Einzimmerwohnung könnte man sich vorübergehend arrangieren.“

„Lena, soviel Platz habe ich nicht. Siebzehn Quadratmeter! Ich passe da kaum rein!“

„Aber ihr würdet uns einfach aus unserer eigenen Wohnung verdrängen.“

„Ihr habt eine Zweizimmerwohnung! Es seid nur ihr zwei! Die haben vier Personen!“

Lena holte tief Luft. Sie fühlte, wie ihr der Boden unter den Füßen zu entgleiten drohte. Sie sah zu Oleg.

„Oleg, hattet ihr irgendwelche Ersparnisse? Ein Notgroschen?“

Endlich hob er den Kopf. Sein Gesicht war entkräftet.

„Wir hatten etwas. Wenig. Aber es ist aufgebraucht. Vika war letztes Jahr krank, dann musste auch das Auto repariert werden…“

„Also habt ihr mit zwei Kindern in einer Mietwohnung gelebt und nichts für Notfälle zurückgelegt?“

„Lena“, intervenierte András, „hör auf.“

„Nein“, erwiderte sie entschlossen. „Darüber müssen wir reden. Ihr hättet wissen müssen, dass ihr die Wohnung jederzeit verlieren könnt. Der Vermieter darf verkaufen, das ist normal. Als Familienoberhaupt hätte Oleg das vorausplanen müssen.“

Vika richtete sich auf.

„Hälst du uns für dumm? Wir haben versucht! Aber das Geld reicht nie! Kinder brauchen Kleidung, Essen, Kita!“

„Gerade deswegen hättet ihr Rücklagen bilden sollen“, beharrte Lena. „Für solche Situationen.“

„Ach, das ist ja ein feiner Zug!“, schüttelte Tamara Ivanovna den Kopf. „Lena, ich hätte nie gedacht, dass du so gefühllos bist. Sitzt hier in der Wohnung, die du auf dem Silbertablett bekommen hast, und belehrst andere!“

„Auf einem Silbertablett?“, spürte Lena einen Kloß im Hals. „Meine Eltern haben ihr ganzes Leben hart gearbeitet, um diese Wohnung zu erhalten. Mein Vater starb mit 57 an einem Herzinfarkt – bei der Arbeit. Meine Mutter lebte danach noch drei Jahre allein hier und hat mir die Wohnung hinterlassen. Das ist kein Geschenk. Das ist ihr Leben.”

„Na und?“, ließ Tamara Ivanovna nicht locker, „gut, dass sie dir die Wohnung überlassen hat. Dann kannst du jetzt der Familie helfen. Ist es so schwer, für die Liebsten etwas Platz zu machen?“

„Wir werden nirgendwo weichen“, erklärte Lena bestimmt. „Das ist unser Zuhause.“

Ein schwerer Friede senkte sich über den Raum. Selbst die Kinder verstummten und spürten, dass sie an eine Sackgasse gelangt waren.

„András“, wandte sich die Schwiegermutter an ihren Sohn, „was sagst du dazu? Bist du in diesem Haus überhaupt noch ein Mann?“

András sah Lena an – die Traurigkeit in seinem Blick berührte sie fast, fast hätte sie Mitleid empfunden.

„Mama, das ist unsere Wohnung. Lena hat Recht.“

„Ich kann es nicht fassen!“, schnappte Tamara Ivanovna empört nach Luft. „Dein eigener Bruder bleibt auf der Straße, und du?“

„Niemand wird auf der Straße landen“, sagte Lena ruhig. „Sie können heute Nacht hier bleiben, wir richten im Wohnzimmer eine Schlafgelegenheit her. Morgen besprechen wir, wie wir weiterhelfen.“

„Helfen?“, hob die Schwiegermutter eine Augenbraue. „Du sagtest doch gerade noch, sie seien selbst schuld!“

„Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich meine, sie hätten wissen müssen, dass so etwas passieren kann. Aber das bedeutet nicht, dass wir sie im Stich lassen.“

„Was für eine Hilfe? Schöne Worte?“

„Geld“, antwortete Lena knapp. „Morgen reden wir über die Details.“

Oleg und Vika tauschten einen hoffnungsvollen Blick.

„In Ordnung“, brummte Tamara Ivanovna. „Dann bleibt heute Nacht hier. Andruska, hilf mit, die Sachen aus dem Auto zu holen.“

Lena drehte sich um und ging in die Küche. Ihre Hände zitterten. Sie füllte zwei Gläser Wasser, trank sie hintereinander aus. Hinter ihr waren Geräusche zu hören: Schritte, Flüstern, Dinge, die bewegt wurden. András und Oleg transportierten Taschen, Vika legte die Kinder schlafen, und Tamara Ivanovna gab Anweisungen.

Lena trat ans Fenster und starrte in die Dunkelheit. Der Regen verstärkte sich. Unten hupte ein Auto. Ein gewöhnlicher Abend in einer gewöhnlichen Straße. Doch für sie fühlte es sich an, als hätte sich die Welt auf den Kopf gestellt.

„Ein Zuhause ist nicht bloß ein Gebäude, es ist das, was du bereit bist zu verteidigen.“

Die Nacht war wie ein Alptraum. Die Kinder schliefen unruhig, wälzten sich und murmelten leise. Vika beruhigte sie, Oleg schnarchte. Lena lag wach im Schlafzimmer und starrte an die Decke. András lag neben ihr, war ebenfalls wach.

„Entschuldige…“ flüsterte er im Dunkeln.

„Warum?“

„Für das Ganze. Ich wusste nicht, dass Mama so etwas plant.“

„Du hättest unser Territorium beschützen müssen.“

„Ich habe es versucht. Hast du gehört?“

„Ja. Danke.“

Sie verstummten. Aus dem Wohnzimmer knarrte eine Diele, ein Kind begann zu weinen, dann wurde es ruhig.

„Und das mit dem Geld?“ fragte András.

„Das erzähle ich dir morgen.“

„Du kannst es mir auch jetzt schon sagen.“

Lena seufzte.

  • „Wir zahlen die erste und letzte Monatsmiete für eine Wohnung plus eine kleine Einrichtungshilfe. Aber es ist eine Einmalzahlung.“
  • „Oleg hat einen Job, Vika auch. Sie können wieder auf die Beine kommen, wenn sie wollen.“
  • „Wenn sie nicht wollen, ist das ihre Entscheidung, nicht unsere Verantwortung.“

András legte den Arm um sie, Lena lehnte sich an seine Schulter. Im Morgengrauen schliefen sie so ein.

Am nächsten Morgen fand Lena Tamara Ivanovna beim Tee vor. Sie wirkte frisch und kämpferisch.

„Guten Morgen“, sagte Lena.

„Guten Morgen“, nickte die Schwiegermutter. „Und? Hast du eine Entscheidung getroffen?“

Lena rief alle ins Wohnzimmer. Oleg und Vika sahen verschlafen und besorgt aus, die Kinder spielten mit ihren Handys.

„Ich habe darüber nachgedacht, wie wir helfen können. Wir sind bereit, zwei Monatsmieten im Voraus zu bezahlen – den ersten und den letzten Monat plus Kaution, wenn nötig. Das gibt euch Zeit, euch zu fangen, eine Wohnung zu finden und eure Finanzen in Ordnung zu bringen.“

Oleg atmete erleichtert aus.

„Ernsthaft? Lena, danke. Wirklich danke.“

„Aber es gibt eine Bedingung“, fuhr Lena fort. „Wir helfen nur einmal. Zwei Monate lang müsst ihr eine bessere Arbeit finden, den Haushalt ordnen, mit dem Sparen anfangen. Du bist der Familienoberhaupt, Oleg, und verantwortlich für Stabilität.“

Oleg nickte.

„Verstanden. Wir schaffen das.“

Auch Vika stimmte zu: „Wir werden sparsam sein.“

„Dann haben wir eine Einigung“, beendete Lena. „Heute fangt ihr an zu suchen. Wir helfen, wenn nötig.“

Eine stille, fast friedliche Atmosphäre legte sich über den Raum. Doch gerade als Lena dachte, alles sei geregelt, schlug Tamara Ivanovna die Tasse mit solcher Wucht auf den Tisch, dass alle zusammenzuckten.

„Heißt das, ihr gebt die Wohnung nicht her?“ fragte sie mit eisiger Stimme.

„Nein“, antwortete Lena ruhig.

„Und wenn die Mietwohnung nicht passt? Wenn sie nichts Anständiges finden?“

„Sie werden etwas finden. Zwei Monate sind genug.“

„Genug…“ höhnte die Schwiegermutter. „Und wenn nicht? Dann sind sie wieder auf der Straße?“

„Tamara Ivanovna, wir helfen so gut wir können.“

„Ihr helft?“, schrie die alte Frau auf. „Während ihr hier in eurer Zwei-Zimmer-Wohnung wohnt…“

„Nicht drei“, korrigierte Lena.

„Wurscht! Ihr sitzt hier wie Fürsten und schickt deinen Bruder, dein eigenes Blut, auf die Straße!“

„Wir werden niemanden rauswerfen“, sagte Lena mit ruhiger, doch stählerner Stimme. „Wir bieten konkrete, echte Hilfe an.“

„Hilfe…“, verzog Tamara Ivanovna das Gesicht. „Ihr wollt euch freikaufen, per Geld die Gewissensbisse loswerden, aber menschlich könnt ihr nicht handeln!“

„Mama, genug“, mischte sich Oleg ein. „Sie helfen uns wirklich.“

„Wenn’s dir passt“, warf die Schwiegermutter ihm entgegen. „Deine Mutter hat dich großgezogen, dich auf die Beine gestellt, ihre Wohnung verkauft, damit Geld für die Hochzeiten da ist! Und jetzt…“

„Genug!“, unterbrach Lena. „Du hast dich freiwillig entschieden, deine Wohnung zu verkaufen. Niemand hat dich gezwungen.“

„Für meine Söhne habe ich es getan!“

„Gut. Dann weißt du genau, was Familienopfer bedeuten.“

Tamara Ivanovna verstummte und spannte sich an, spürbar unangenehm. Lena ging einen Schritt näher heran.

„Wenn du dir um Oleg Sorgen machst, habe ich einen Vorschlag: Warum ziehst du für ein paar Monate zu einer Freundin? Lass deinen Sohn mit seiner Familie bei dir wohnen. Das wäre wirkliche Hilfe.“

Toter Stillstand im Raum. Alle blicken starrten auf die Schwiegermutter. Sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder, öffnete ihn erneut.

„Ich… ich? Meine Wohnung aufgeben? Meinst du das ernst?“

„Ganz ernst“, antwortete Lena mit verschränkten Armen. „Du redest so viel von Familie und Verwandtschaft. Hier ist eine echte Chance, deinen Sohn zu unterstützen.“

Die Schwiegermutter errötete und wurde blass, öffnete den Mund, fand aber keine Worte.

„Das ist nicht meine Pflicht… das ist etwas Anderes… etwas ganz Anderes.“

„Warum anders?“, neigte Lena den Kopf. „Du bittest uns, unser Zuhause für Oleg aufzugeben. Warum tust du das nicht?”

„Weil ich die Mutter bin! Ich habe alles getan! Sogar meine Wohnung verkauft!“

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„Und jetzt erwartest du, dass andere ebenfalls Opfer bringen? Verstanden.“

Die Schwiegermutter griff nach ihrer Tasche, die Hände zitterten.

„Ihr seid undankbar! Herzenslos! Egoistisch!“

„Vielleicht“, nickte Lena. „Aber diese Wohnung gehört uns.“

Die Schwiegermutter stürmte in den Flur hinaus und warf die Tür hinter sich zu, dass es im ganzen Haus widerhallte.

Vika schnaufte erleichtert, nicht mehr aus Verzweiflung. Die Kinder bewegten sich unruhig und spürten die gespannte Atmosphäre zerfallen. Oleg sackte auf das Sofa, vergrub das Gesicht in den Händen.

„Es tut mir leid“, murmelte er. „Für das ganze Theater.“

„Ach was“, klopfte András ihm auf die Schulter. „Wichtig ist, dass wir Klarheit haben.“

Lena trat ans Fenster. Der Regen hatte aufgehört, schwaches Sonnenlicht drang durch die Wolken und warf bunte Reflexe in die Pfützen. Der Hausmeister war verschwunden. Die Blätter lagen verteilt wieder auf dem Asphalt, doch das spielte keine Rolle mehr. Sie würden erneut zusammengefegt werden – so funktioniert das Leben.

Lena dachte an ihre Mutter, die an genau diesem Fenster im letzten Herbst ihres Lebens gestanden hatte und den Hof, die Bäume und den Regen betrachtet hatte. Außerdem fiel ihr ihr Vater ein, der stets sagte: „Ein Zuhause sind nicht die Wände, ein Zuhause ist das, was du beschützt.“

Sie hatte es beschützt.

András trat hinter sie, umarmte ihre Taille und legte das Kinn auf ihre Schulter. Gemeinsam standen sie am Fenster, eng umschlungen, und beobachteten, wie der Herbst die Blätter im Hof verstreute, wie die Stadt ihren gewöhnlichen Alltag lebte und wie in den gegenüberliegenden Fenstern Lichter aufleuchteten. Woanders fanden gerade Dramen und Streitigkeiten statt, Sieg oder Kompromisse. Jemand verteidigte seine Grenzen, jemand gab auf, jemand suchte eine Lösung.