Die ersten Sonnenstrahlen drangen vorsichtig in die kompakte Küche der kleinen Zweizimmerwohnung ein, die Tatjana vor drei Jahren mit einem Kredit erworben hatte. Der Frost des Winters schlich trotz gut funktionierender Heizkörper in die Wohnung, die dennoch eine angenehme Wärme ausstrahlte. Tatjana saß am Tisch mit einer Tasse Kaffee, Während sie die auf dem Tisch verteilten Rechnungen durchging. Ihr Ritual das Familienbudget an einem Samstagmorgen zu überprüfen, war zu einer tiefverwurzelten Gewohnheit geworden. Mit achtunddreißig Jahren und einer Berufserfahrung von fünfzehn Jahren als Buchhalterin nahm sie ihre finanziellen Angelegenheiten ernst und akribisch wahr.
Plötzlich vibrierte das Telefon auf dem Tisch. Es war erst acht Uhr morgens, doch der Name ihrer Schwester leuchtete bereits auf dem Bildschirm. Tatjana atmete tief ein, bereitigte sich mental vor. Vika rief nie einfach so an, besonders nicht zu dieser Uhrzeit.
— Hallo, Tan, — klang die Stimme der Schwester süßlich-kuschelig. — Ich habe dich nicht geweckt?
— Nein, ich bin schon lange auf, — antwortete Tatjana, während sie einen Schluck Kaffee nahm und auf die unausweichliche Fortsetzung wartete.
— Höre mal, ich habe ein Problem… In der Schule wurde gesagt, dass Katja Geld für einen Ausflug abgeben muss. Ich habe es vollkommen vergessen, und wir fahren schon morgen. Es sind viertausend… du verstehst, bis zum Gehalt sind es noch ein paar Tage.
Hier war es also. Die nächste Bitte. Tatjana warf einen Blick auf die ordentlich angeordneten Zahlen in ihrem Notizbuch. Ihr Monatsbudget war bis auf den letzten Cent durchgeplant: Hypothekenzahlungen, Nebenkosten, Lebensmittel, Transport. Eine kleine Summe war für den Sommerurlaub vorgesehen, den sie nach drei Jahren endlich einplanen wollte.
- Hypothekenzahlungen
- Nebenkosten
- Lebensmittel
- Transport
- Urlaubsersparnisse
— In Ordnung, ich überweise es, — antwortete Tatjana sachlich, während sie eine Notiz in ihr Block machte. — Wann kommt Katja zurück?
— Am Montagabend, — hörte man die Erleichterung in Vikas Stimme. — Danke, Tan! Du verstehst doch, dass ich es für das Kind tue. Ich möchte nicht, dass das Mädchen sich benachteiligt fühlt.
Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, öffnete Tatjana die Bank-App und überweis die benötigte Summe. Es war bereits die dritte „Hilfe“ in diesem Monat. Zuerst Medikamente für Katja, dann ein unvorhergesehener Waschmaschinenreparatur. Vika hatte immer ein Talent, ihre Bitten zu formulieren — „du bist die Älteste“, „du verstehst doch“, „nur dieses eine Mal“.
Tatjana erinnerte sich, wie alles begann. Vor fünf Jahren hatte Vika sich von ihrem Mann getrennt und war mit ihrer Tochter allein geblieben. Die ersten Bitten waren tatsächlich Notfälle gewesen — Lebensmittel, Medikamente, Kleidung für die wachsende Katja. Tatjana konnte nicht ablehnen, sah sie die Tränen ihrer Schwester und die traurigen Augen ihrer Nichte. Und sie wollte es auch nicht — sie verdiente gut, lebte allein und war bereit, ihren Verwandten zu helfen.
Eine Woche später, als Tatjana ihre Mutter besuchte, traf sie Vika dort mit einer neuen Tasche.
— Wie schön! — konnte Tatjana sich einen Kommentar nicht verkneifen.
— Wirklich? — Vika blühte auf. — Ich habe sie bei einem Sale in „Linia“ für nur sechstausend gekauft! Manchmal will ich mich auch einfach mal verwöhnen.
Ein unangenehmes Stechen durchfuhr Tatjana. Sechstausend für eine Tasche, während Vika noch vor einer Woche kaum das Geld für die Schulausfahrt hatte? Tatjana schwieg, um die Stimmung nicht zu verderben.
Die Tür öffnete sich, und ihre Mutter, Irina Pawlowna, eine energiegeladene Frau von dreiundsechzig Jahren mit sorgfältig frisierten grauen Haaren, trat ein.
— Tanichka ist da! — rief sie erfreut. — Ich habe gerade deine Lieblingskartoffeln gebacken.
Während des Teetrinkens lenkte das Gespräch unweigerlich auf die Finanzen.
— Vika hat mir erzählt, dass du ihr hilfst, — sagte Irina Pawlowna und legte eine Hand auf die Schulter ihrer älteren Tochter. — Gut gemacht. Du handelst familiengerecht. Du bist jetzt der Ernährer der Familie — verdienst gut, bist verantwortungsbewusst.
— Mama, Vika hat auch einen stabilen Job, — war Tatjana überrascht über diesen Vergleich.
— Aber sie hat ein Kind! — Irina Pawlowna schüttelte den Kopf. — Es ist für eine Frau schwieriger. Und welches Gehalt hat sie? Wie viel verdienst du, Vika?
— Fünfundzwanzig, — zuckte Vika mit den Schultern.
— Siehst du? Und wie viel hast du? Sechzigtausend, oder?
— Mama, ich bin Chefbuchhalterin, das ist eine verantwortungsvolle Position, — fühlte Tatjana sich unbehaglich, als ihre Gehaltsdiskussion ein vertrautes Thema wurde.
— Genau! — rief Irina Pawlowna triumphierend. — Also solltest du helfen. Familie ist Verantwortung.
Tatjana saß da und war fassungslos über die Direktheit ihrer Mutter. Wann wurde dies als selbstverständlich erachtet? Wann verwandelte sich die Hilfe in eine Verpflichtung?
Der Frühling brachte neue Forderungen mit sich. Vika rief an und bat um die Bezahlung eines Englischkurses für Katja — zwölftausend für ein halbes Jahr. Danach — ein neues Smartphone für sich selbst, „um mit der Arbeit in Kontakt zu bleiben“. Im Juni kamen zusätzliche Bitten von der Mutter — den Kühlschrank zu reparieren, das Küchenfenster zu wechseln.
Jedes Mal zog Tatjana ihre Geldbörse hervor oder öffnete die Bank-App. Jedes Mal fühlte sie die fordernden Blicke. Jedes Mal hörte sie das alles entscheidende „du verstehst doch”.
Als in der Firma die Kürzung der Prämien aufgrund finanzieller Probleme bekannt gegeben wurde, verspürte Tatjana zum ersten Mal echte Besorgnis. Ihr Einkommen war um ein Drittel gesenkt worden, während die festen Ausgaben gleich blieben. Sie musste streng wirtschaften, möglicherweise sogar auf den Urlaub verzichten.
Am Abend kam eine Nachricht von Vika: „Hallo! Ich brauche deine Hilfe. Katja möchte mit ihrer Klasse ins Ferienlager ans Meer fahren. Der Preis — fünfunddreißigtausend. Ich werde die Hälfte zusammenkratzen, aber den Rest… Du verstehst doch, wie wichtig das für das Kind ist.”
Tatjana starrte auf den Bildschirm. Siebenzehntausendfünfhundert — so viel hatte sie in den letzten Monaten für ihren eigenen Urlaub gespart.
— Wann warst du das letzte Mal im Urlaub? — fragte ihre Kollegin Swetlana, als sie die dunklen Ringe unter Tatjanas Augen bemerkte.
— Vor drei Jahren, — rubbelte Tatjana ihre Schläfen. — Ich bekomme es einfach nicht hin, wegzukommen.
— Ist es Arbeit oder Finanzen? — erkundigte sich Swetlana mitfühlend.
— Beides, — wich Tatjana aus. — Und die familiären Umstände…
— Ich verstehe, — nickte Swetlana. — Mein Bruder ist ähnlich. Kaum bekommt er sein Gehalt, ruft er an und fragt nach „einem Darlehen“. Aber ich habe schon lange eine Grenze gezogen. Liebe ist das eine, aber Geld ist harte Arbeit und Zeit. Niemand hat das Recht, über meine Ressourcen zu verfügen, ohne dass ich es will.
Die Worte ihrer Kollegin blieben in Tatjanas Kopf hängen. „Niemand hat das Recht“. Sie dachte an all die Momente zurück, in denen sie ohne nachzudenken ihre Geldbörse traf, in denen sie ihre eigenen Wünsche zurückgestellt hatte. In denen sie ihren eigenen Komfort opferte.
Vika hatte dreimal angerufen, aber Tatjana hatte nicht geantwortet. Am Abend kam eine neue Nachricht: „Was ist passiert? Warum gehst du nicht ans Telefon? Wirst du Katja helfen oder nicht? Sie hat allen erzählt, dass sie fährt.”
Tatjana atmete tief durch und gab als Antwort ein: „In diesem Monat geht es nicht.”
Das Telefon explodierte förmlich vor Nachrichten: „Meinst du das ernst?” „Was soll ich Katja sagen?” „Ich dachte, ich könnte mich auf dich verlassen.” „Du bist verwöhnt geworden. Früher warst du anders.”
Die letzte Nachricht traf sie wie ein Schlag. Kein Dank für all die vorherigen Male. Kein Zeichen von Verständnis. Nur Vorwürfe.
Irina Pawlowna rief am nächsten Morgen an.
— Tatjana, was denkst du dir? — die Stimme ihrer Mutter schwang vor Empörung. — Vika hat gestern den ganzen Abend geweint! Katjusha hat sich so auf das Ferienlager gefreut!
— Mama, meine Prämien wurden gekürzt, — antwortete Tatjana ruhig. — Ich kann jetzt nicht so helfen wie früher.
— Aber das ist doch für das Kind! — Irina Pawlowna hörte nicht zu. — Denkst du nicht, du könntest ein wenig warten? Du denkst nur an dich!
In Tatjana brach etwas zusammen. „Du denkst nur an dich“? Nach all den Jahren der ständigen Hilfe? Nach all den stillen Überweisungen?
— Mama, lass uns später sprechen, — schloss Tatjana das Gespräch, ohne auf eine Antwort zu warten.
Zwei Tage später fand der Geburtstag ihrer Tante Kлавdия Михайловна statt. Tatjana wollte nicht gehen, doch abzulehnen würde nur weiteres Gerede anheizen.
Das Wohnzimmer ihrer Tante war mit Verwandten gefüllt. Der Festtagstisch war reich gedeckt. Tatjana setzte sich in eine entfernte Ecke, um der Aufmerksamkeit zu entgehen. Doch als es an der Zeit war, Geschenke auszutauschen, richteten sich alle Blicke auf sie.
— Wo ist dein Geschenk, Tanya? — fragte Клавдия Михайловна. — Normalerweise schenkst du so schöne Dinge!
Tatjana zog eine kleine Schachtel mit silbernen Ohrringen hervor. Ein bescheidenes, aber schönes Geschenk.
— Nur das? — zog die Tante enttäuscht in die Höhe. — Beim letzten Mal hast du mir ein Tee-Service geschenkt.
Eine unangenehme Stille breitete sich im Raum aus. Vika saß gegenüber und sah demonstrativ nicht zu ihrer Schwester. Als die Zeit zum Teetrinken kam, schlug Irina Pawlowna vor:
— Tanya, geh doch schnell ins Geschäft und hol ein Törtchen. Uns fehlt es an Dessert.
Alle Blicke richteten sich auf Tatjana und erwarteten die übliche Zustimmung. Sie erwarteten, dass sie wie immer ihre Geldbörse zücken würde.
Tatjana erhaschte den Blick ihrer Nichte. Katja sah sie mit einem seltsamen Ausdruck an — eine Mischung aus Erwartung und… Hoffnung? Nein, Berechnung. Das Mädchen wusste bereits, dass ihre Tante niemals ablehnte.
Die Stille zog sich hin. Alle warteten.
— Ich gehe nicht, — sagte Tatjana ruhig und nahm einen Schluck Tee. — Wenn jemand ein Törtchen will, können wir uns zusammenlegen.
Die Verwandten sahen sich an. Mit dieser Wendung hatte niemand gerechnet. Vika schnaufte, als hätte ihre Schwester etwas Unanständiges gesagt. Клавдия Михайловна blinzelte verwirrt und wusste nicht, wie sie reagieren sollte.
— Na gut, — presste Irina Pawlowna die Lippen zusammen. — Dann kommen wir ohne Torte aus.
Der Abend zog sich in einer seltsamen, angespannten Atmosphäre dahin. Tatjana ging früh, unter dem Vorwand eines Kopfschmerzes. In der Tat hatte ihr Kopf wirklich geschmerzt, aber nicht von physischer Krankheit, sondern von schweren Gedanken. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Tatjana der Familie eine Absage erteilt, und dieses Gefühl war sowohl beängstigend als auch… befreiend.
Zwei Wochen später kam ein weiterer bedeutender Tag — der Geburtstag von Irina Pawlowna. In den letzten Jahren war dieses Fest für Tatjana zu einem ritualisierten Dienst geworden: ein im Voraus gebuchter Tisch im Restaurant, ein Geschenk (normalerweise etwas Haushaltsgeräte oder Schmuck), eine Torte und Champagner. All das lastete stillschweigend, aber unvermeidlich auf den Schultern der älteren Tochter.
Am Morgen wählte Tatjana die Nummer ihrer Mutter.
— Happy Birthday, Mama, — gratulierte Tatjana herzlich.
— Danke, meine Tochter, — die Stimme von Irina Pawlowna klang gedämpft. — Um wie viel Uhr kommst du? Alle kommen um vier.
— Ich werde um vier da sein, — bestätigte Tatjana und legte auf.
Zur festgelegten Zeit ging Tatjana in die zweite Etage des Plattenbaus, in dem ihre Mutter wohnte. Ihre Hände waren frei — nur eine kleine Umhängetasche und ein bescheidener Strauß Chrysanthemen. Keine Tüten mit Lebensmitteln, keine schweren Kisten mit Geschenken.
Die Tür wurde von Vika geöffnet, die ihre Schwester mit barely verborgenem Erstaunen musterte.
— Wo ist alles? — kam es unwillkürlich von der jüngeren Schwester.
— Was — alles? — fragte Tatjana ungerührt und hielt den Blumenstrauß hin.
— Nun… Lebensmittel, Torte… — Vika stockte, als ob sie sich nicht traute, das, was ihr auf der Zunge lag, laut auszusprechen.
— Ich habe Blumen mitgebracht, — sagte Tatjana und trat in die Wohnung ein, während sie sich in der Diele die Schuhe auszog.
Im Wohnzimmer saßen schon andere Familienmitglieder. Onkel Kostya — Bruder von Irina Pawlowna, ein kräftiger Mann mit einer schütteren Glatze — saß im Sessel am Fenster. Ehemann Viktor war nervös am Balkon, während er nervös an seinem Hemd zog. Katja, Vikis dreizehnjährige Tochter, war vertieft in ihr Handy. Irina Pawlowna wuselnd in der Küche.
Der Tisch sah ungewohnt bescheiden aus: Olivier-Salat, Wurstaufschnitt, Brot, und einige eingelegte Gurken auf einem Teller. Kein festlicher Kuchen, kein französisches Hühnchen, welches Tatjana normalerweise im Restaurant bestellte, und nicht einmal eine Flasche Champagner.
— Tatjana ist gekommen! — kündigte Vika an, während sie der Schwester folgte.
— Bist du allein? — schaute Irina Pawlowna aus der Küche und musterte ihre Tochter von Kopf bis Fuß.
— Ja, und wen hast du erwartet? — Tatjana küsste ihre Mutter auf die Wange. — Alles Gute zum Geburtstag, Mama. Chrysanthemen, deine Lieblingsblumen.
— Danke, — Irina Pawlowna nahm den Strauß, aber in ihren Augen spiegelte sich Enttäuschung. — A… Gibt es… nichts anderes?
Tatjana tat, als hätte sie den Hinweis nicht verstanden.
— Setzt euch an den Tisch, alles ist fertig, — seufzte Irina Pawlowna und stellte die Blumen in eine Vase.
Alle setzten sich um den Tisch. Vika öffnete ihre Tasche und begann, das Geld zu zählen, während sie leise etwas ihrem Mann erzählte. Viktor zuckte mit den Schultern, als würde er sagen: „Was kann ich tun?“
— Ich hätte nicht gedacht, dass wir selbst bestellen müssen, — seufzte Irina Pawlowna theatralisch und portionierte den Salat auf die Teller. — Normalerweise hat Tanya alles organisiert.
Tatjana strich Butter auf ihr Brot und nahm einen Bissen, ohne auf den klaren Hinweis zu reagieren.
— Vielleicht sollten wir eine Pizza bestellen? — schlug Vika vor und warf Tatjana einen Blick zu. — Tan, was hältst du davon?
— Gute Idee, — nickte Tatjana. — Wer bestellt?
— Nun… normalerweise bestellst du, — Vika schob das Telefon in die Richtung ihrer Schwester.
— Lass es diesmal dich machen, — lächelte Tatjana und trank einen Schluck Wasser.
Eine peinliche Stille fiel über den Raum. Alle Blicke waren auf Tatjana gerichtet, als ob sie darauf warteten, dass sie gleich aufsprang, sich entschuldigte und ihr Portemonnaie hervorholte. Doch Tatjana aß weiterhin ruhig ihren Salat und sprach belanglos über das Wetter.
— Sollen wir Geschenke austauschen? — fragte Katja, als die Pizza gegessen war.
— Natürlich, — Vika zog eine kleine Schachtel aus ihrer Tasche. — Hier, Mama, von mir, Katja und Viktor.
Drin war eine preiswerte Flasche Parfum. Irina Pawlowna bedankte sich, aber man sah, dass das Geschenk nicht ihren Erwartungen entsprach.
— Tanya, und was hast du mitgebracht? — fragte Katja neugierig ihre Tante.
— Blumen, — antwortete Tatjana schlicht. — Die Lieblingsblumen von Mama, Chrysanthemen.
— Und das war’s? — konnte Vika nicht widerstehen.
— Ja, — nickte Tatjana. — Wunderschöne Blumen für eine wunderbare Frau.
Der Raum fiel in eine bedrückende Stille. Tatjana trank ruhig ihren Tee aus und schaute auf die Uhr.
— Ich muss gehen, — sagte sie, während sie sich vom Tisch erhob. — Ich muss morgen früh aufstehen. Nochmals alles Gute zum Geburtstag, Mama.
Als die Tür hinter Tatjana zufiel, trat völlige Stille ein. Irina Pawlowna starrte verwirrt auf die Chrysanthemen in der Vase. Vika trommelte nervös mit den Fingern auf dem Tisch. Viktor atmete heimlich erleichtert auf. Katja sah von ihrem Handy auf und blickte verwundert auf die Erwachsenen.
— Was ist mit Tante Tatjana passiert? — fragte das Mädchen. — Warum sind alle so seltsam?
— Tante Tanya hat sich verändert, — murmelte Vika. — Früher war sie ein ganz normaler Mensch, und jetzt … hat sie sich verwöhnt.
— Ich denke, sie hat einfach aufgehört, alle zu finanzieren, — mischte sich unverhofft Viktor ein. — Und hat das Richtige getan.
— Was?! — Vika wandte sich empört von ihrem Mann ab.
— Was? — zuckte Viktor mit den Schultern. — Wie lange kann man auf ihr reiten? Sie hat ihr eigenes Leben, ihre eigenen Ausgaben.
— Auf wessen Seite bist du überhaupt? — Vika erhob ihre Stimme.
— Auf der Seite des gesunden Menschenverstands, — Viktor sah seine Frau zum ersten Mal seit langem direkt an. — Wir sind alles Erwachsene. Es ist genug, dass wir darauf warten, dass jemand unsere Probleme löst.
Es war, als ob der Strom abgedreht worden wäre. Es trat eine solche Stille ein, dass das Ticken der alten Wanduhr zu hören war. Doch es lag nicht am Strom — es waren die unausgesprochenen Erwartungen, die unsichtbaren Fäden der Schuld und Pflicht, die sie jahrelang gebunden hatten, die nun zerfielen.
Tatjana ging durch die abendliche Stadt und atmete die kühle Frühlingsluft ein. Ein seltsames Gefühl der Freiheit erfüllte ihre Brust. Es war nicht so, dass sie ihre Familie nicht mehr liebte — nein, die Liebe blieb. Aber die Ketten der stillen Verpflichtungen, die unsichtbaren Drähte der Schuld und der Verpflichtung, die sie ein Leben lang gefesselt hatten, waren verschwunden.
„Lieben heißt nicht, für alles zu bezahlen“, dachte Tatjana, während sie den Kragen ihres Mantels gegen den kalten Wind hochschlug. Irgendwo tief in ihrer Seele keimte die Hoffnung, dass die Familie eines Tages verstehen würde, dass echte Beziehungen auf Gleichheit und gegenseitigem Respekt basieren und nicht auf finanzieller Abhängigkeit.
Und vorerst — wird sie ihr eigenes Leben leben. Zum ersten Mal seit vielen Jahren.