„Hier wischst du die Toiletten?“ sagte eine ehemalige Klassenkameradin mit einem spöttischen Ton. Fünf Minuten später stand sie vor mir bei meinem Vorstellungsgespräch und war blass geworden.
„Was, wirklich? Wischst du die Toiletten hier?“, meinte Victoria lässig, während sie an meinem Tisch stehen blieb. Ihre Stimme war laut und übertrieben, sie hallte durch das Büro und ließ sogar die Geräusche der tippenden Tastaturen für einen Moment verstummen.
In ihrem engen cremefarbenen Kleid, das ihren Körper perfekt umschmeichelte, mit makellosem Make-up und Haaren, als wären sie frisch aus einem hochglänzenden Modemagazin für das Leben der Reichen und Schönen entsprungen, stand sie vor mir. In ihren zierlichen Fingern baumelte eine hochwertige Ledertasche, während ihr Blick die gewohnte kühle Arroganz widerspiegelte. Währenddessen goss ich gerade Wasser in einen bescheidenen Ficus, gekleidet in einen schlichten beigen Blazer, und fühlte die neugierigen Blicke meiner Kollegen auf mir ruhen.
„Nein, Victoria,“ antwortete ich ruhig, während ich ihren spöttischen Blick erwiderte. „Und ich sehe, du hast immer noch nicht gelernt, vor dem Betreten eines Büroraums anzuklopfen. Das gilt in respektablen Gesellschaften als grundlegende Regel.“
Sie schniefte nur kurz, als wären meine Worte der unschuldige Stuss eines Kindes, und drehte sich dann mit Leichtigkeit auf ihren hohen Absätzen um, als würde sie mir die volle Missachtung zeigen. Ich hörte sie, als sie jemandem im Flur absichtlich laut zurief: „Na klar, eine ehemalige Schulbekannte und immer noch die gleichen langweiligen und simplen Manieren.“
Ich zuckte nicht einmal zusammen. Weder errötete ich, noch fühlte ich, wie das Blut in meine Wangen stieg. Auch meine Finger drückten sich nicht unwillkürlich zusammen. Ich wischte einfach langsam die Wassertropfen vom Ficusblatt ab und kehrte zu meiner Arbeit zurück, zu den Berichten, die auf meine Aufmerksamkeit warteten. Ich hatte schon lange aufgehört, Victoria oder irgendjemand anderem die Macht über meinen Selbstwert zuzuschreiben. Ich war mir vollkommen sicher, dass wir uns wiedersehen würden, aber das nächste Mal würde alles ganz anders verlaufen. Dabei würde Victoria nicht mehr die selbstsüchtige Person sein, deren Glück so zerbrechlich und unsicher war.
Unsere Wege kreuzten sich vor vielen Jahren in der gewöhnlichen Schule. Victoria war die unbestrittene Königin des Schulhofs: strahlend schön, dreist und unglaublich selbstbewusst in ihrem Recht zu herrschen. Ich hingegen war nur ein stilles, fleißiges Mädchen, dessen kluger Blick hinter dicken Brillengläsern verborgen war und das schlichte Zöpfe trug. Offen herabzusetzen war niemals ihr Stil, das wäre ihr viel zu trivial gewesen. Aber jeder ihrer flüchtigen Blicke und jedes kaum merkbare herablassende Lächeln, das sie in meine Richtung warf, schien zu sagen: „Du bist nichts wert, und deine Welt ist so klein und uninteressant wie du selbst.“ Nach dem Abschluss trennten sich unsere Lebenswege drastisch. Ich begann ein Studium an der Wirtschaftsfakultät, zog in die Hauptstadt, wo ich mich ganz dem Lernen widmete und schließlich, dank meines Fleißes und Scharfsinns, einen Job in einem großen internationalen Unternehmen fand. Die Jahre vergingen, und ich arbeitete mich Schritt für Schritt nach oben und wurde zunächst Projektleiterin und später auch Direktorin für strategische Entwicklung in einer großen Immobilienfirma. In meinem Leben war ein liebevoller Ehemann, ein wunderbarer Sohn, eine gemütliche Wohnung im Stadtzentrum und eine finanzielle Stabilität, von der viele nur träumen können, anwesend.
Victorias Schicksal, so erfuhr ich von gemeinsamen Bekannten, verlief anders, wenn auch eher dramatisch und verschlungen. Sie heiratete einen wohlhabenden Mann, doch diese Ehe endete schnell — ihr Mann erwischte sie mit einem Liebhaber. Es folgte eine Reihe von kurzen, aber intensiven Romanzen, die allmählich zu einer Ansammlung von Schulden und Peinlichkeiten führten, die in der Öffentlichkeit Schlagzeilen machten. Zuletzt sah ich ein Foto von ihr in sozialen Netzwerken: Sie posierte eindrucksvoll auf dem Deck einer luxuriösen Yacht in Gesellschaft eines wohlhabenden älteren Oligarchen, aber an ihrem Ringfinger prangte nicht mehr das besagte Ring.
Jahre später, nachdem ich sie das letzte Mal im Büro gesehen hatte, stand sie plötzlich wieder vor mir. Dieses Mal stand sie vor der Tür meines persönlichen Büros, und ich konnte ihr Spiegelbild hinter den halb geöffneten Jalousien am Fenster sehen. Mein Sekretär klopfte an die Tür und trat vorsichtig ein.
„Sofia Konstantinowna, Viktoria Semenova ist hier für ein Vorstellungsgespräch.“
Ich konnte mir ein leises Lachen nicht verkneifen, als ich den bitteren Hauch von Ironie in der Situation fühlte. „Natürlich, warum nicht? Das ist ja eine interessante Fügung des Schicksals.“
„Bitte, lass sie eintreten,“ nickte ich.
Viktoria trat mit dem gleichen siegreichen Lächeln ein, das ich von früher kannte, doch jetzt war in ihren Mundwinkeln eine offensichtliche Nervosität und Unsicherheit zu erkennen. Sie ließ sich graziös in den Sessel gegenüber meinem Tisch sinken, legte ihren Lebenslauf vor mir ab und schlug gewohnt die Beine übereinander.
„Was für ein unerwartetes Treffen“, bemerkte sie und bemühte sich, dass ihre Stimme entspannt klang. „Ich hätte gar nicht gedacht, dass du hier arbeitest, geschweige denn in einem so tollen Büro.“
„Und ich hätte nicht gedacht, dass du überhaupt nach Arbeit suchst,“ erwiderte ich, ohne einen Blick auf die ausgebreiteten Papiere zu werfen. „Vor allem in Anbetracht deiner langjährigen und unveränderten Vorliebe für Luxus und das sorglose Leben.“
Sie wurde spürbar blass, und ihre Finger umklammerten leicht den Henkel ihrer Tasche.
„Die Menschen verändern sich, Sofia. Ich bin jetzt sehr ernsthaft und verantwortungsbewusst eingestellt. Ich möchte mein Leben neu beginnen und die Fehler der Vergangenheit hinter mir lassen.“
„Neu anfangen?“ hob ich meine Augen schließlich, das Gefühl, wie sich ein kühler, fester Blick in meinem Blick festigte. „Du hast dich nicht einmal bemüht herauszufinden, dass es in unserer Firma derzeit keine offenen Stellen für sog. PR-Assistenten gibt, die in ihren Lebensläufen mutig schwammige Formulierungen wie ‚Konflikte lösen können‘ und ‚Arbeiten mit VIP-Kunden‘ angeben. Das klingt ziemlich abstrakt.“
Sie zuckte nervös mit den Schultern, während sie versuchte, die Maske des Desinteresses aufrechtzuerhalten.
„Das ist nur eine Metapher, ein bildlicher Ausdruck. Ich kann tatsächlich gut mit verschiedenen Menschen umgehen. Besonders mit denen, die wichtige Entscheidungen treffen und hohe Positionen bekleiden.“
„Besonders wenn diese Entscheidungen direkt ihre Geldbeutel betreffen,“ stellte ich kalt fest.
Sie verstummte, und in ihren Augen, die normalerweise so selbstbewusst waren, blitzte etwas Neues auf — keine mir bekannte Wut, sondern eher tiefe Verwirrung und sogar Angst. Anscheinend erwartete sie, ich würde mich unwohl fühlen, erröten, vielleicht sogar versuchen mich für unsere gemeinsame Vergangenheit zu rechtfertigen. Aber ich hatte nicht vor, nach ihren alten, abgedroschenen Regeln zu spielen.
„Hör zu,“ sagte sie jetzt viel leiser, und in ihrer Stimme klang zum ersten Mal ein Hauch von Aufrichtigkeit. „Ich verstehe voll und ganz, dass wir in der Schule… nicht immer gut miteinander auskamen. Aber das ist lange her. Ich will wirklich arbeiten. Ehrlich und hart. Ich habe jetzt ein Kind. Ich brauche es sehr dringend…“
„Du hast ein Kind?“ fragte ich nach, wobei ich das letzte Wort besonders betonte. „Wie alt ist sie?“
„Das Mädchen ist schon drei Jahre alt,“ antwortete sie und senkte ihren Blick zum Boden. „Sie heißt Arisha.“
Ich nickte einfach, und in meinem Kopf schoss sofort der Gedanke vorbei: „Ich frage mich, wer der Vater ist?“
„Gut,“ sagte ich nach einer kurzen Pause. „Angenommen, ich bin bereit, deine Bewerbung zu prüfen. Aber in unserem Unternehmen gibt es eine strikte Regel: Alle Bewerber müssen einen speziellen Test auf Ehrlichkeit und Anstand bestehen. Das ist unsere interne Politik, die wir nach einem unangenehmen Vorfall mit Unterschlagung eingeführt haben.“
Sie runzelte ihre perfekt gezupften Augenbrauen.
„Welcher Test? Wovon sprichst du?“
„Es ist ganz einfach. Wir stellen nur drei Schlüssel Fragen. Alle Antworten werden aufgezeichnet und anschließend sorgfältig mit unserer umfangreichen Datenbank abgeglichen und auf Vollständigkeit überprüft. Wenn nur eine deiner Antworten nachweislich falsch ist, wird die Bewerbung umgehend ohne Erklärung abgelehnt. Und noch wichtiger, diese Informationen werden sofort an unser gesamtes Netzwerk von Personalvermittlungen weitergeleitet. Mit anderen Worten… du kannst sofort jede Möglichkeit vergessen, einen Job in einer respektablen Firma in dieser Stadt zu bekommen.“
Sie wurde noch blasser, und ihre Lippen zitterten.
„Ist das… überhaupt legal? So eine Methode?“
„Absolut legal und transparent. Du hast schließlich selbst dem Umgang mit Daten beim Betreten des Gebäudes, beim Sicherheitsdienst, zugestimmt. Hast du das gesehen?“
Sie nickte zögernd, begreifend, dass sie in eine Falle geraten war.
„In diesem Fall lass uns anfangen,“ sagte ich, griff nach meinem Tablet und aktivierte die Aufzeichnungsfunktion. „Die erste Frage: Wo genau hast du in den letzten zwei Jahren gearbeitet?“
„In der bekannten PR-Agentur LuxMedia,“ platzte sie hastig heraus. „Ich war dort für die strategische Förderung von Premium-Marken zuständig.“
„Falsch,“ kam meine kühle Antwort. „Die Agentur LuxMedia wurde vor anderthalb Jahren wegen Insolvenz geschlossen. Du hast dort nur zwei Monate gearbeitet, wurdest jedoch wegen systematischer Unterschlagung von Geldern aus dem Veranstaltungsbudget entlassen. Hast du etwa vergessen, wie du versuchtest, mehrere Flaschen teuren Champagners und ein luxuriöses Abendessen für dich und… wie hieß er? Deinen damaligen Begleiter Artem, auf ‚unvorhergesehene Ausgaben‘ abzurechnen?“
Sie sprang plötzlich auf, und ihr Gesicht verzog sich in einer Grimasse der Wut.
„Hast du mich etwa beobachtet? Hast du mir nachgestellt?“
„Nein, Victoria. Ich mache einfach nur meine Arbeit gründlich und aufmerksam. So wie du… einst ‚deine‘ Arbeit machtest, indem du mir fremde teure Lippenstifte in meine Schultasche legtest und voller Genuss der Klassenlehrerin erzähltest, ich hätte sie gestohlen.“
Sie erstarrte, als wäre sie vom Donner getroffen worden.
„Das war in der achten Klasse! Das ist so lange her!“
„Und leider verhältst du dich immer noch so, als hättest du in der achten Klasse festgesteckt. Nur sind es jetzt statt Spielzeuge Geld anderer Leute, die Seelen anderer, fremde Ehen und Schicksale.“
Sie sank langsam, als wäre es ein schwerer Kampf, wieder in den Stuhl, den Kopf kraftlos auf die Brust fallen lassend. Ihre Schultern zitterten merklich.
„Ich brauche einfach… dringend einen Job. Ich stehe bis über die Ohren in Schulden. Ich habe niemanden, der mir helfen könnte…“
„Das sind leider nicht meine Probleme,“ sagte ich ziemlich sanft, aber mit unerschütterlicher Festigkeit. „Aber ich will dir dennoch eine einzige letzte Chance geben.“
Hoffnungsvoll blickte sie mich mit ihren tränenden Augen an.
„Wirklich? Machst du keine Witze?“
„Ja. Aber nicht hier. Nicht in dieser Firma und nicht in diesem Gebäude. Ich habe eine andere, passendere Idee für dich.“
Genau eine Woche später kam ich in ein bescheidenes Frauenheim für Frauen in schwierigen Lebenssituationen, das in einem der Vororte von Moskau lag. Victoria erwartete mich am Haupteingang. Ohne ihr gewohntes Make-up, in einfachen Jeans und einer abgetragenen Jacke. Sie sah unglaublich müde aus, aber in ihren Augen war ein neuer, ruhiger und ernster Ausdruck zu entdecken.
„Bist du dir über diese Entscheidung absolut sicher?“ fragte sie, während sie mich direkt ansah.
„Ja, ich bin sicher,“ nickte ich. „Du wirst hier als Koordinatorin für die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt arbeiten. Deine Aufgabe wird es sein, Frauen zu unterstützen, die wie du in einer schwierigen Situation sind, Arbeit zu finden, ihre Lebensläufe zu erstellen und sich auf Vorstellungsgespräche vorzubereiten. Du warst immer gut darin, einen starken ersten Eindruck zu hinterlassen. Lass dieses Talent jetzt einen echten Nutzen bringen, anstatt nur kurzfristige Vorteile zu erreichen.“
Sie nickte schweigend und nahm jedes meiner Worte auf.
„Warum? Warum hast du beschlossen, mir nach allem, was passiert ist, zu helfen?“
„Weil ich aus eigener Erfahrung weiß, wie es ist, in die Enge gedrängt zu werden und sich vollkommen hilflos zu fühlen. Und auch, weil ich nicht möchte, dass deine kleine Tochter in der Zukunft jemals von jemandem so etwas Beleidigendes und Erniedrigendes wie: „Hier wischst du die Toiletten?“ hören muss.“
Tränen liefen ihr über die Wangen. Leise, ohne theatralisches Schluchzen oder Hysterie, sondern so, wie man weint, wenn man plötzlich Erleichterung empfindet.
„Danke dir, Sofia. Vielen Dank.“
„Keine Ursache. Versuche einfach, diese Frauen und vor allem dich selbst nicht im Stich zu lassen.“
Monate vergingen. Victoria arbeitete im Heim erstaunlich ehrlich und selbstlos. Sie half mehreren Schützlingen, gute Stellen zu finden, indem sie all ihre alten Verbindungen und ihren Charme einsetzte, aber dieses Mal in die richtige Richtung.
Eines Tages klopfte eine neue, junge Mitarbeiterin, die kürzlich auf Victorias Empfehlung zu uns gekommen war, an meine Tür. Das Mädchen brachte mir einen fertigen Bericht über ein neues Projekt, und ihre Bewegungen waren präzise und wohlüberlegt. Mein Blick fiel zufällig auf ihr feines Handgelenk, wo ein einfacher, aber sehr schöner Silberarmreif glänzte — eine exakte Kopie des Armbands, das meine eigene Mutter vor vielen Jahren trug und das ich unter tausenden hätte wiedererkennen können.
„Entschuldige die Neugier, wo hast du dieses wunderschöne Armband her?“ fragte ich höflich, fühlend, wie ein merkwürdiges Aufgeregtheit in mir aufstieg.
„Es wurde nicht gekauft, Sofia Konstantinowna,“ lächelte das Mädchen. „Es ist eine Familienerinnerung. Das hat meine Oma vor vielen Jahren meiner Mama geschenkt, und Mama hat es mir kürzlich zu meinem Geburtstag geschenkt.“
Mein Herz machte einen Satz.
„Und wie hieß deine Großmutter, wenn ich fragen darf?“
„Anna Petrowna“, klang die einfache, so vertraute Antwort.
Mein Herz begann wild zu klopfen. Anna Petrowna — der Name meiner leiblichen Mutter. Aber meiner Mutter, so viel ich wusste, hatte keine anderen Töchter außer mir. Oder… vielleicht wusste ich etwas nicht?
„Und deine Mama… woher stammt sie?“ fragte ich weiter, bemühend, ruhig zu bleiben.
„Sie ist aus Rostow. Aber sie wurde, wenn ich mich nicht irre, in einem kleinen Dorf bei Woronesch geboren. Leider wurde sie mit drei Jahren ins Waisenhaus gegeben. Ihre Eltern, meine Großeltern, starben damals bei einem schrecklichen Autounfall.“
Langsam erhob ich mich von meinem Stuhl und trat zu dem großen Fenster, hinter dessen Glas sich die große, facettenreiche Stadt erstreckte, in der ich mein ganzes Leben verbracht hatte. Doch in diesem Moment erschien sie mir fremd und unbekannt.
„Wie heißt du, Mädchen?“ fragte ich leise, fast flüsternd, während ich immer noch aus dem Fenster sah.
„Alina“, antwortete sie ebenfalls leise.
Ich atmete tief durch und drehte mich zu ihr um, bemüht, so natürlich wie möglich zu lächeln.
„Alina… Ich habe gerade ein wenig Zeit. Möchtest du mit mir eine Tasse heißen Tee trinken? Mit einem herrlichen Bergamottegeschmack?“
Sie lächelte warm zurück.
„Sehr gerne, Sofia Konstantinowna.“
Am Abend desselben Tages wählte ich die Nummer meiner Mutter, und meine Finger zitterten leicht.
„Mama, du… hast mir nie erzählt, dass ich eine Schwester haben könnte. Warum?“
In der Leitung entstand eine lange, drückende Stille, und ich hörte, wie meine Mutter sich Mühe gab, ihre Tränen zurückzuhalten.
„Du musst verstehen, mein Kind… sie kam zur Welt, nachdem mir etwas Schreckliches widerfahren war. Ich wurde verletzt. Ich kam spät von der Arbeit nach Hause, es waren mehrere. Sie haben mich lange gequält. Meine Psyche konnte damals einfach nicht standhalten, wurde erheblich verletzt. Und ich… ich wollte einfach nichts mehr hören oder sehen von dem Kind, das aus diesem Horror geboren wurde. Es war ein kleines Mädchen… Und dein Vater hatte keine andere Wahl, als sie in ein gutes Waisenhaus zu geben. Als ich dann langsam wieder auf die Beine kam und neu anfing zu leben, hatte sie bereits eine andere, aber liebevolle Familie adoptiert.
„Ich dachte, du würdest nie davon erfahren“, flüsterte sie durch leises Weinen. „Dein Vater und ich wollten dich nicht verletzen und nicht aufregen. Damals warst du so zerbrechlich, so empfindlich nach meiner Krankheit… Und dann — deine Schule, das Studium, die Prüfungen… Wir dachten, es wäre besser, wenn wir alles einfach vergessen.“
„Vergessen?“ fragte ich und mein Herz zog sich vor Schmerz zusammen. „Mama, wie kann man einfach ein eigenes Kind vergessen? Wie?“
„Wir haben sie nicht vergessen, Sofiushka. Wir haben sie keinen Tag vergessen. Wir haben sie heimlich besucht, Geschenke gebracht, solange sie ganz klein war und im Waisenhaus lebte. Dann… dann wurde sie adoptiert, und wir verloren jede Spur. Wir hatten kein Recht, in ihr neues Leben einzugreifen.“
Ich saß schweigend da, betrachtete das große Familienfoto an der Wand: Mama, Papa, ich in meinem Abschlusskleid. Und sonst niemand. Es schien immer so gewesen zu sein.
„Alina arbeitet jetzt in meiner Firma“, atmete ich schließlich aus. „Sie ist unglaublich klug, stark und sehr, sehr schön. Und weißt du, sie sieht dir erstaunlich ähnlich, Mama. Wie du in deiner Jugend.“
Meine Mutter weinte jetzt wirklich, und in ihrem Schluchzen vermischten sich Schmerz und Erleichterung.
„Bitte bring sie zu uns nach Hause, Julienka. Ich flehe dich an.“
Am nächsten Tag lud ich Alina zu einem ruhigen, gemütlichen Restaurant in der Nähe des Büros ein.
„Ich möchte dich mit einer erstaunlichen Frau bekannt machen“, begann ich vorsichtig. „Sie hat dich immer von ganzem Herzen geliebt. Nur wusste sie nicht, wie sie die richtigen Worte finden und dir alles erzählen sollte. Sie hatte Angst, deine Ruhe zu stören.“
Alina sah mich mit einem leichten Ausdruck von Verwirrung und Neugier an.
„Von wem sprichst du, Sofia?“
„Von deiner leiblichen Mutter.“
Und was ist mit Victoria? Sie arbeitet immer noch im selben Heim und findet darin ihre neue Berufung und den Sinn des Lebens. Manchmal trinken wir gemeinsam Kaffee und erinnern uns ohne Groll an die Vergangenheit. Sie lächelt nicht mehr mit diesem herabblickenden, kalten Lächeln. Jetzt sehe ich in ihren Augen aufrichtigem Respekt und stiller, heller Dankbarkeit.
Manchmal gibt uns das Leben, so unberechenbar und seltsam, eine zweite Chance — nicht um alte Fehler zu wiederholen, sondern um sie schließlich zu korrigieren, nachdem wir wichtige Lektionen gelernt haben. Das Wesentliche ist, diese Gabe nicht zu verlieren und nicht erneut alles zu verderben, denn neue Chancen könnten ausbleiben. Das leise Flüstern der Vergangenheit findet uns früher oder später in der Gegenwart, indem es die zerrissenen Fäden des Schicksals zu einem einzigen, starken Gewebe verbindet.