„Kein Kind, sondern eine wahre Strafe! Du wirst genauso wie deine Mutter und später einer unglücklichen Frau die Nerven rauben, so wie deine Mutter mir die meinen raubt!“ schimpfte Jelisaweta Wiktorowna auf Oksanas Tochter, Julia.
Das Mädchen saß am Tisch und starrte auf ihren Teller, auf dem nur eine dünne Schicht Kartoffelpüree verteilt war – kaum mehr als ein Löffel. War das etwa ein Mittagessen? Davon wurde man doch nicht satt! Dabei hatte Jelisaweta Wiktorowna auch Frikadellen gebraten. Julia hatte es mit eigenen Augen gesehen! Der köstliche Duft hing immer noch in der Luft.
Julia war bereits neun Jahre alt und konnte sehr gut zwischen Gut und Böse unterscheiden. Sie verstand genau, dass Jelisaweta Wiktorowna nicht nur negativ über sie sprach, sondern auch über ihre Mutter. Ihre Mama hatte sie gebeten, sich das Geschimpfe nicht zu Herzen zu nehmen, aber langsam ging Julia die Kraft aus, diese Feindseligkeit zu ertragen. Kinder sind ehrliche Wesen, sie können sich nicht verstellen oder so tun, als würden sie die Aggression nicht bemerken.
„Jelisaweta Wiktorowna, kann ich bitte eine Frikadelle haben? Oder etwas mehr Kartoffelpüree? Sie haben mir zu wenig gegeben, und ich werde davon nicht satt“, fragte das Mädchen vorsichtig.
„Zu wenig?! Hast du dich überhaupt mal im Spiegel angeschaut? Du bist dicker als ein Nilpferd! Das reicht dir! Du musst abnehmen!“
„Aber Mama hat gesagt, dass ich sagen soll, wenn ich noch Hunger habe. Ich habe wirklich nicht genug und hätte gern eine Frikadelle.“
„Eine Frikadelle willst du? Die bekommst du gleich! Steh vom Tisch auf und verschwinde in dein Zimmer! Wenn du Zeit zum Reden hast, dann bist du satt! Weißt du überhaupt, von wessen Geld dieses Essen gekauft wurde? Mein Sohn bezahlt das alles! Ich habe die Frikadellen für ihn gemacht, nicht für dich! Mein Sohn ist nicht verpflichtet, ein fremdes Kind zu ernähren!“
Sie packte Julia grob am Arm, zog sie vom Tisch und hätte ihr am liebsten noch einen Tritt gegeben, damit sie schneller verschwand. Vor Angst vor Jelisaweta Wiktorownas aggressiver Haltung rannte das Mädchen in ihr Zimmer, schloss die Tür hinter sich und kletterte auf ihr Bett. Sie wollte ihrer Mutter eine Nachricht schreiben, doch dann fiel ihr auf, dass ihr Handy noch auf dem Küchentisch lag. Zurückzugehen traute sie sich nicht – wer wusste schon, was der zornigen Frau noch in den Sinn kam? Ihre Wut schien grenzenlos. Solch böse Menschen hatte Julia noch nie erlebt. Ein Gefühl der Sehnsucht überkam sie – nach ihrer Großmutter Natalia, der Mutter ihres verstorbenen Vaters. Diese Frau war immer gut zu ihr gewesen, gab ihr mehr zu essen, als sie verlangte, und scherzte oft, dass Julias Wangen nicht dünner werden durften, sonst müsste sie doppelt so viel essen. Jelisaweta Wiktorowna war das komplette Gegenteil. Julia wollte keine Sekunde länger mit ihr zusammen sein. Sie wusste, dass es böse Menschen gibt, aber erst jetzt begriff sie, wie erschreckend sie sein konnten.
Den ganzen Tag blieb sie in ihrem Zimmer. Zum Glück musste sie nicht zur Toilette, denn sie hätte sich nicht hinausgetraut, um nicht erneut auf die wütende Jelisaweta Wiktorowna zu stoßen. Sie erinnerte sie an die strenge Haushälterin aus „Karlsson vom Dach“, nur dass dort die Frau am Ende doch nett war – hier war es unwahrscheinlich, dass „Oma Lisa“ jemals auftauen würde. „Oma“ hatte sie ohnehin verboten, sie so zu nennen, weil sie sich noch nicht alt genug dafür fühlte. Dabei war sie bereits ergraut und früher in Rente gegangen, weil sie mit Chemikalien gearbeitet hatte. Vielleicht hatten diese sie so hart und unbarmherzig gemacht?
Am Abend kam Oksana besorgt von der Arbeit nach Hause. Ihre Tochter hatte den ganzen Tag nicht auf ihre Nachrichten geantwortet. Doch bevor sie das Kinderzimmer erreichte, hielt Jelisaweta Wiktorowna sie auf.
„Ist mit Julia alles in Ordnung? Sie hat sich den ganzen Tag nicht gemeldet“, fragte Oksana nervös.
„Mit ihr ist alles bestens“, erwiderte die ältere Frau schnippisch. „Sie hat sich nur beschwert, dass ihr mein Kartoffelpüree nicht schmeckt, und sich dann in ihr Zimmer zurückgezogen. Du solltest strenger mit ihr sein – du hast sie verzogen, und jetzt müssen andere darunter leiden.“
Kurz darauf kam Dmitri von der Arbeit. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, begann seine Mutter sich lautstark zu beklagen, wie unerträglich Julia sei, wie schlecht erzogen und anstrengend. Sie seufzte schwer und setzte sogar eine Träne auf, um glaubwürdiger zu wirken.
„Komisch“, meinte Dmitri verwundert. „Julia war doch immer ein ruhiges Kind.“
Währenddessen klopfte Oksana an die Zimmertür ihrer Tochter. Julia öffnete und fiel ihrer Mutter sofort um den Hals. Ihr Magen knurrte schmerzhaft vor Hunger. Sie war erschöpft, ihr tat alles weh, weil sie den ganzen Tag nur auf dem Bett gesessen und an die Wand gestarrt hatte.
„Mein Schatz, warum hast du denn nichts gegessen?“ fragte Oksana, als sie sich gemeinsam aufs Bett setzte.
Da betrat Jelisaweta Wiktorowna das Zimmer, stemmte die Hände in die Hüften und schoss Julia einen bösen Blick zu – eine stumme Drohung. Sagst du etwas gegen mich, wirst du es bereuen.
Doch Julia wollte ihre Mutter nicht belügen. Sie wusste, dass man Angst nicht in sich hineinfressen durfte. Ihre Großmutter Natalia hatte immer gesagt: „Man muss über das sprechen, was einem Sorgen macht.“
„Ich habe nicht verweigert zu essen“, sagte Julia mit zittriger Stimme.
„Hör dir das an! Sie lügt und wird nicht einmal rot dabei!“
„Ich lüge nicht“, beharrte Julia. „Ich habe nur um eine Frikadelle gebeten.“
Dann erzählte sie ihrer Mutter genau, was passiert war.
„Schau sie dir an! Eine richtige Schauspielerin! Hast du nie gehört, dass man Lügnern früher die Zunge abgeschnitten hat?“ fauchte Jelisaweta Wiktorowna.
Julia hatte keine Angst mehr. Sie spürte, dass ihre Mutter ihr glaubte. Oksana schwieg noch, hörte sich aber beide Seiten an.
„Dann hätten Sie Ihre schon längst verloren. Und ich muss mich nicht schämen, weil ich die Wahrheit sage!“ erwiderte Julia entschlossen.
Jelisaweta Wiktorowna griff sich theatralisch ans Herz, jammerte laut und eilte zu ihrem Sohn, um noch mehr Mitleid zu erheischen.
Als Oksana sah, dass ihre Tochter sogar einen blauen Fleck am Handgelenk hatte, wusste sie, dass sie sie nicht mehr bei dieser Frau lassen konnte.
„Ich werde mit Dmitri sprechen. Morgen habe ich frei, also bin ich bei dir. Und bald kommt deine Oma Natalia. Freust du dich?“
Julia nickte. Sie hätte auch allein zu Hause bleiben können, aber da in letzter Zeit vermehrt Einbrüche stattfanden, machte sich Oksana Sorgen. Sie hatte darum gebeten, dass Julia den Sommer über bei ihrer früheren Schwiegermutter blieb, aber Dmitri bestand darauf, dass seine Mutter sich um sie kümmerte. Und das, obwohl sie gar keine Lust dazu hatte. Sie bekam sogar Geld dafür – ganz im Gegensatz zu Natalia, die sich aus Liebe kümmerte.
Spät abends kam Dmitri ins Schlafzimmer und sagte, dass Julia sich bei seiner Mutter entschuldigen müsse. Oksana war fassungslos. „Deine Mutter hat meiner Tochter blaue Flecken zugefügt, und du verlangst eine Entschuldigung?“
„Meine Mutter hatte fast einen Herzinfarkt!“
Oksana biss sich auf die Lippen. Sie wusste, dass Jelisaweta Wiktorowna nur vorgab, krank zu sein. Sie sah keinen Sinn mehr darin, mit Dmitri zu streiten. Es war Zeit zu gehen.
Am nächsten Morgen packte sie ihre Sachen. Julia fragte: „Mama, wohin gehen wir?“
„Zu Oma Natalia. Und dann sehen wir weiter. Ich will endlich ein eigenes Zuhause.“
Dmitri war empört, doch Oksana war entschlossen. Sie würde nie wieder zulassen, dass jemand ihre Tochter so behandelte.