„Was hast du gesagt?“ Anna erstarrte und spürte eine Kälte in ihrem Inneren. Sergey stand an der Tür und umklammerte fest ein Bündel Schlüssel. Sein normalerweise lebhaftes Gesicht war zu einer Maske der Gereiztheit erstarrt.
„Ich kann so nicht mehr leben“, wiederholte er mit emotionsloser Stimme. „Weder ich noch Mama. Pack die Kinder ein und zieh nach Lipovka. Großmutters Haus steht noch, das Dach ist dicht. Irgendwie wirst du schon überleben.“
Anna sah ihn an, als wäre er ein Fremder. Zehn Jahre zusammen, drei Kinder – und das war sein Urteil. Ein sterbendes Dorf, in dem nur noch wenige Häuser standen, ohne Geschäfte, ohne anständige Straßen.
„Warum…“ begann sie, doch er unterbrach sie.
„Weil ich es leid bin“, Sergey wandte den Blick ab. „Ständiges Nörgeln, endloses Jammern, du sitzt nur mit den Kindern zu Hause. Mama hat recht: Du bist zur brütenden Glucke geworden. Ich erkenne die Frau nicht wieder, die ich einmal geheiratet habe.“
Tränen stiegen ihr in die Kehle, aber Anna schluckte sie herunter. Die Kinder schliefen im Nebenzimmer – Masha und Alyosha, und der Älteste, Kirill, hatte wahrscheinlich alles gehört.
„Wovon soll ich leben? Wo soll ich arbeiten?“ Ihre Stimme war kaum hörbar. Sergey warf einen Umschlag auf den Tisch.
„Hier ist etwas Geld für den Anfang. Und die Hauspapiere – es gehört dir schon lange. Wenn du so unabhängig bist, dann beweise es jetzt.“
Er drehte sich um und verließ den Raum, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Eine Minute später knallte die Haustür.
Anna ließ sich langsam auf einen Stuhl sinken. Ein unsinniger Gedanke drehte sich in ihrem Kopf: Ich habe ihm heute Morgen seinen Lieblingsapfelkuchen gebacken.
Das Haus empfing sie mit muffiger Kälte. Anna trat mit der schlafenden Masha auf dem Arm ein und spürte, wie sich ihr Herz zusammenzog. Hier hatte sie ihre Kindheit verbracht – Sommerferien bei der Großmutter, der Duft von frischem Brot, Kräuter auf dem Dachboden, Äpfel im Keller. Jetzt waren es nur noch Staub, Spinnweben und der Geschmack von Verlassenheit.
Kirill, ernsthafter, als es seinem Alter entsprach, trat ein und riss die Fensterläden auf. Durch die schmutzigen Scheiben brachen Sonnenstrahlen des Aprils und ließen Staubpartikel in der Luft tanzen.
„Es ist kalt hier“, beklagte sich Alyosha und verschränkte die Arme um sich selbst.
„Wir heizen den Ofen ein, dann wird’s wärmer“, versuchte Anna, Zuversicht in ihre Stimme zu legen. „Kirill, hilfst du Mama?“ Der Junge nickte, ohne sie anzusehen. Seit er das letzte Gespräch seiner Eltern belauscht hatte, war er verstummt.
Zum Glück funktionierte der alte Ofen noch. Als die Flammen an den Birkenholzscheiten leckten und der Raum sich mit Wärme füllte, entspannte sich Anna ein wenig.
„Mama, bleiben wir lange hier?“ fragte Alyosha, während er die alten Fotos an der Wand betrachtete.
„Ich weiß es nicht, mein Schatz“, antwortete sie ehrlich. „Lass uns erst einmal ankommen, dann sehen wir weiter.“
Die erste Nacht verbrachten sie alle zusammen im breiten Bett der Großmutter. Die Kinder schliefen schnell ein, erschöpft von der Reise. Doch Anna lag wach und starrte an die Decke, während sie über ihr Schicksal nachdachte.
Am Morgen, nachdem sie sich vorsichtig aus den Armen ihrer schlafenden Kinder befreit hatte, ging sie hinaus in den Hof. Das Grundstück war von Unkraut überwuchert. Die Apfelbäume, die einst reiche Ernten brachten, standen verwachsen da, ihre Äste gebrochen. Die alte Scheune neigte sich bedrohlich zur Seite, und der Brunnen war mit Moos überzogen.
Anna ließ ihren Blick über ihr neues Reich schweifen – und lachte plötzlich. Bitter, verzweifelt. Das war ihr Erbe. Ihr Neuanfang.
Die ersten Tage im Dorf waren ein endloser Albtraum. Jeden Morgen erwachte sie in der Hoffnung, in ihrer Wohnung aufzuwachen, das Geräusch der Kaffeemaschine zu hören, Sergeys Stimme.
„Mama, wann kommt Papa uns holen?“ fragte Masha, die an die Sonntagsausflüge mit ihrem Vater gewöhnt war.
„Bald, mein Schatz“, sagte Anna und wusste nicht, wie sie erklären sollte, was sie selbst nicht verstand.
Das Telefon blieb stumm. Sergey ignorierte ihre Anrufe. Eines Tages kam eine knappe Nachricht: „Du hast alles, was du brauchst. Gib mir Zeit.“
Zeit. Worauf hoffte er? Dass ihm klar würde, wie schlecht es ohne seine Familie war? Oder im Gegenteil, dass er sie endgültig aus seinem Leben streichen konnte?
Am Ende der ersten Woche wurde klar, dass das Geld, das Sergey hinterlassen hatte, nicht lange reichen würde. Der Ofen musste repariert, das Dach ausgebessert, Essen gekauft werden. Aber die schlimmste Erkenntnis war: Es gab einfach keine Arbeit im Dorf.
„Vielleicht solltest du in die Stadt zurückgehen?“ schlug Polina Ivanovna vor, eine der wenigen verbliebenen Nachbarinnen.
Anna schüttelte den Kopf. „Ich habe nichts, wohin ich zurückkehren kann. Aber hier haben wir wenigstens ein Dach über dem Kopf.“
An diesem Tag beschloss sie, den Garten zu säubern. Das jahrelang vernachlässigte Land war mit Unkraut überwuchert, doch Anna erinnerte sich, wie großzügig Großmutters Beete einst gewesen waren.
„Kirill, hilfst du mir?“ wandte sie sich an ihren Ältesten. Der Junge nickte nur, immer noch schweigend und abweisend.
Gemeinsam arbeiteten sie, rissen Wurzeln aus und lockerten schwere Erdklumpen auf. Hände, die an leichte Hausarbeiten und eine Computertastatur gewöhnt waren, bekamen schnell Blasen. Am Abend schmerzte ihr Rücken, ihre Schultern fühlten sich steif an. Doch sie hatten nur ein kleines Stück Land geschafft.
„Mama“, sagte Kirill plötzlich und durchbrach damit sein tagelanges Schweigen. „Warum machen wir das?“
„Damit wir Gemüse anbauen können: Kartoffeln, Karotten, Tomaten …“, begann Anna zu erklären.
„Nein, ich meine was anderes“, unterbrach ihr Sohn. „Warum sind wir überhaupt hier? Warum gehen wir nicht nach Hause? Was ist zwischen dir und Papa passiert?“
Anna richtete sich auf und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Wie konnte sie einem Kind die Wahrheit erklären? Sollte sie zugeben, dass sein Vater sie verlassen hatte? Von den jahrelangen Vorwürfen von Sergeys Mutter erzählen, die sie nie für gut genug für ihren Sohn gehalten hatte? Oder eingestehen, dass es vielleicht eine andere Frau gab?
„Wir brauchen Zeit, um über alles nachzudenken“, sagte sie vorsichtig. „Manchmal müssen Erwachsene getrennt sein, um …“
„Um herauszufinden, ob sie sich noch lieben“, beendete Kirill ihren Satz. In seiner Stimme lag eine erwachsene Bitterkeit, die Annas Herz zusammenzog. „Es geht um diese Tante, oder? Die, die auf unserer Feier war?“
Anna erstarrte…