Anna holte ihre Schlüssel aus der Handtasche und öffnete leise die Tür, um Sergius nicht zu wecken. Der Flur war schwach beleuchtet, und der vertraute Duft von etwas Würzigem lag in der Luft – wahrscheinlich wärmte er gerade den bestellten Pilaw auf. Seine Schuhe lagen auf dem Boden, einer davon zur Seite gedreht, als hätte er sie hastig ausgezogen. Unbewusst schob sie sie an die Wand, zog ihren Mantel aus und hängte ihn an einen Haken. Werbung In der Küche bog sich die Spüle unter dem Gewicht des Geschirrs. Anna betrachtete den Stapel und seufzte schwer. Schließlich war heute seine Schicht. Aber sie wusste genau, dass sich die Situation morgen wiederholen würde, wenn sie still war. Das Wasser im Wasserkocher kochte, und sie verspürte wie immer das Bedürfnis, sich etwas Warmes zu machen. Aber nicht heute. Heute hatte sie keine Lust, in Routine zu versinken. Nicht nach dem, was sie gelernt hatte. Im Schlafzimmer schlief Sergius ausgestreckt auf dem Bett. Sein Handy lag neben ihm und pulsierte mit Benachrichtigungen. Ihre Mutter schrieb wahrscheinlich wieder: „Brot kaufen“ oder „Du hast heute nicht angerufen, ich mache mir Sorgen.“ Anna betrachtete sein ruhiges Gesicht und den schwachen Anflug eines Lächelns, das in seinem Traum aufgetaucht war. Wie konnte er nur so friedlich schlafen, während in ihr alles brodelte? Werbung Ein paar Stunden zuvor hatte sie im Aufzug zufällig eine Nachbarin getroffen – eine zierliche Frau in einem Mantel mit glänzenden Knöpfen. „Du bist Sergius‘ Frau, nicht wahr?“, fragte sie lächelnd. „Ja, und du bist…?“ „Maria, aus der Wohnung gegenüber. Ich bin froh, dass jetzt jemand hier wohnt. Seine Mutter hat die Wohnung so lange leer stehen lassen.“ Anna runzelte die Stirn. „Die Wohnung seiner Mutter?“ „Ja. Frau Olga hat sie vor langer Zeit gekauft, im letzten Jahrhundert. Erst wohnte Sergius hier mit seiner Ex… und jetzt du.“ Anna erstarrte. Der Aufzug hielt an, und sie vergaß beinahe auszusteigen. Gedanken wirbelten wie ein Tornado durch ihren Kopf. Sie zahlte keine Miete – sie bezahlte ihn. Das ganze Geld floss zwei Jahre lang direkt in die Tasche seiner Mutter. Und sie lebte in dem Glauben, sie würden die Wohnung gemeinsam mieten. Das Haus war still. Anstatt ins Schlafzimmer zu gehen, nahm sie ihren Laptop und setzte sich auf die Couch. Sie tippte die Adresse und den Namen seiner Mutter ein. Einen Moment später flackerte der Bildschirm und zeigte eine Antwort: Eigentümerin: Olga V. Smirnova. Sie klappte den Computer zu. Sie saß still da, umgeben von Dingen, die sie selbst gekauft hatte: Bücherregale, eine Lampe mit warmem Licht, eine Decke aus dem Schlussverkauf. Ihr gemeinsames Nest. Ihr Nest. Sergiusz schlief neben ihr, ohne es zu merken. Anna verschränkte die Finger im Schoß. Sie wusste bereits, dass diese Stille nicht lange dauern würde. Am nächsten Morgen stand sie früher auf als sonst. Sie rief die Verwaltung an. Die Stimme am anderen Ende klang höflich, ja fröhlich. Die Wohnung gehört Olga W. Smirnowa. Alle Rechnungen sind bezahlt. Sie bedankte sich und legte auf. Ihr Herz klopfte wie wild. Sie ging zurück ins Schlafzimmer und öffnete die Schublade mit den Dokumenten. Zwischen den unwichtigen Papieren fand sie einen Ordner mit Abrechnungen. Eine davon war eindeutig: „Strom- und Gasrechnung – Olga Smirnowa“. Sie schloss die Schublade. Ein paar Minuten später erschien Sergius gähnend in der Küche. „Guten Morgen“, sagte er und griff nach dem Wasser. „Guten Morgen“, antwortete sie ruhig. Sie setzte sich ihm gegenüber und beobachtete ihn aufmerksam, wie er sein Handy checkte. Er täuschte Nachlässigkeit vor, aber Anna kannte die Wahrheit bereits. „Weißt du, ich habe mir gerade überlegt … Vielleicht lohnt es sich, über den Kauf einer Wohnung nachzudenken?“ Wir zahlen 80.000 im Monat und sind trotzdem nur Mieter.“ Er erstarrte für den Bruchteil einer Sekunde, fasste sich aber schnell wieder. „Weißt du, ein Kredit ist kompliziert …“ „Aber er wäre UNSER.“ „Nicht jemand anderem“, sagte sie ruhig. Er warf ihr einen nervösen Blick zu. Sie ignorierte ihn. – Vielleicht kann ich mit dem Besitzer sprechen? Du kennst ihn doch, oder? Sein Körper versteifte sich leicht. – Es ist … kompliziert – murmelte er. – Jetzt verstehe ich – antwortete sie und stand auf. – Sehr gut. Als er zur Arbeit ging, setzte sie sich auf die Couch und wählte Marias Nummer. – Hast du einen Moment Zeit? – Für dich jederzeit. Was ist los? – Ich brauche deinen Rat. Und … vielleicht einen Konferenzraum, in dem mich niemand stört. – Anna … du klingst, als würdest du einen Krieg planen. – Genau das plane ich. Eine halbe Stunde später saßen sie in einem leeren Konferenzraum. Maria analysierte etwas auf ihrem Laptop. – Wenn es keinen offiziellen Mietvertrag gab, dann war alles unter dem Tisch. Du hast für nichts bezahlt. – Für die Illusion eines gemeinsamen Lebens – korrigierte Anna. Sie sah Sie blickte ihre Freundin mit einer neuen, ungewohnten Gelassenheit an. – Jetzt will ich, dass er für dieses Spiel bezahlt. Zwei Wochen lang tat Anna so, als wäre nichts passiert. Sie lachte über seine Witze, kochte, redete über die Arbeit. Und gleichzeitig beobachtete sie. Seine Gesten, seine Einkäufe, wie er dem Thema Wohnung auswich. Schließlich lud sie ihn in ein Restaurant ein. Er ahnte nichts. Er war froh, dass seine Frau wieder „nett“ war. Das Abendessen fand in herzlicher Atmosphäre statt. Erst beim Dessert beugte sich Anna vor und sagte: „Weißt du noch, wie du gesagt hast, wir zahlen die Miete?“ Er nickte. „Also … wer genau?“ Er verstummte. Er versuchte etwas zu sagen, aber sie ließ ihm keine Chance. „Ich habe deine Mutter bezahlt, richtig?“ Er antwortete nicht. Anna griff nach dem Umschlag und legte ihn auf den Tisch. „Das ist meine letzte Überweisung.“ Es wird keine mehr geben.“ Sie stand auf. „Und die Wohnung?“, fragte er leise.