Anya Karpenko wurde morgens um halb sieben vom lauten Zuschlagen der Haustür geweckt. Igor machte sich wie immer auf den Weg zur Arbeit, ohne sich zu verabschieden. Sie drehte sich um, vergrub ihr Gesicht im Kissen und versuchte wieder einzuschlafen, doch ihre Gedanken ließen ihr keine Ruhe – sie kreisten wieder um Zahlen: Wie viel sie noch sparen musste, um aus dieser Mietwohnung auszuziehen und richtig zu leben.
In drei Ehejahren gewöhnte sich Anya an das Schweigen ihres Mannes, an seine ständigen Anrufe beim Essen, daran, dass er sie nie fragte: „Wie war dein Tag?“ Sie gewöhnte sich so sehr daran, dass sie es gar nicht mehr bemerkte. Sie arbeitete als Buchhalterin in einer Baufirma, sparte jeden Cent und träumte von ihrer eigenen Ecke. Die Zweizimmerwohnung, die sie gemietet hatten, war schon lange kein Zuhause mehr – zu dünne Wände, eine aufdringliche Vermieterin, hohe Miete.
„Schon gut, wir ziehen bald um“, sagte sie zu Igor und zeigte ihm die Anzeigen auf dem Handy. — Noch sechs Monate — dann reicht es für die Anzahlung.
Igor nickte, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden, und murmelte etwas Unverständliches. Er arbeitete als Fahrer in einem Logistikunternehmen, verdiente gut, gab sein Geld aber nur ungern für gemeinsame Unternehmungen aus. Sein Geld ging für Zigaretten drauf, Bier mit Freunden, Benzin für sein geliebtes Auto.
Anja beschwerte sich nicht. Als sie merkte, dass Igor sowieso nichts hörte, teilte sie ihre Gefühle überhaupt nicht mehr. Sie sparte einfach, plante, wählte Optionen. An den Wochenenden schaute sie sich Wohnungen an, machte Fotos, verglich Preise. Igor fuhr nie mit.
— Du wirst es schon besser herausfinden, — winkte er ab. — Was auch immer du wählst, wir nehmen es.
Dieser Februartag begann wie jeder andere. Anja saß im Büro und rechnete den Saldo des Vormonats ab, als Igors Telefon klingelte. Er hatte es zu Hause vergessen — es lag in der Küche, neben einem ungegessenen Sandwich. Anya wollte nicht abnehmen, aber die Anrufe gingen weiter. Der Name „Max“ erschien auf dem Display.
Sie kannte Max – Igors Schulfreund, der jetzt irgendwo im Einzelhandel arbeitete. Groß, dünn, mit einem ständigen spöttischen Blick. Während ihrer gesamten Ehe hatte sie ihn nur ein paar Mal gesehen, aber sie erinnerte sich an seine Witze, die nur ihm und Igor lustig waren.
„Hallo, hier ist Anya“, antwortete sie, als sie die Stimme hörte. „Igor hat sein Handy zu Hause vergessen. Etwas Wichtiges?“
„Anka! Hallo! Nichts Besonderes, ich wollte nur wissen, wie es mit der Wohnung läuft? Ich habe dir doch gesagt, dass du sie kaufen willst.“
„Ja, wir hoffen, bis zum Sommer“, antwortete sie. „Was ist passiert?“
„Nein, ich bin nur neugierig. Er freut sich so, als hätte er etwas geschenkt bekommen.“
Etwas in Max‘ Tonfall machte Anya misstrauisch, aber sie ließ sich nicht beirren. Sie verabschiedeten sich, und sie legte auf. Und abends, als Igor zurückkam, gab sie ihm das Telefon zurück.
„Max hat angerufen und nach der Wohnung gefragt“, sagte sie.
Igor warf einen kurzen Blick auf das Display, sagte aber nichts. Nur sein Gesicht verkrampfte sich.
„Willst du essen?“ Anya fragte.
„Ich will nicht“, murmelte er und ging ins Zimmer.
Anya zuckte die Achseln. In den letzten drei Jahren hatte sie gelernt, sich von seinen Launen nicht überraschen zu lassen.
Doch eine Woche später passierte etwas, das alles veränderte …
Igor vergaß sein Handy wieder zu Hause, doch diesmal ging Anya nicht ran. Sie schaltete einfach den Ton aus und vergaß es. Und als ihr Mann abends fragte, ob Anrufe eingegangen seien, log sie: Niemand hätte angerufen.
Igor runzelte die Stirn, nahm das Handy und ging ins Badezimmer. Anya hörte ihn mit gedämpfter Stimme mit jemandem sprechen, konnte die Worte aber nicht verstehen. Als er herauskam, war sein Gesicht düster.
„Ich komme morgen zu spät“, sagte er. „Die Ladung ist wichtig, ich kann bis zum Abend bleiben.“
Anya nickte. Jetzt war es ihr wirklich egal.
Am nächsten Tag ging Igor wie immer, kam aber eine halbe Stunde später zurück – er hatte seine Unterlagen vergessen. Anya war unter der Dusche, hörte ihn hastig im Zimmer suchen, schloss dann die Tür wieder und ging.
Sie kam aus dem Badezimmer – und sah sein Handy auf dem Boden liegen. Offenbar war es ihm beim Durchwühlen der Papiere aus der Tasche gefallen. Anya hob es auf, um es zum Tisch zu bringen … bemerkte aber, dass der Bildschirm nicht gesperrt war. Mehrere ungelesene Nachrichten von Max brannten.
Sie wollte sie nicht lesen. Ehrlich. Sie wollte das Handy einfach zurücklegen und warten. Doch ihr Blick wanderte von selbst zum Display. Die ersten Zeilen hatten bereits ihre Aufmerksamkeit erregt:
„Bist du sicher, dass sie nichts geahnt hat?“ Sie hat gestern komisch reagiert …“
Anjas Herz begann schneller zu schlagen. Ihre Finger drückten auf den Bildschirm.
Der Brief erwies sich als lang. Anya las ihn und traute ihren Augen nicht.
Igor:
„Alles läuft nach Plan. Sie hat fast für die Anzahlung gespart. Ich denke, wir schließen den Deal bis Mai ab.“
Max:
„Und du direkt nach dem Kauf?“
Igor:
„Natürlich. Die Wohnung ist Teil der Ehe – das heißt, die Hälfte gehört mir gesetzlich. Ich lasse mich scheiden und nehme meinen Anteil.“
Max:
„Super, Bruder. Und wenn sie etwas ahnt?“
Igor:
„Sie wird nichts verstehen. So vertrauensvoll, fast rührend. Sie spart seit drei Jahren für UNSERE Wohnung, aber in Wirklichkeit – für meine. Obwohl nein, für unsere und deine – erinnerst du dich an die Autowerkstatt?“
Max:
„Ich erinnere mich. Das Geschäft ist profitabel.“ Mit deinem Geld können wir gut durchstarten.“
Igor:
„Genau das meinte ich. Lass sie sich doch bald für eine Wohnung entscheiden. Ich habe es satt, den fürsorglichen Ehemann zu spielen.“
Max:
„Und weißt du noch, wie sie sich ein Kind gewünscht hat? Gut, dass du ihr das ausgeredet hast.“
Igor:
„Auf keinen Fall! Kinder sind zusätzliche Probleme bei der Vermögensaufteilung. Ohne sie ist alles einfacher.“