„Großmutter, ich heirate – räum die Wohnung frei!“
Mit funkelnden Augen und langem, braunem Haar stürmte die neunzehnjährige Nadia ins Zimmer ihrer Großmutter. „Schläfst du etwa?“ fragte sie mit lebhafter Stimme.
Die ältere Dame, Tamara Igorevna, richtete sich langsam im Bett auf und antwortete besorgt: „Nein, mein Schatz.“
„Ich werde heiraten!“ verkündete Nadia voller Freude.
„Wirklich?“ Tamara schüttelte erstaunt die Hände und atmete tief ein. „Und was ist mit deinem Studium?“
„Großmutter, wer braucht schon ein Studium?“ erwiderte das Mädchen mit einem leichten Stirnrunzeln und verschränkte die Arme entschlossen. „Als Lehrerin werde ich sowieso nicht arbeiten.“
Die alte Frau setzte ihre Brille zurecht und erkundigte sich skeptisch: „Wie willst du dann deinen Lebensunterhalt bestreiten?“
„Keine Sorge, ich habe das gut durchdacht. Ich habe dir doch gesagt – ich heirate!“ antwortete Nadia, ihre Geduld offensichtlich am Ende.
„Und du glaubst, dein Mann wird dich ernähren?“ erwiderte Tamara und schüttelte den Kopf. „Er wird dich im Stich lassen…“
„Wohin soll er denn gehen?“ lachte das Mädchen und ließ ihre langen Haare zurückfliegen. „So arm wie eine Kirchenmaus.“
„Und du meinst, als Braut mit Mitgift würde man an ihm hängen?“ Tamara schnaufte verächtlich.
„Natürlich wird er das tun!“ rief Nadia aus. „Eigentlich wollte ich genau darüber mit dir sprechen.“
Beim Hören dieser Worte spannte sich die alte Frau an. Sie ahnte, worauf die Unterhaltung hinauslief.
„Großmutter, da ich heirate, räum bitte meine Wohnung frei,“ erklärte Nadia und setzte sich lässig auf den Tisch.
„Welche Wohnung?“ fragte Tamara irritiert.
„Diese hier! Du hast sie mir gegeben,“ kaute das Mädchen lautstark Kaugummi.
„Ich habe dir die Wohnung unter der Bedingung überlassen, dass du sie erst nach meinem Tod erben würdest,“ antwortete die Frau mit einem unsicheren Lächeln.
„Ich kann nichts dafür, dass ich heirate und du noch lebst. Ganz und gar nicht meine Schuld!“ sprang Nadia vom Tisch.
„Ich habe doch keinen anderen Ort, wohin ich gehen könnte,“ erwiderte ihre Großmutter, die längst begriffen hatte, dass Nadia sie loswerden wollte.
„Das ist nicht mein Problem,“ blies das Mädchen eine riesige Kaugummiblase auf, die mit einem lauten Knall platzte. „Es gibt dafür spezielle Heime, da kannst du hin.“
„Wie kannst du nur, Nadia? Nach Lyudas Tod habe ich dich großgezogen,“ klagte Tamara, die voller Verzweiflung ihre Hände rieb.
„Versuche gar nicht erst, mir Schuldgefühle einzureden – das funktioniert nicht,“ sagte Nadia genervt.
„Egal, was du sagst, ich werde hier nicht weggehen!“ erklärte die alte Frau trotzig. „Das ist meine Wohnung, und ich werde hier sterben!“
„Gut, das habe ich gebraucht,“ verzog Nadia das Gesicht angewidert. „Ich gebe dir eine Woche!“
Doch bald erfuhr sie, dass Tamara keineswegs gewillt war, auszuziehen.
Also wandte Nadia sich an ihren Verlobten, um das Problem zu lösen.
„Geh zum Gericht und lass sie zwangsweise rauswerfen,“ riet ihr der Mann, der nur auf den Moment wartete, in die Zweizimmerwohnung einzuziehen.
Am nächsten Tag reichte Nadia die Klage ein.
Nach einem Monat wurde die 75-jährige Tamara Igorevna aus ihrer Wohnung zwangsgeräumt.
Heimlos ließ sie ihre Sachen unter der Treppe zurück und verbrachte die Nacht im Hausflur.
Am Morgen entdeckte ihre Nachbarin Lyuba von der dritten Etage die alte Frau. Erschrocken blieb sie stehen, als sie sah, wie Tamara auf einem Pelzmantel schlief und legte ihre Hand auf deren Schulter.
„Tamara Igorevna, warum bist du hier?“
„Nadia hat mich rausgeworfen.“
„Diese falsche Schlange! Wir sollten die Polizei rufen!“ begann Lyuba empört aufzuschreien.
„Die Polizei hat mich rausgeworfen. Ich habe ihr die Wohnung übergeben, also gehört sie ihr,“ wischte Tamara sich Tränen aus den Augen.
„Wir müssen etwas unternehmen. Komm jetzt erst mal zu mir. Du kannst nicht im Flur schlafen,“ half Lyuba der alten Frau auf und brachte ihre Sachen in ihre Wohnung. „Woher hast du die blauen Flecken an deinen Armen?“
„Nadia war dabei, mich zu vertreiben,“ seufzte Tamara verbittert.
Lyuba schüttelte missbilligend den Kopf, doch sie hielt sich zurück, nicht alles auszusprechen, was ihr über die undankbare Enkelin durch den Kopf ging.
Am Abend begab sich Lyuba zu einem Anwalt, um die Lage der älteren Dame zu erörtern.
„Gibt es eine Möglichkeit, die Wohnung zurückzuerhalten?“ fragte sie, nachdem sie dem Juristen die Geschichte von Tamara Igorevna erzählt hatte. „Nadia hat sogar Hand gegen ihre Großmutter erhoben.“
„Wir müssen die Unterlagen prüfen,“ überlegte der junge Mann. „Wenn es eine Lücke gibt, besteht Hoffnung.“
„Hier sind die Papiere, die ich bei der Großmutter gefunden habe,“ übergab Lyuba einen abgenutzten Ordner.
Der Anwalt studierte die Dokumente sorgfältig. Nach zehn Minuten blickte er auf.
„Es besteht eine große Chance!“ sagte er zufrieden und rieb sich die verschwitzten Hände. „Ich habe etwas entdeckt, das die törichte Enkelin übersehen hat!“ fügte er hinzu, während er sich zurücklehnte.
Lyuba wurde nervös und spielte unruhig am Saum ihrer Jacke, gespannt auf eine Erklärung wartend.
Sie empfand echte Anteilnahme für Tante Tamara, die von ihrer eigenen Enkelin so brutal ins Freie gesetzt wurde.
„Die neue Eigentümerin der Wohnung hat eine wichtige Klausel im Vertrag nicht beachtet. Tamara Igorevna hat das Recht, den Vertrag zu widerrufen, wenn sie denkt, dass der Begünstigte ihr Leben oder ihre Gesundheit gefährdet hat.“
Als Lyuba der niedergeschlagenen Frau eröffnete, dass die Wohnung zurückerlangt werden könnte, wehrte sich Tamara.
„Nein, Nadia ist meine Enkelin, ich kann sie nicht auf die Straße setzen,“ protestierte sie. „Lieber gehe ich in ein Pflegeheim.“
Obwohl die Nachbarin alles versuchte, sie davon zu überzeugen, dass ihre Enkelin eine Lektion brauche, blieb Tamara fest entschlossen.
Am nächsten Tag bat sie Lyuba, sie samt Habseligkeiten in ein Pflegeheim zu fahren.
Inzwischen hatte Nadia, die ihre verstoßene Großmutter vergessen hatte, geheiratet und lebte mit ihrem Mann in der Zweizimmerwohnung.
Doch das Glück hielt nicht lange an. Während einer der zahlreichen Partys, die das Paar liebte zu veranstalten, brannte die Wohnung vollständig nieder.
Als klar wurde, dass nichts mehr zu retten war, und kein Geld für Reparaturen vorhanden war, verließ Nadias Ehemann sie zugunsten einer anderen Frau.
Abschließende Gedanken: Diese bewegende Geschichte verdeutlicht, wie familiäre Konflikte und mangelnde Wertschätzung ältere Menschen unvermittelt in Notlagen bringen können. Sie mahnt, dass Respekt und Fürsorge innerhalb der Familie unersetzlich sind und kein materielles Gut diesen Wesenskern ersetzen kann.