Plötzlich ertönte die Türklingel.
Anja war gerade dabei, den Tisch zu decken. Sie planten, gemeinsam mit ihrem Mann zu Abend zu essen.
Die Türglocke läutete unvermittelt, obwohl niemand angekündigt war.
„Maxim, kannst du bitte die Tür öffnen? Wer ist da?“ rief sie ihrem Mann zu.
Widerwillig erhob sich Maxim von der Couch und begab sich zur Tür.
„Tante Tamara? Wo kommst du denn her?“ Maxim zeigte sich überrascht, als er die Schwester seiner Mutter erblickte. Obwohl sie ihr Alter deutlich zeigte, machte sie einen gepflegten Eindruck.
„Hallo Maxim. Darf ich reinkommen?“
„Aber natürlich! Komm doch herein. Warum habt ihr vorher nicht angerufen? Dann hätte ich euch erwartet…“
„Das ist ganz spontan entstanden. Ich war bei Kolja, deinem Bruder, zu Besuch und habe beschlossen, euch einen Überraschungsbesuch abzustatten.“
Vorsichtig trat sie in den Flur und stellte eine große Tasche ab. Anja kam aus der Küche, ihre Hände wischte sie am Schürzenstoff ab.
„Hallo Anja! Entschuldigung, dass ich so spät komme, der Zug hatte Verspätung. Wir haben uns lange nicht gesehen, da wollte ich einfach einmal vorbeischauen.“
„Hallo Tamara Semjonovna! Das kommt überraschend. Wollt ihr mit uns essen?“
„Das lasse ich mir nicht entgehen. Danke schön.“
Die Frau ging ins Bad, um sich die Hände zu waschen. Anja warf ihrem Mann einen fragenden Blick mit hochgezogenen Augenbrauen zu.
„Ich wusste von ihrem Besuch nichts…“
„Wir brauchen hier wirklich keine weiteren Tanten… Wie lange will sie bleiben? Und warum überhaupt hierher?“
„Keine Ahnung… Sie wird es uns hoffentlich erklären.“
„Ich habe Geschenke mitgebracht. Hier etwas Honig, der Nachbar verkauft ihn, Knoblauch und kleine Mitbringsel.“
„Das ist sicher teuer in der Stadt. Also, wie geht es euch? Wie läuft es mit eurem Sohn?“
„Uns geht es gut. Wir haben eine Wohnung mit Hypothek erworben und arbeiten fleißig.
Ljonka ist in der neunten Klasse und sehr an Informatik interessiert. Er kommt gleich von einem Freund zurück. Und wie sieht es bei euch aus?“
„Ein kluger Junge, das freut mich. Ich wollte Familie besuchen, denn außer euch habe ich niemanden mehr.
Deine Mutter ist verstorben, und wir haben den Kontakt verloren. Ihr kommt nicht zu uns, es ist weit, und jeder hat sein eigenes Leben.
Aber ich bin ganz allein. Das Alter ist kein Zuckerschlecken, sagt man…“
„Wunderbare Frikadellen, Anja, eine tüchtige Hausfrau. Und eure Wohnung ist schön. Gut gemacht, ihr zwei.“
„Bleibst du lange? Wir planen, in ein paar Tagen wegzufahren“, fragte Anja vorsichtig.
Maxim warf Anja einen missbilligenden Blick zu.
„Etwa drei Tage. Ich möchte die Stadt besichtigen. Dann fahre ich wieder zurück.
Ich wollte einfach Zeit mit meinem Neffen, eurem Sohn, und dir verbringen, Anja. Du bist so lieb und wunderschön.“
Anja lächelte – seit Langem hatte niemand ihr solche Worte gesagt.
„Du musst auf dem Küchensofa schlafen. Der Raum ist knapp. Wir haben nur zwei Zimmer: In einem schlafen wir auf dem Sofa, im anderen Ljonka.“
„Egal, wo ich schlafe, ich bin nicht wählerisch. Vielen Dank für das Essen, es war köstlich.“
Ljonka trat ins Zimmer.
„Sohn, das ist Oma Tamara, die Schwester von Tante Sweta. Du warst noch klein, als wir sie besuchten, erinnerst du dich nicht mehr?“
„Hallo. Ich erinnere mich nicht mehr. Schön, dich kennenzulernen. Du ähnelst stark Oma Sweta…“
„Freut mich, Leonid. Du bist schon ein junger Mann. Man sagt, du interessierst dich sehr für Informatik?“
„Ja, aber der Computer ist alt, meine Eltern können keinen neuen kaufen. Ich schreibe eigene Programme…“
„Kluges Kind. Mach weiter so, das ist ein gefragter Beruf.“
„Was hast du früher gearbeitet?“
„Ich war Chirurgin. Doch ein Unfall an meiner Hand ließ mich nicht mehr operieren.
Später unterrichtete ich an einem Institut, heiratete und zog mit meinem Mann in ein abgelegenes Dorf. Dort gefiel es mir gut…“
„Das muss schön sein, wenn man Menschen helfen kann.“
„Ja, das Gefühl, Leben zu retten und Menschen zu helfen, ist unbeschreiblich.“
„Dann bereiten wir dir nun das Bett vor, ruhe dich aus. Morgen kann ich dir die Stadt zeigen, ich habe frei.“
„Danke, Maxim. Das freut mich sehr.“
Als sie schlafen gingen, begann Anja ihrem Mann leise Vorwürfe zu machen.
„Wer lädt sich denn so spät noch unangekündigt ein? Bringt Honig und Knoblauch mit und meint, wir würden vor Freude ausflippen! Jetzt musst du sie füttern und ausführen! Was für Leute sind das?“
„Anja, sie ist meine einzige Tante. Sie hat meine Mutter großgezogen, ihre Eltern starben früh.
Ihr Leben war nicht einfach. Sie hatte Mann und Sohn, doch beide starben bei einem Unfall, sie überlebte mit einer schweren Verletzung an der Hand.
Jahre später heiratete sie erneut, zog mit ihrem Mann aufs Land, kaufte ein Haus, betrieb einen kleinen Bauernhof und Garten.
Wir haben sie dort besucht. Meine Mutter mochte sie sehr.
Dann starb Onkel Joera plötzlich an einem Herzinfarkt. Kannst du dir vorstellen, wie schwierig ihr Leben war?
Aber sie macht einen guten Eindruck und gibt nicht auf. Sie sucht ihre Familie, und das ist nicht schlecht. Hab Geduld.“
„Ich kenne ihre Geschichte, deine Mutter hat sie erzählt. Trotzdem ist das so nicht in Ordnung.
Du musst dich um sie kümmern. Ich gehe morgen bis abends zu meiner Mutter.“
„Alles klar, Anja, ich werde mich um sie kümmern.“
Am nächsten Tag gingen Maxim, Tante Tamara und Ljonka in die Stadt, während Anja ihre Mutter besuchte.
Am Abend hörte sie beim Heimkommen das fröhliche Lachen ihres Sohnes.
Der Küchentisch war mit Einkäufen und Essen vollgeladen, kein Platz mehr frei.
„Oh, was geschieht hier?“ fragte sie erstaunt.
„Anja, ich habe Geschenke für euch gekauft. Schöne Teller für dich, Bettwäsche…“
„Mama, Tante Tamara hat mir einen neuen Computer geschenkt! Ich hätte nie damit gerechnet, er ist super!“ rief ihr Sohn aus seinem Zimmer.
Anja blickte verblüfft zu ihm und dann zu Tante Tamara.
„Warum habt ihr so viel Geld ausgegeben? Das ist doch teuer…“
„Das ist egal. Ich habe Geld. Ich weiß nicht, wofür ich es sonst ausgeben soll, verstehst du…
Und Ljonka ist glücklich. Wir hatten einen wunderbaren Tag zusammen! Ich bin euch so dankbar!
Obwohl wir wenig sprachen, sind wir doch Familie…“
Anja räumte die Geschenke beiseite und bereitete mit den Zutaten das Essen zu.
Sie war erstaunt über die Großzügigkeit der pensionierten Frau – allein der Computer war ein kostbares Geschenk.
Zum Abendessen öffneten sie eine Flasche Champagner. Tamara Semjonovna erhob das Glas und sprach einen Toast:
„Ich möchte auf eure enge und glückliche Familie anstoßen. Danke für die glücklichen Momente, die ihr mir geschenkt habt.
Das bedeutet mir viel. Als ich bei Kolja, deinem ältesten Bruder, ankam, wurde ich schlecht behandelt.
Ich musste im Hotel übernachten. Man sagte, niemand erwarte mich und ich solle gehen.
Das ist Kolja… Ich habe ihn als Kind am meisten erzogen. Und seine Frau verhielt sich grob. Es war unangenehm.
Ich wollte sehen, wie er als Mensch ist und wie er mit der Familie umgeht. Er hat nicht bestanden.
In unerwarteten Situationen offenbart sich die wahre Natur eines Menschen.
Und was ich sagen will: Maxim, du bist ein guter Mensch geworden.
Deine Eltern wären stolz auf dich. Ihr habt mich aufgenommen, gefüttert und den ganzen Tag beschäftigt.
Das kann man nicht kaufen, das ist Menschlichkeit. Darauf trinken wir!“
„Tante Tamara, danke für Ihre lieben Worte! Anja und ich freuen uns über Ihren Besuch! Familie ist Familie…“
„Wir sprechen nicht mit Kolja. Er will es so. Er glaubt immer, wir wollten von ihm etwas, nur weil er jetzt in einer hohen Position ist.
Deshalb hat er sich so benommen. Er dachte, du würdest etwas verlangen… Geld verdirbt den Menschen.“
„Ach, vergiss das. Ich möchte noch etwas sagen… Vor vielen Jahren habe ich jemandem das Leben gerettet.
Ich führte eine schwierige Operation auf eigenes Risiko durch.
Jahre später erfuhr ich, dass er mir aus Dankbarkeit eine schöne Dreizimmerwohnung in Moskau hinterlassen hat. Er ist wohlhabend und konnte sich das leisten.
Die Wohnung gehört jetzt mir. Ich will dort nicht wohnen und auch nicht verkaufen. Ich habe genug Geld.
Ich möchte sie dir, Maxim, schenken. Ihr könntet dorthin ziehen oder sie verkaufen, um die Hypothek abzubezahlen.
Ihr entscheidet. Morgen erledigen wir die Formalitäten und dann fahre ich zurück.“
Maxim und Anja sahen sich fassungslos an. Diese Nachricht kam unverhofft – eine Wohnung in Moskau!
„Wie bitte? Für mich? Eine Wohnung?“
„Ja, Maxim. Außer dir und Kolja habe ich keine Familie mehr.
Dein Bruder verdient so ein Geschenk nicht… Und ich verlange nichts zurück.
Ich würde mich freuen, wenn ihr mich wenigstens einmal im Jahr besucht, einfach so.“
Anja fröstelte. Was für eine Tante!
Den ganzen Abend unterhielten sie sich in der Küche. Tamara Semjonovna erzählte von ihrer Jugend und ihrer Schwester. Es wurde ein schöner Abend.
Anja schämte sich, so abweisend zu dieser Frau gewesen zu sein, nicht nur wegen des großzügigen Geschenks.
Sie entpuppte sich als interessante Persönlichkeit mit viel Lebenserfahrung und Humor.
Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, trat Tamara Semjonovna die Rückfahrt mit dem Zug an.
Maxim und sein Sohn brachten sie zum Bahnhof, Anja konnte nicht mitkommen, sie musste arbeiten.
Sie konnten kaum fassen, dass sie nun Eigentümer einer Wohnung in einem guten Viertel Moskaus waren.
Sie planten, die Wohnung zu besichtigen und vielleicht in die Hauptstadt umzuziehen, jetzt wo sie die Chance dazu hatten. Eventuell wollten sie die Wohnung verkaufen, um die Hypothek zu tilgen.
Key Insight: Ein unerwarteter Besuch kann das Leben tiefgreifend verändern – in diesem Fall brachte Tante Tamara nicht nur Gesellschaft, sondern auch ein wertvolles Geschenk, das neue Möglichkeiten eröffnete.
Unvorhergesehene Ereignisse machen das Leben spannend und zeigen, wie wichtig familiäre Bindungen sind, selbst wenn sie lange Zeit verloren schienen.