„Sind Sie sich wirklich sicher, dass es kein Irrtum sein kann?“ Oksana umklammerte das Telefon fester, während sie versuchte, ihre Stimme ruhig zu halten.
„Oksana Nikolaevna, der Test ist eindeutig positiv. Herzlichen Glückwunsch, Sie sind schwanger – etwa sechs Wochen.“
Nachdem sie dem Arzt dankte und das Gespräch beendete, schien die Welt um sie herum stillzustehen. Sechs Wochen, genau so viel Zeit war seit dem Abend vergangen, an dem sie früh nach Hause gekommen war und eine fremde Handtasche im Flur entdeckt hatte – genau die, die sie Kira zum Geburtstag geschenkt hatte.
Langsam ließ sich Oksana auf den Stuhl am Fenster sinken. Draußen fiel Schnee, bedeckte die Stadt mit einer weißen Decke und verwischte jegliche Spuren. Wie sehr wünschte sie sich, diesen Abend aus ihrem Gedächtnis einfach auslöschen zu können.
Das Telefon klingelte erneut. Yuri war es schon zum dritten Mal in einer Stunde.
„Oksana, wo bist du? Wir wollten uns doch nach der Arbeit treffen.“
„Tut mir leid, ich habe mich verspätet“, sagte sie mit einem bemüht normalen Ton. „Warte nicht auf mich, ich habe noch viel zu erledigen.“
„Geht es dir gut? Du klingst merkwürdig.“
„Alles in Ordnung, ich bin nur müde.“
Nach dem Auflegen blickte Oksana auf den Koffer, den sie gerade am Morgen gepackt hatte. Fünf Jahre Ehe – fünf Jahre, die gerade zu Ende gingen. Und ein neues Leben, das in ihr heranwuchs.
Fünf Jahre später
„Mama, schau mal, wie wunderschön!“ Die vierjährige Sofia drückte ihre Nase gegen das Schaufenster eines Spielzeuggeschäfts und bewunderte eine Puppe in einem flauschigen Kleid.
„Sehr schön“, lächelte Oksana, während sie Sofias Mütze zurechtrückte. „Aber wir müssen weiter, wir sind schon spät dran.“
„Wohin gehen wir?“ Die Kleine riss ihren Blick widerwillig los und nahm ihre Mutter an der Hand.
„Zu Galina, meiner Tante. Sie wartet auf uns.“
Kaliningrad empfing sie mit einem frostigen Januarmorgen. Fünf Jahre war Oksana nicht zurückgekehrt, sondern hatte ihr Leben fernab von der Vergangenheit aufgebaut. Nun aber verlangte die Situation eine Rückkehr: Ihre Tante, die einzige Vertraute, die sie damals unterstützt hatte, war ins Krankenhaus gekommen.
„Sonya, pass auf, lauf nicht so schnell!“, zog Oksana ihre Tochter enger an sich, während sie die geräumige Empfangshalle des neu eröffneten Business Centers betraten. Sie mussten das Gebäude durchqueren, um zur Bushaltestelle auf der anderen Seite zu gelangen.
Der Marmorboden glänzte im Licht der Kronleuchter, während festliche Musik erklang. Viele Menschen hatten sich hier versammelt – offenbar zum Eröffnungsfest.
„Oksana?“ Eine Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Ein wiedererkennbarer Klang, den sie seit fünf Jahren nicht mehr gehört hatte, aber aus Tausenden herausfinden würde. Langsam drehte sie sich um.
„Yuri.“
Er war kaum gealtert. Dieselben grauen Augen, wenige graue Haare an den Schläfen. Nur die Falten um seine Augen waren tiefer geworden.
„Ich hätte nicht erwartet, dich hier zu sehen“, sagte er und sah sie an, als wäre sie ein Gespenst. „Du… bist zurückgekommen?“
„Nur auf der Durchreise“, antwortete Oksana, während Sofia sich an ihr Bein drückte. „Nicht für lange.“
Yuri nickte zu dem Mädchen hinunter. Oksana bemerkte eine Veränderung in seinem Gesichtsausdruck. Seine Pupillen weiteten sich. Sofia war eine perfekte Kopie von ihm – dieselben grauen Augen, dieselbe Lippenform, sogar das Grübchen in der Wange beim Lächeln.
„Und das ist…“
„Meine Tochter“, sagte Oksana rasch. „Sofia.“
Eine drückende Stille folgte.
„Da bist du also!“, trat eine schlanke Frau mit kastanienbraunem Haar auf sie zu. „Alle haben nach dir gesucht. Oh, hallo“, sagte sie und sah Oksana neugierig an.
„Vera, das ist Oksana… eine alte Bekannte von mir“, stellte Yuri langsam vor, ohne die Augen von Sofia abzuwenden. „Oksana, das ist meine Frau Vera.“
„Freut mich“, zwang Oksana ein Lächeln. „Wir müssen gehen, entschuldigt.“
„Warte“, trat Yuri vor. „Wie kann ich dich erreichen?“
„Kannst du nicht“, antwortete sie und ging schnell zur Tür, Hand in Hand mit Sofia.
Im Taxi lehnte sich Sofia an sie: „Mama, wer war das?“
„Nur jemand, den ich kenne, mein Schatz. Ich habe ihn lange nicht gesehen.“
Tante Galinas Wohnung war genauso gemütlich wie vor fünf Jahren, als Oksana mit kleinem Koffer und gebrochenem Herzen aus Moskau hierher gekommen war.
„Du hast dich überhaupt nicht verändert“, lächelte ihre Tante und strich Sofia liebevoll über den Kopf. „Und diese kleine Dame hier ist so groß geworden, nur durch Fotos habe ich sie gesehen. Wie geht es dir wirklich, Oksana?“
Oksana setzte die Tante in den Sessel und entschied sich, ehrlich zu sein.
„Alles ist okay. Der Arzt sagt, es ist nichts Ernstes. Ich soll nur die Medikamente nehmen und mich schonen.“
„Ich meine etwas anderes. Wie steht es um dein Herz?“
Oksana schweifte mit dem Blick ab.
„Tante Galya, das ist Vergangenheit.“
„Hast du ihn gesehen?“
„Ja. In dem neuen Business Center. Stell dir vor, in einer Stadt mit fast einer halben Million Einwohnern begegnet man ihm am ersten Tag.“
„Das ist Schicksal“, sagte ihre Tante leise. „Er hat nach dir gesucht, das weißt du?“
„Was?“ Oksana drehte sich überrascht um.
„Er kam einen Monat, nachdem du gegangen warst. Und dann noch ein paar Mal. Ich sagte immer, ich wüsste nicht, wo du bist.“
„Danke“, drückte Oksana die Hand ihrer Tante. „Das war richtig.“
„Seine Mutter hat letztes Jahr sogar angerufen. Irina Sergeevna hat dich immer wie eine Tochter geliebt.“
Oksana seufzte. Tatsächlich hatte ihre Schwiegermutter sie stets freundlich behandelt. Fragte sich, ob sie Ahnung hatte, was zwischen Yuri und Kira vorgefallen war.
„Sonya sieht ihm so ähnlich“, sagte die Tante, als sie das spielende Mädchen im Zimmer beobachtete. „Hat er etwas vermutet?“
„Ich glaube schon. Aber es ändert nichts.“
Am Morgen klingelte das Telefon. Die Nummer war unbekannt.
„Oksana? Hier spricht Irina Sergeevna.“
Ihre ehemalige Schwiegermutter rührte ihr Herz sofort.
„Hallo“, trat sie auf den Balkon, um Sofia nicht zu wecken.
„Yura hat gesagt, er hat dich gestern gesehen. Darf ich vorbeikommen? Ich muss mit dir sprechen.“
Eine Stunde später saßen sie in der Küche, während Sofia noch schlief.
„Ist sie wirklich Yuras Tochter?“ fragte Irina Sergeevna offen.
Oksana nickte.
„Warum hast du nichts gesagt?“ Ihre Stimme klang schmerzhaft, nicht vorwurfsvoll. „Du hast ihn um seine Tochter gebracht – und uns um eine Enkelin.“
„Er hat sich selbst beraubt“, antwortete Oksana leise. „Als er meine Freundin in unser Haus brachte.“
Irina Sergeevna senkte die Augen.
„Ich weiß. Er erzählte mir alles, als du verschwunden warst. Er war nicht mehr er selbst. Aber Oksana, es war nur ein Fehler.“
„Ein Fehler, der alles veränderte.“
„Er hat erst vor zwei Jahren geheiratet. Er suchte dich weiterhin, hoffte, du kehrst zurück. Dann lernte er Vera kennen. Sie kann keine Kinder bekommen.“
Ein Kloß bildete sich in Oksanas Hals.
„Es tut mir leid, aber das ist nicht mein Problem.“
„Und was ist mit Sofia? Braucht sie keinen Vater?“
In diesem Moment kam ein verschlafenes Mädchen zur Küchentür.
„Mama, ich bin wach.“
Irina Sergeevna erstarrte und sah ihre Enkelin mit großen Augen an.
„Wie lange bleibst du in der Stadt?“ fragte Pavel, der Oksana bei den Druckunterlagen half.
Sie hatten sich im Verlag kennengelernt, in Kaliningrad, und als sich herausstellte, dass er ebenfalls geschäftlich in der Heimatstadt war, beschlossen sie, denselben Flug zu nehmen.
„Eine Woche, höchstens zwei“, antwortete sie, während sie die Papiere sortierte. „Sobald es meiner Tante besser geht, fahren wir sofort zurück.“
„Schade“, lächelte er. „Ich dachte, es gefällt dir hier.“
„Es war schön. Aber das ist Vergangenheit.“
Das Telefon klingelte erneut. Diesmal eine unbekannte Nummer.
„Oksana, hier ist Yuri. Bitte leg nicht auf.“
Sie erstarrte und schloss die Augen.
„Woher hast du meine Nummer?“
„Deine Tante hat sie mir gegeben. Entschuldige die Störung, aber wir müssen reden. Es ist wichtig.“
„Wir haben nichts zu besprechen.“
„Sofia ist meine Tochter?“
Oksanas Hände umklammerten das Telefon so fest, dass ihre Knöchel weiß wurden.
„Ich muss die Wahrheit wissen“, fuhr er fort, ohne auf eine Antwort zu warten. „Ich habe das Recht darauf.“
„Und ich hatte das Recht auf Treue, Vertrauen und Respekt“, ihre Stimme zitterte. „Aber das war niemandem wichtig, oder?“
Auf der anderen Seite herrschte zunächst Stille.
„Ich lag falsch“, sagte er schließlich. „Ich würde alles geben, um die Vergangenheit zu ändern. Aber das kann ich nicht. Ich kann nur versuchen, die Zukunft zu verbessern. Unsere Tochter braucht ihren Vater.“
„Wir sind auch fünf Jahre ohne dich klargekommen.“
„Bitte. Nur ein Treffen. Du und ich. Erwachsen reden.“
Das Café war still und fast leer. Oksana wählte einen Platz ganz hinten und spielte nervös mit einer abgekühlten Teetasse.
„Danke, dass du gekommen bist“, sagte Yuri, der ihr gegenüber saß.
„Ich habe nicht viel Zeit“, blickte sie auf die Uhr. „Sofia ist bei meiner Tante, aber ich muss bald los.“
„Ich will nicht um den heißen Brei herumreden“, legte er die Hände auf den Tisch. „Ich möchte, dass du mir erlaubst, unsere Tochter zu sehen.“
„Warum? Du hast eine Frau, ein eigenes Leben.“
„Vera kann keine Kinder bekommen“, sah er ihr in die Augen. „Aber das ist nicht der Grund. Sofia ist meine Tochter. Ich habe das Recht, Teil ihres Lebens zu sein.“
„Ich hatte das Recht, zu wissen, was zu Hause geschah, wenn ich nicht da war“, holte Oksana tief Luft, um sich zu beruhigen. „Wie lange hast du Kira nicht mehr gesehen?“
„Fünf Jahre. Seit jenem Tag.“
„Wirklich? Ich dachte, es war ernst zwischen euch.“
Yuri schüttelte den Kopf.
„Es war ein Fehler. Der einzige und schwerwiegendste in meinem Leben. Firmenfeier, zu viel Champagner… Keine Ausreden, aber keine Gefühle, kein Fortbestand. Kira rief am nächsten Tag an, sagte, du hast alles gesehen und bist verschwunden.“
„Und du bist ihr gefolgt?“
„Nein. Ich sagte ihr, ich würde ihr nie verzeihen, unsere Familie zerstört zu haben. Wir sprachen nie wieder.“
Oksana lächelte skeptisch.
„Interessant, wie sich die Dinge geändert haben. Jetzt redest du von Verantwortung und Familie.“
„Ich habe dich nie aufgehört zu lieben“, sagte er leise. „Und ich habe dich all die Jahre gesucht.“
„Aber am Ende hast du eine andere geheiratet.“
„Nach drei Jahren habe ich geglaubt, du willst nicht gefunden werden. Dass du ein neues Leben begonnen hast – mit jemand anderem.“
Seine Worte brachten bittere Wahrheit mit sich. Sie hatte wirklich nicht gefunden werden wollen.
„Ich verstehe nicht, warum du ihm nicht einfach nein gesagt hast“, ging Pavel nervös im Zimmer auf und ab.
„So einfach ist das nicht“, seufzte Oksana. „Er hat recht, Sofia hat Anspruch darauf, ihren Vater zu kennen.“
- Yuri betrog mich mit meiner besten Freundin.
- Ich will nicht, dass das unsere Tochter zerstört.
- Es geht um das Wohl unseres Kindes, nicht um unsere Gefühle.
Pavel blieb stehen und sah sie an:
„Liebst du ihn noch?“
„Nein“, schüttelte sie den Kopf. „Aber ich kann keine Entscheidungen nur aus Schmerz treffen. Sofia fängt an, Fragen zu stellen. Was sage ich ihr in fünf oder zehn Jahren?“
Plötzlich unterbrach das Telefon das Gespräch. Vera, Yuris Frau, rief an. Verwirrt nahm Oksana ab.
„Hallo Oksana. Entschuldige die Störung. Wir müssen uns treffen. Es ist wichtig.“
„Danke, dass du zugestimmt hast“, sagte Vera aufgeregt, aber bestimmt. „Ich verstehe, wie seltsam die Situation ist.“
Sie trafen sich in einem kleinen Park, auf einer Bank außer Sichtweite der Passanten.
„Worüber wolltest du reden?“ fragte Oksana vorsichtig.
„Yuri hat mir alles erzählt“, begann Vera. „Über deine Vergangenheit, was geschah, über Sofia. Ich kann keine Kinder bekommen – eine angeborene Krankheit.“
Oksana nickte unbehaglich und wusste nicht, was sie sagen sollte.
„Als wir uns kennenlernten, war Yuri ehrlich. Er sagte, wie er dich verlor, dich suchte, sich für seinen Fehler selbst hasste. Ich wusste, worauf ich mich eingelassen habe, als ich ihn heiratete. Ich wusste, dass ich nie sein ganzes Herz bekomme.“
„Was willst du damit sagen?“ fragte Oksana angespannt.
„Ich liebe Yuri“, antwortete Vera schlicht. „Ich sehe, wie sehr er leidet. Er ist ein guter Mann, der einen schrecklichen Fehler begangen hat. Aber er verdient die Chance, Vater zu sein.“
„Ich muss Entscheidungen treffen, die das Beste für mein Kind sind, nicht für Yuri oder dich.“
„Natürlich“, nickte Vera. „Ich wollte dir nur sagen: Wenn du Yuri erlaubst, Sofia zu sehen, unterstütze ich das von Herzen. Das Mädchen bekommt nicht nur einen Vater, sondern – jemanden wie eine zweite Mutter. Wenn du es zulässt.“
Überrascht betrachtete Oksana die Frau. Sie hatte mit Anschuldigungen und Eifersucht gerechnet, nicht mit solcher Offenheit.
„Warum tust du das?“
„Familie besteht nicht nur aus Blutsverwandtschaft. Es ist eine tägliche Wahl. Ich habe Yuri mit seiner Vergangenheit gewählt – und jetzt möchte ich nur mehr Liebe, nicht weniger.“
Die unvermeidlichen Begegnungen und Entscheidungen
Die folgenden Tage stürzten Oksanas Welt durcheinander. Yuri beantragte offiziell einen Vaterschaftstest – nicht aus Zweifel, sondern, um seine Rechte rechtlich abzusichern. Pavel drängte auf eine baldige Rückkehr nach Kaliningrad und zeigte Interesse an einer ernsthaften Beziehung. Tante Galina erholte sich und überzeugte ihre Nichte, dass Sofia einen Vater braucht und sie selbst Vergebung finden muss.
Dann tauchte Kira auf.
Beim Einkaufen stieß Oksana auf ihre einstige Freundin. Sie hatte sich kaum verändert, nur war sie nun schärfer und nervöser.
„Also stimmt es, dass du zurück bist“, sagte Kira herausfordernd. „Und du hast Yuris Kind mitgebracht. Glück gehabt.“
„Ich will nichts sagen“, versuchte Oksana wegzugehen.
„Ich sage es dir“, packte Kira ihren Arm. „Er war immer in mich verliebt, seit der Uni. Dann kamst du – so brav, so bequem. Er heiratete dich, weil es erwartet wurde, aber er hat mich immer geliebt.“
„Lass mich los!“
„Weißt du, warum er nicht bei mir blieb, als du weg warst? Weil ich ihn verlassen habe! Er war so erbärmlich, immer am Jammern wegen dir. Ich hatte genug.“
Oksana befreite ihren Arm.
„Und darum erzählst du mir das jetzt? Fünf Jahre sind vergangen, Kira! Er ist verheiratet. Du hast dein Leben. Ich habe meines. Was willst du?“
„Ich will, dass du weißt: Er liebt dich nicht. Nie. Er will nur das Kind.“
In jener Nacht saß Oksana lange am Bett der schlafenden Sofia und betrachtete ihr friedliches Gesicht, das ihrem Vater so ähnlich war. Alles war verwirrend. Sie hatte angenommen, nur kurz zu kommen, ihrer Tante zu helfen und dann wieder zu gehen – ihre kleine Welt bewahrend. Doch die Vergangenheit hatte die Gegenwart eingeholt und forderte Entscheidungen.
Das Telefon vibrierte leise. Pavel. „Ich will, dass du weißt: Was immer du entscheidest, ich bin für dich und Sofia da. Wir schaffen das zusammen.“
Diese einfachen Worte brachten Klarheit in ihr Denken. Die richtige Entscheidung ist immer die, die das Herz trifft – nicht den Groll.
„Ich habe euch hier versammelt, weil wir alle durch eine Geschichte verbunden sind“, erklärte Oksana im Wohnzimmer von Tante Galina. Dort saßen Yuri, Vera, Pavel, Irina Sergeevna und – zu aller Überraschung – Kira, zu der Oksana selbst eingeladen hatte. „Unsere Entscheidungen werden die Zukunft eines unschuldigen kleinen Mädchens bestimmen.“
„Wo ist Sofia?“ fragte Yuri.
„Beim Nachbarn“, erwiderte Oksana. „Ich wollte erst alles erwachsen besprechen.“
Sie wandte sich an Kira:
„Fangen wir damit an, dass ich die Wahrheit kenne. Yuri war seit Jahren nicht mehr in dich verliebt. Du hast versucht, unsere Ehe zu zerstören, weil du eifersüchtig warst. Und gestern hast du gelogen, um wieder alles zu zerstören.“
Kira wurde blass.
„Das kannst du nicht wissen.“
„Doch“, sagte Oksana und spielte ein Gespräch auf ihrem Telefon ab, in dem Kiras ehemalige Kollegin erzählte, wie sie jahrelang neidisch auf ihr Glück war und die Familie zu zerstören versuchte.
„Ich denke, es ist besser, wenn du gehst“, sagte Oksana ruhig. „Wir haben nichts mehr zu besprechen.“
Nachdem die Tür hinter Kira ins Schloss gefallen war, sprach Oksana weiter:
„Ich habe lange darüber nachgedacht, was für Sofia das Beste ist. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass sie ein Recht darauf hat, ihren Vater zu kennen. Yuri“, wandte sie sich an ihren Ex-Mann, „ich stimme gemeinsamer Sorge zu, aber unter einer Bedingung: Ich werde nicht dauerhaft in diese Stadt zurückziehen.“
„Aber wie dann…“
„Wir finden einen Kompromiss. Sommerferien, Feiertage – Sofia wird Zeit mit dir verbringen. Du kannst uns in Kaliningrad besuchen, wann immer du möchtest. Wir werden einen detaillierten Vertrag aufsetzen.“
Yuri nickte langsam.
„Danke. Das ist mehr, als ich erwartet hatte.“
„Und was uns betrifft“, wandte sie sich an Pavel. „Ich akzeptiere deinen Vorschlag. Aber lass uns nichts überstürzen. Sofia wird genug Veränderungen erleben.“
Pavel drückte ihre Hand.
„Ich habe es nicht eilig. Wir haben das ganze Leben vor uns.“
Irina Sergeevna wischte Tränen weg.
„Ich freue mich so, dass meine Enkelin nun eine vollständige Familie hat. Auch wenn sie ungewöhnlich ist.“
Vera, die neben Yuri saß, fragte leise:
„Wann können wir Sofia offiziell treffen?“
„Morgen“, lächelte Oksana. „Ich werde ihr sagen, dass ihr Vater sie wirklich kennenlernen möchte. Und dass sie jetzt eine große, liebevolle Familie hat.“
Eine Woche später kehrten Oksana und Sofia nach Kaliningrad zurück. Yuri, Vera, Irina Sergeevna und Pavel – der noch länger blieb – verabschiedeten sie am Bahnsteig.
„Tschüss, Papa!“, winkte Sofia aus dem Zugfenster. „Bis bald!“
Yuri lächelte mit tränenerfüllten Augen. Innerhalb von vier Tagen mit seiner Tochter hatte er sich unendlich in sie verliebt, und sie nahm ihn überraschend leicht in ihr Leben auf.
„Oksana“, näherte er sich dem offenen Fenster, „danke dir.“
„Du musst dich nicht bedanken. Ich habe getan, was ich vor fünf Jahren hätte tun sollen.“
„Du hast getan, was du für richtig hieltest. Und das verstehe ich.“
Der Zug setzte sich in Bewegung. Sofia winkte weiter und hielt ihre neue Puppe fest – ein Geschenk von ihrem Vater.
Oksana lehnte sich zurück und schloss die Augen. Was auch immer die Zukunft bringt – zum ersten Mal seit Langem fühlte sie, dass alles so lief, wie es sein sollte. Manchmal muss man zurückgehen, um voranzukommen. Vergebung ist oft ein Geschenk weniger für den Vergebenen als für sich selbst.
Und manchmal ist die Wahrheit, so bitter sie auch sein mag, der einzig wahre Weg zum Glück.