Ein Konzert, eine Prüfung und die wahre Liebe

Die Aufführung schien ewig zu dauern. Der Saal, erfüllt vom Duft starrer Hemdkragen und billigem Seifenwasser, summte vor unterschwelliger Anspannung. Unter dem gelben Schein der Scheinwerfer stand ein siebenjähriges Mädchen auf der Bühne und spielte eine traurige Melodie von Tsyganov auf der Geige. Mit aller Kraft zog sie die Bögen über die Saiten, so sehr, dass es fast unangenehm war, ihr bemühtes Spiel anzusehen.

Artem warf einen Blick auf das Profil seiner frisch angetrauten Ehefrau. Lena saß da, den Kopf auf die Hand gestützt, vollkommen in den Moment versunken. Ihr makelloses Gesicht, das elegante, zurückhaltende Kleid und ein kaum wahrnehmbarer Hauch von Parfüm – sie wirkte wie eine Illustration aus einem Magazin über das Leben erfolgreicher Menschen. Vor drei Monaten hatte er sie geheiratet, verzaubert von ihrer Schönheit und scheinbaren Aufrichtigkeit. Doch innerlich nagte ein Zweifel an ihm: Alles wirkte zu perfekt. Zu sorgfältig gewählte Worte über Wohltätigkeit und allzu passende Emotionen beim Anblick fremden Leids – als wäre es einstudiert.

Den behinderten Kindern brachte er sie nicht aus Altruismus. Es war eine Prüfung – ein Test, ob echte menschliche Gefühle hinter ihrem makellosen Äußeren steckten. Geld hatte er schon lange überwiesen, doch selbst war er nie hier gewesen. Für ihn war Wohltätigkeit eine Sache des Gewissens: Man leistet eine gute Tat und lebt weiter. Nun aber wollte er entdecken, was wirklich in ihr verborgen war. War sie authentisch?

Nach dem Konzert fand eine Tee-Runde statt. Die Kinder, hübsch gekleidet und still, griffen scheu nach Keksen. Lena lächelte, unterhielt sich mit der Betreuerin und zeigte sich sympathisch und höflich. Artem beobachtete sie, fühlte dabei eine unterschwellige Gereiztheit – sie spielte ihre Rolle, wie immer.

Plötzlich bemerkte er, dass sie verschwunden war. Als er sich umsah, fand er sie in einer Ecke des Raumes, auf Hocke neben dem Mädchen mit der Geige. Das Kind hielt den Koffer mit beiden Händen umklammert und starrte auf den Boden. Lena sprach leise mit ihr, ohne die übliche gesellschaftliche Höflichkeit – nur Erschöpfung und eine tiefe, fast schmerzhafte Aufrichtigkeit lag in ihrem Gesicht.

Vorsichtig näherte sich Artem, um nicht aufzufallen. Er hörte Fragmente ihrer Worte im Hintergrundlärm:

„… weißt du, am Anfang ging bei mir auch nichts. Die Finger wollten nicht gehorchen, der Bogen zitterte. Immer hieß es: Halte durch.“

Das Mädchen nickte still, den Blick auf abgetragene Stiefel gerichtet.

„Dann habe ich eines begriffen,“ fuhr Lena fort, berührte behutsam den Geigenkasten: „Du musst nicht für sie spielen. Weder für den Direktor, noch für das Publikum, nicht einmal für den Jungen, der dir gefällt.“

Jetzt erst hob das Kind den Blick.

„Spiel nur für sie,“ klopfte Lena auf den Deckel. „Nur für sie. Sie weiß, wie sehr du Angst hast und wie sehr du dich bemühst. Spiel für die Geige. Alle anderen… dürfen einfach nur zuhören.“

Sie verstummte. In ihren Augen erblickte Artem keine oberflächliche Mitleidsbekundung, sondern etwas anderes – eine harte, schmerzhafte Erkenntnis. Keine Bücher, keine Wohltätigkeitsveranstaltungen hatten sie gelehrt. Nur die Erfahrung. Nur der Schmerz.

Das Mädchen flüsterte kaum hörbar etwas.

„Wegwerfen?“ fragte Lena mit einem plötzlichen Stahlklang in der Stimme. „Nein, niemals. Halte durch. Sei wütend. Weine, wenn du musst, aber gib nicht auf. Wenn du aufgibst, gewinnen sie. Alle, die sagen, dass du es nicht schaffst.“

Sie stand auf, legte einen Moment die Hand auf die Schulter des Mädchens – nicht zur Tröstung, sondern als stille Kraftübergabe – und trat zurück.

Artem blieb wie festgewurzelt stehen. In seinen Ohren hallte: „Sie gewinnen.“ Das war keine floskelhafte Wohltätigkeitsphrase, sondern ein Satz aus einem Kampf. Aus einem Leben, von dem er kaum etwas wusste.

Im Flur erwischte er sie, als sie ihren Mantel anzog.

„Lena“, begann er stockend.

Sie drehte sich um. Ein leichtes, helles Lächeln schwebte über ihr Gesicht. Die Maske war zurück.

„Zeit zu fahren, Liebling? Die Kinder sind doch rührend, oder?“

Er suchte in ihrem Gesicht nach der Frau, die gerade von Kämpfen und Niederlagen gesprochen hatte.

„Ja“, brachte er hervor. „Lass uns gehen.“

Im Auto herrschte Schweigen. Sie starrte aus dem Fenster auf die vorbeiziehenden Lichter; Artem verzichtete auf Musik. Die Prüfung war bestanden, doch statt Erleichterung empfand er eine seltsame Leere. Er hatte erkannt, dass sie wirklich war — doch diese Wahrheit gehörte dem Saal, dem Mädchen und nicht ihm.

Er hatte ein Bild gekauft, hinter dem sich eine Abgrunderöffnung verbarg, eine Tiefe, die er weder messen noch umfassen konnte. Nun musste er mit der Erkenntnis leben, dass die Prüfung die wahre Lena enthüllte – sie war nicht das Ideal, sondern das unverfälschte Selbst. Und das ängstigte ihn mehr als jede Enttäuschung.

Die Fahrt glitt durch die nächtlichen Straßen der Stadt. Die Stille im Wagen war dicht wie Pech. Jedes Geräusch – Gangwechsel, Reifenrauschen – erschien überdeutlich.

Versteckt warf er einen Blick auf Lena. Ihr Spiegelbild im Fenster wirkte fremd. Die Erschöpfung vom Saal war verschwunden, ebenso die gewöhnliche Maske des Mitgefühls. Nur Leere blieb.

„Spiel für die Geige. Und alle anderen… sollen einfach nur zuhören.“

„Wenn du aufgibst, gewinnen sie.“

Diese Worte drehten sich in seinem Kopf, entstanden zu einem beunruhigenden Puzzle. Wer waren „sie“? Wer konnte dieser eleganten Frau – umgeben von Krawatten und Empfängen lebend – sagen, dass sie es nicht schaffen würde?

„Danke, dass du mitgefahren bist“, sagte er schließlich mit einer fremden, hölzernen Stimme. „Das bedeutet mir viel.“

„Natürlich, Liebling“, erwiderte sie, drehte sich um; die Maske fürsorglicher Zuneigung saß sofort wieder. „Die armen Kinder, sie brauchen solche Unterstützung. Wir sollten ihnen Kleidung oder Spielzeug bringen…“

Er biss die Zähne zusammen. Noch immer der Wohltätigkeitsjargon – das Einzige, was er einst für ihr Wesen hielt. Nun wusste er es besser.

  • Das Mädchen mit der Geige hieß Katja.
  • Lena sprach mit ihr auf eine Weise, die echt wirkte.
  • Es war eine Verbindung, die tief unter der Oberfläche lag.

„Du hast wirklich mit ihr gesprochen,“ wagte er auszuprobieren. „Hast du Erfahrung?“

Ein schrilles, kurzes Lachen entfuhr ihr:

„Gott bewahre! Als Kind musste ich Geige spielen. Ich habe sie gehasst – jede Minute. Meine Eltern sagten, das sei ,kulturell nötig‘.“

Doch Artem erinnerte sich an ihr Funkeln in den Augen, an die unverkennbare Härte in der Stimme – nicht Ärger, keine unbedeutenden Erinnerungen. Es war ein Hass, geboren aus jahrelangem Druck und Kampf. Ein Hass gegen diejenigen, die sagen: „Du schaffst das nicht.“

Er stellte keine weiteren Fragen. Die Heimfahrt verstrich schweigend. Zu Hause zog Lena sofort ihre Schuhe und ein Armband aus – letzteres rieb ihre Haut wund. Ihre Bewegungen waren präzise, ohne Überfluss. Sie wirkte nicht müde vom Konzert, sondern von allem Leben.

„Ich gehe kurz duschen“, sagte sie und verschwand im Schlafzimmer.

Artem blieb allein im Wohnzimmer zurück. Er trat an die Bar, schenkte sich Whisky ein, doch trank nicht. Stattdessen drehte er das schwere Glas in der Hand, spürte die Kühle des Kristalls. Er hatte seine Antwort erhalten: Seine Frau war keine gefälschte Puppe, angepasst an seine Welt. In ihr steckte Tiefe. Schmerz. Stärke. Doch diese Antwort weckte neue, schärfere Fragen. Wer war sie im Kern? Warum diese Erschöpfung in den Augen? Und weshalb verbergte sie ihre Vergangenheit so sorgfältig?

Er trat zu ihrem antiken Sekretär – ein feines Möbelstück, das sie mitgebracht hatte. Früher hatte er nie hineingeschaut. Nun empfand er es als Aufbewahrungsort einer fremden Wahrheit.

Die obere Schublade stand offen. Darin lagen gewöhnliche Dinge: ein Notizbuch mit Goldschnitt, Stifte, Lippenstift. In der Ecke entdeckte er ein abgenutztes Foto. Er zog es heraus.

Darauf war ein jugendliches Mädchen in einem abgetragenen Kleid mit schmalen Knien und engem Zopf zu sehen. Sie umarmte ein anderes Mädchen vor einem bekannten Backsteingebäude. Ihr Gesicht wirkte ernst, gezeichnet, aber in den Augen blitzte die Härte, die er im Saal gesehen hatte.

Auf der Rückseite stand in krakeligem Schriftzug: „Lena und Mashka. 16 Jahre. Hals und Beinbruch.“

Plötzlich klingelte das Telefon. Artem zuckte zusammen. Auf dem Display erschien „Mashka“.

Im Badezimmer war das Wasser zu hören, wie es zugedreht wurde. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Schnell steckte er das Foto zurück, schloss die Schublade und ging zum Fenster, nahm einen Schluck Whisky, während seine Hand zitterte.

Lena trat in Bademantel, das Handtuch um den Kopf gewickelt, ins Zimmer.

„Du hattest einen Anruf“, sagte er ohne sich umzudrehen.

„Danke“, antwortete sie und nahm das Telefon. Dann eine Pause.

„Hallo?“ Ihre Stimme veränderte sich: ruhiger, einfacher, ohne den üblichen gesellschaftlichen Glanz. Sie klang wie in dem Saal mit dem Mädchen.

Artem stand am Fenster, sah sein Spiegelbild im dunklen Glas und die Lichter der Stadt dahinter. Er suchte nach Ehrlichkeit – und fand sie. Trotzdem war ihm bewusst: Seine Ehe war wie diese Geige. Und er selbst saß im Publikum. Liebe, Geld, seine Welt – alles war Teil von „denen“. Denen, die man nicht zu nah an sich heranlassen durfte. Die man überdauern, aushalten und besiegen musste.

Ohne einzusehen hörte er jedes Wort, während Lena ins Schlafzimmer ging und ihr Ton gedämpft, aber unverändert im ehrlichen Klang blieb.

„Ja, ich war dort… Nein, nichts Besonderes… Nur ein weiterer Test… Wahrscheinlich denkt er, er hat mir nicht nur eine Frau, sondern eine edle Seele gekauft…“ Jedes ihrer Worte schnitt scharf. „Nein, alles in Ordnung. Katja? Ja, ich habe sie gesehen… Ein paar Worte gesagt…“

Pause, ein leiser, unterdrückter Seufzer.

„Ich weiß, Mash… Ich weiß, dass ich mich verkauft habe. Aber du verstehst doch, warum… Noch ein bisschen – dann können wir sie zu uns holen… Ja, der Vertrag ist fast fertig… Halte durch, okay? So, wie wir immer durchgehalten haben.“

Artem schloss die Augen. Das Bild wurde kristallklar. Es war nicht die Erzählung einer Waise, die ins Licht kam. Es war eine Geschichte von Vereinbarungen, von Kalkül. Aber nicht aus Gier. Aus Liebe. Für das Kind. Für Katja.

Er hörte, wie sie auflegte. Stille. Dann Schritte, als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte.

„Artem, alles in Ordnung?“

Langsam wandte er sich um. Sie stand in einem Seidenbademantel, das nasse Haar locker. Ihre Augen blickten nicht wie eine Ehefrau, sondern wie eine Person, die zu lange eine andere Rolle gespielt hatte und nun auf ihre Enthüllung wartete.

„Wer ist Mashka?“ fragte er ohne weitere Kraft zum Verstellen.

Sie schaute ihm direkt in die Augen, schwieg nicht, log nicht.

„Meine Schwester. Wir sind im selben Waisenhaus aufgewachsen. Sie lebt in einer anderen Stadt.“

„Und Katja?“

Lena sah ihn an. In ihren Augen lag nicht Furcht, sondern eine Herausforderung.

„Meine Nichte. Mashkas Tochter. Meine Schwester kann sie nicht holen – es gibt keine Voraussetzungen. Aber hier…“ Sie machte eine einladende Geste in den prächtigen Salon, „gibt es welche. Ich habe mit einem Anwalt gesprochen. Wenn ich Vormund werde und wir sie später adoptieren, zieht sie legal zu uns.“

Artem schwieg. Seine Prüfung war zu einem Urteil über ihn selbst geworden.

„Warum hast du das nicht gleich gesagt?“

„Wie hätte das ausgesehen? Beim dritten Treffen zu sagen: ,Hallo, ich bin ehemalige Waise und muss meine Nichte in einer reichen Familie unterbringen‘? Du wärst einfach verschwunden. Dieser Weg hier… hat funktioniert.“

Sie sprach ohne Verbitterung, ohne Vorwürfe. Nur als Feststellung. Und er wusste: Sie hatte Recht. Er hätte den Kontakt abgebrochen.

„Und?“, fragte Lena mit harter Miene, wie im Saal. „Bin ich durchgefallen? Bin ich nicht die gute Seele, die du gesucht hast? Bin ich eine berechnende Abenteurerin, die dich und dein Geld ausnutzt?“

Er trat näher, sah ihr tief in die Augen, in denen sich ein ganzes Leben spiegelte – Schmerz, Kampf, Überleben. Er suchte nach Aufrichtigkeit und fand die Wahrheit. Unbequem, hart, echt.

„Nein“, sagte er leise. „Der Test ist bestanden. Heute im Saal… da warst du echt.“

Ein Zittern huschte über ihre Lippen. Für einen Moment brach die Rüstung.

„Ich will nicht zu ,denen‘ gehören, Lena“, sagte er. „Nicht der Teil sein, der besiegt werden muss.“

Sie sah ihn an, verwirrt.

„Morgen“, atmete er tief durch, „fahren wir wieder dorthin. Wir lernen Katja richtig kennen. Nicht als Wohltäter. Sag deiner Schwester, sie soll kommen. Wir reden alles durch. Zusammen. Wie eine Familie.“

Er umarmte sie nicht, sprach keine schönen Worte. Er drehte sich um und verließ das Zimmer, ließ sie alleine in dem stillen, großen Salon.

Am nächsten Morgen bestellte er eine große Torte und kaufte keinen Puppe oder ein Kleid – sondern einen guten Bogen. Einen echten.

Zurück im Heim nahm Lena Katja an die Hand. Ihr Lächeln war nicht perfekt. Es war unregelmäßig, müde, angespannt.

Aber es war aufrichtig.

Artem sah ihnen zu und wusste: Seine Prüfung war vorüber.

Nun begann etwas Größeres.

Vielleicht endlich eine echte Ehe.