„Lass mich los! Hör auf! Bitte!“ – ein panischer Schrei durchschnitt die Stille über dem Fluss, verlor sich jedoch bald in der dicken, schwerflüssigen Hitze, die schwer wie Honig in der Luft lag. Die drückende Sommerglut hatte die Gräser niedergebogen, die Vögel zum Schweigen gebracht und selbst die Geräusche verklingen lassen, während sie das herzzerreißende Flehen scheinbar einfach ignorierte. Nur das dünne, quälende Zirpen von Mücken vibrierte unaufhörlich im dichten Schilf am Wasser, begleitet von dem Zirpen der Heuschrecken am Wegesrand – als wäre nichts geschehen.
Allein der alte, mageren und kahlköpfige Hund der alten Martha, genannt Barboss, der am Wasser nach Abkühlung suchte, erstarrte plötzlich. Seine Ohren zogen sich spitz zusammen, sein ergrautes Gesicht wandte sich der ausladenden, alten Weide zu, und er trabte entschlossen in die Richtung, aus der ihm ein leidvoller und ängstlicher Ruf zu kommen schien. Trotz seines Alters und fast tauben Gehörs, sowie der durch Katarakt trüben Augen, lag keine Täuschung vor – sein gebeuteltes Herz, das stets auf Freundlichkeit reagierte, hatte den Hilferuf erkannt.
Alte Martha hätte sich sicherlich gewundert, ihren schwachen, ständig hungrigen und zotteligen treuen Gefährten jetzt so zu sehen. Statt des üblichen tapsigen Dackels stand dort ein unbeugsamer Kämpfer, das Fell an seinem ausgemergelten Nacken sträubte sich, die Zähne blitzen. Er schien bereit, jeden Herausforderer gnadenlos zu stellen, ganz gleich, wie der Kampf ausgehen würde. In seinen trüben Augen brannte ein Funke, der seit Jahren nicht mehr aufflackerte.
Barboss senkte den Kopf und gab ein tiefes, vibrierendes Knurren von sich, das mehr wie ein Todeskeuchen klang, um dem unsichtbaren Gegner zu signalisieren, dass er es ernst meinte. Eine helle Bewegung huschte zwischen den Büschen am Wasser, dann war es still. Zu schnell und unnatürlich still.
Der Hund schnupperte vorsichtig, obwohl sein Alterssinn kaum mehr hilfreich war, und schlich über die erhitzte Erde auf ein kleines, buntes Stück Stoff inmitten der hohen Gräser zu. Das grelle Licht der Sonne blendete ihn, doch getrieben von einer unbekannten inneren Stimme setzte er unbeirrt seinen Weg fort.
Als er näher kam, erkannte Barboss, dass es kein gewöhnliches Stofffetzen war, sondern ein leichter Sommerkleidchen aus Baumwolle mit kleinen Blumenmustern. Dieses Kleid war ihm so vertraut – es rührte ihn bis ins Mark. Der Hund begann kläglich zu winseln, setzte sich auf die Hinterbeine, hob die Schnauze zum unerbittlich brennenden Sonnenlicht und jaulte verzweifelt. Er rief um Hilfe, für jene, die ihn damals heimlich mit Kuchenstücken versorgte, zärtlich streichelte und mit liebevollen Worten bedachte, die er damals kaum kannte. Jetzt brauchte dieses Mädchen seine Hilfe mehr denn je. Das Mädchen mit den Augen, so leuchtend wie Vergissmeinnicht.
Unterdessen kehrte Artem auf einem Umweg vom Stadtausflug entlang des Flussufers zurück. In seinen Händen hielt er stolz einen kräftigen Haselnussast, den er auf dem Weg mit kindlichem Eifer einige Disteln vom Weg schlug. Auf seinen Lippen lag ein unbeschwertes Lächeln, während sich in seiner Hosentasche eine kleine, samtige Schachtel fand, die gleichzeitig Wärme und Beklemmung hervorrief. Darin befanden sich zwei Ringe – einer schlicht, aus Weißgold, der andere filigran mit einem winzigen funkelnden Diamanten, der in der Sonne in allen Farben schimmerte.
Dieses zarte Schmuckstück hatte Lika sofort begeistert. Beim gemeinsamen Schaufensterbummel drehte sie den Ring bewundernd zwischen den Fingern, probierte ihn zaghaft am schlanken Ringfinger und seufzte erfüllt, bevor sie den Ring vorsichtig zurück auf das samtige Kissen legte.
- „Gefällt es dir?“ – fragte Artem voller Hoffnung, als er ihr strahlendes Gesicht betrachtete.
- „Sehr. Es ist wunderschön. Aber auch das andere ist nicht schlecht“, antwortete Lika und deutete auf den schlichteren Ring.
- „Der ist doch so einfach, ohne Schmuck“, entgegnete Artem etwas mürrisch.
- „Ist das denn wichtig? Kommt es auf den Ring an? Darauf, was er zeigt?“
Mit jener Kindheitslächeln wandte sie sich ihm zu – die gleiche sanfte, strahlende Mimik, die auf all ihren Bildern zu sehen war: im Kindergarten neben dem ernsten Artem, in der Schule, auf dem Abschlussfoto.
Doch für Artem waren diese schönen Momente auch von Ängsten begleitet. Er fürchtete, Lika könnte ihn verlassen, sich in der großen Welt verlieren und zurückkehren müsse er einsam und verlassen in seinem kleinen Dorf leben. Für ihn war Lika die Einzige, die er bedingungslos liebte – sein Leben schien mit ihr verwoben wie ein Wurzelwerk untrennbar verbunden, und eine Trennung undenkbar.
Die Dorfbewohner erwarteten ihre Hochzeit als sichere Zukunft – doch eines Tages setzte Lika sich durch:
„Ich werde in die Stadt gehen, um zu studieren!“ – erklärte sie entschlossen, als sie mit Artem am Fluss spazieren ging.
„Warum brauchst du das? Hier haben wir alles: Arbeit, Zuhause, Unterstützung von unseren Eltern!“
„Weil es richtig ist! Damit niemand sagen kann, ich sei eine ungebildete Dorfkind!“
Diese Worte waren für Artem schwer zu verstehen, doch er wusste, dass sie es ernst meinte. Am Bahnhof verabschiedete sie sich liebevoll und bat ihn zu warten. Niemand glaubte wirklich daran, dass sie zurückkehren würde – nicht einmal ihre Mutter, die heimlich Hoffnungen hegte, dass sie in der Stadt vielleicht einen besseren Weg finden würde.
Doch Lika kehrte wirklich zurück. Sie nahm eine Stelle als Lehrerin an der Dorfschule an und stellte die Frage an Artem mit ihrem glücklichsten Lächeln:
„Wirst du mich nun endlich heiraten oder sollen wir weiter warten?“
Das Haus, das Artem und sein Vater nach dem Militärdienst zu bauen begannen, war fast fertig. Sogar Likas Mutter äußerte kein Wort gegen die Verbindung, als die Brautleute mit ihren Eltern zum Fehlen kamen.
Die Mutter warnte ihren zukünftigen Schwiegersohn streng, ihre Tochter wie ein kostbares Juwel zu behüten – Worte, denen Artem ohne ein Wort zu erwidern zustimmte. In seinem Herzen gab es keinen Zweifel, dass er niemals jemanden verletzen könnte, ohne denjenigen, der ihm wie die Luft zum Atmen war.
Am Wegesrand wuchsen wilde Gänseblümchen – vielleicht kein teures Geschenk, aber Artem wusste genau, wie sehr Lika diese kleinen, sonnigen Blumen liebte. Sie saßen oft unter der alten Weide am Flussufer, wo sie ihr liebstes Spiel spielten:
- „Liebst du mich?“- kraute sie ausgelassen Blütenblätter
- „Ist es wahr oder nicht?“ – und Artem antwortete ihr immer liebevoll.
Gerade als Artem sich bücken wollte, um das nächste perfekte Gänseblümchen zu pflücken, hörte er den herzzerreißenden Heulton von Barboss. Er erstarrte, die Blumen fielen vom Strauß zu Boden und hingen schlaff und zerstreut.
Einmal zuvor hatte Artem solch einen verzweifelten Hundeschrei erlebt: Als ihr Nachbar eingeschlafen und seine Hütte in Brand geraten war. Dessen angesehener Hund hatte an der Kette gekeucht, gekächelt und schließlich geheult. Das brach allen Anwohnern das Herz. Artems Vater hatte damals den Nachbarn gerettet, trotz ihres zerbrochenen Verhältnisses wegen Alkoholproblemen – denn wenn ein Mensch in Not ist, darf man nicht wegsehen.
Jetzt spürte Artem instinktiv, dass etwas Erdschütterndes geschehen war. Nur ein alter Hund heult nicht aus Langeweile.
In wenigen Augenblicken erreichte er die Stelle, wo Barboss zwischen den dornigen Büschen wütete. Der alte Hund stellte sich bedrohlich, weigerte sich, näher an die am Boden liegende Gestalt heranzukommen. Artem fiel auf die Knie, ignorierte den bellenden Hund und drehte das Mädchen behutsam auf den Rücken. Sein Herz zog sich eisig zusammen. Es war Jana, die Tochter der Nachbarin Katerina – ein lebhaftes und gutherziges Mädchen, das von allen Tieren und Menschen des Dorfes geliebt wurde.
Sie nannten Jana „Weide“ wegen ihres schlanken, biegsamen Körpers und ihrer sanften Art. Sie empfand stets Mitgefühl für andere und war unfähig, jemandem böse zu sein.
„Jana! Liebes, was ist passiert?“ – Artems Stimme zitterte, als sie die Augen öffnete. In ihnen lag eine wortlose, tierische Angst, die ihm körperlich zusetzte. Sie schrie auf – jener markerschütternde Laut, der die gefährliche Stille zerriss.
Barboss jaulte wieder auf und stürmte nun mit wütendem Gebrüll auf Artem los, ohne zwischen Freund oder Feind zu unterscheiden, sondern nur den Feind des Mädchens sehen.
„Barboss, nein! Zu mir!“ – Artem befahl und wich zurück, während er Jana losließ. Das Mädchen verbarg ihr Gesicht in zitternden Händen und brach in schalllose Krämpfe aus.
„Jana, mein Schatz! Was ist nur mit dir? Ich bin es, Artem! Sieh mich an, wer hat dir was getan? Was ist geschehen?“
Sie wurde plötzlich schlaff und fiel ohnmächtig in seine Arme. Artem hob sie vorsichtig auf, stolperte über Unebenheiten und eilte zum Haus von Martha Potapowna. Dort suchte er verzweifelt nach Hilfe.
Die alte Dame, gebrechlich, doch entschlossen, eilte trotz ihres Hinkens zu ihm, als sie die bewusstlose Jana in seinen Armen sah. Sofort befahl sie ihrem Enkel, den Feldscher Semenowitsch zu holen. Artem breitete Jana in Marthas kühlem Zimmer aus, als das Mädchen erneut die Augen öffnete und mit neuer Angst schrie.
Die alte Martha tröstete sie mit kräftiger Stimme und streichelte beruhigend den Rücken des zitternden Kindes:
„Ruhe, mein Schatz, ich bin bei dir. Niemand wird dir mehr wehtun. Wer war das? Sag es der alten Martha.“
Janas Blick, voller unbewusster Furcht, traf Artems und erschreckte sogar die resolute Martha. Jana flüchtete in eine Ecke, eingehüllt in weiße Kissen wie in einen Schleier.
Artem wich zurück, stieß gegen einen Tisch, und das Scheppern der Tassen holte ihn zurück in die Realität.
„Ich war es nicht, Jana! Wirklich nicht! Schwöre es bei allem!“, beteuerte Artem verzweifelt.
„Hör auf mit den Ausreden, Narr! Ich glaube dir“, schnaufte Martha, legte eine schwere Hand auf Jana und sagte streng:
„Es musste sein.“
Ein lauter Klaps beendete Janas Weinkrämpfe. Sie kauerte sich, weinte leise und klammerte sich an Marthas Hand, ohne Artem anzusehen.
Plötzlich stürmte Katerina herein, schüttelte ihre Tochter und fragte mit Angst:
„Mein Kind! Wer hat dir das angetan? Sag mir den Namen!“
Jana schüttelte nur den Kopf, schluchzend. Katerinas Gesicht verfinsterte sich, sie drehte sich zu Artem und fragte leise:
„Du?“
Martha stoppte den verwirrten jungen Mann und sagte bestimmt:
„Geh, Artem. Frische Luft holen. Wir regeln das hier.“
Während Artem draußen saß und gedankenverloren auf die Sonne blickte, versammelten sich Nachbarn im Hof. Seine Mutter gesellte sich besorgt zu ihm:
„Sohn, was ist denn passiert? Man sagt, Jana sei verletzt worden und sie beschuldigen dich.“
Bevor er antworten konnte, rief Semenowitsch ihn herein, um die Ereignisse noch einmal durchzusprechen.
Jana saß still mit ihrer Mutter, die sie tröstete. Sie erinnerte sich an nichts, als befände sie sich in einem dichten Nebel. Ihr Lieblingsplatz am Fluss, unter der schattigen Weide, war doch der Ort, an dem sie träumen und Ruhe finden konnte. Die zarten, biegsamen Zweige erinnerten sie an sich selbst – schwach und gleichzeitig stark.
Plötzlich betrat Lika den Raum. Ihre Blicke trafen sich, und Artem spürte erneut die schwere Last des Moments. Wer hatte ihr schon etwas erzählt? Wem würde sie glauben?
Statt zu sprechen, nahm Lika Janas Hände in ihre und fragte sanft, aber bestimmt:
„Arisha, mein Herz, was erinnerst du dich? Irgendetwas?“
Jana gab keine Antwort. Lika fragte weiter, ob der Angreifer alt gewesen sei. Die Antwort lautete entschlossen „Nein“. Sie beschrieb ihn als jungen Mann in einem dunklen Hemd, oder doch nicht? Nur schwache Erinnerungen verblassten wie im Dunkeln.
Martha deutete auf Artems blaue Hemd, das inzwischen von Schweiß durchtränkt war.
Lika wandte sich tiefgründig an Jana:
„War es Artem? Bist du sicher?“
Jana schüttelte den Kopf, der Raum schweigte. Ein leises Flüstern ertönte:
„Nein… nicht er…“
Szene für Szene setzten sich Fragmente der Erinnerung zusammen. Janas Erinnerung war bruchstückhaft, ähnlich einer zerschlagenen Schallplatte. Die Spannung war greifbar, Katerina saß neben ihr gequält, voller Angst. Wer kann so etwas auf sich nehmen? Wer kann ein unschuldiges Kind so verletzen?
Lika ergriff Jana und half ihr aufzustehen, sprach beruhigend und stellte wichtige Fragen. Jana beschrieb einen eigenartigen süßlich-schweren Duft, wie in der Kirche – nach Weihrauch.
Es folgte eine schnelle Aktion: Zusammen mit dem Feldscher und dem örtlichen Polizisten machten sie sich auf den Weg zu weiteren Ermittlungen. Lika führte Artem zur Tür, flüsterte ihm, dass er bleiben solle, für ihn sei die Stunde noch nicht gekommen.
Nachdem sie mit den Nachbarn sprachen, brachte Lika Artem zurück und setzte sich mit ihm auf die Treppe.
Wichtige Erkenntnis:
„Bleib ruhig, Artem“, sagte sie ernst. „Jana ist ein Kind, sie hat viel Angst gehabt und vielleicht eine Gehirnerschütterung erfahren. Das kann Gedächtnislücken verursachen.“
Sie deutete auf einen aus Kislowodsk mitgebrachten Duft mit süßlichem Weihrauchgeruch und erklärte, dass Artems Mutter dieses Parfüm besorgt hatte. Sofort bildete sich im Kopf von Artem das wahre Bild, wogegen sie sich schützen musste.
Der Täter war Maxim, Janas Cousin, der sich unter Alkoholeinfluss unverständlich veränderte. Zum Glück konnte er nichts Schlimmeres anrichten und wurde von den Behörden bald abgeholt.
Artem senkte erschöpft den Kopf – zwischen Wut, Trauer und Erleichterung. Lika legte ihm liebevoll den Ring an den Finger, der Diamant funkelte im letzten Sonnenlicht, und sie flüsterte ihm dankbar zu, ein Moment voller Liebe und Vertrauen trotz der düsteren Ereignisse.
Sie blieben noch lange so beisammen, die nächtliche Ruhe kehrte langsam zurück, während draußen das Leben sich wieder normalisierte. Das Dorf hatte eine schwere Prüfung überstanden, doch die Gemeinschaft und Liebe blieben bestehen.
Dieses ergreifende Geschehen unter der alten Weide erinnert uns daran, wie zerbrechlich das Leben ist, wie wichtig Vertrauen und Zusammenhalt in schweren Zeiten sind. Inmitten von Angst und Verzweiflung finden Fürsorge und Liebe ihren Weg und geben Kraft, um Herausforderungen zu überwinden und gemeinsam in die Zukunft zu blicken.