Das Vermächtnis der sterbenden Hexe: Ein unheilvoller Geschenk

Ein Anruf meiner Tante erreichte mich mitten im Arbeitstag und riss mich aus dem eintönigen Summen des Büros, in dem die Zeit verlief wie ein alter, undicht laufender Wasserhahn. Am Schreibtisch sitzend, blätterte ich durch endlose Berichte, als mein sonst so stilles Handy vibrieren begann, so beharrlich, als wolle es meine Gleichgültigkeit durchbrechen. „Danila, du musst kommen. Großmutter Melanja geht es ganz schlecht. Sie wird die Nacht nicht überstehen“, sagte die Stimme meiner Tante Klawdia, deren Stimme bebte wie eine Saite auf einer zerbrochenen Gitarre. Ich starrte schweigend auf die von der Klimaanlage bewegte Kunststoffpalme in der Ecke. Ihre künstlichen, leb- und sehnsuchtslosen Blätter erinnerten mich an das Haus – ebenso unecht, innerlich ebenso leer.

In meinem Kopf formten sich blitzschnell etliche Gründe, um nicht zu fahren. Mein Großvater war gestorben, als ich sieben war, meine Eltern kamen bei einem Unfall ein Jahr später ums Leben. Und Großmutter Melanja… Sie hatte bei ihrer Beerdigung nicht geweint. Stumm und unbewegt stand sie da wie ein schwarzer Obelisk und murmelte: „Schwäche ist Sünde.“ Dann nahm sie meine Hand und führte mich in ein Haus, das nach Wachs und Verfall roch.

„Sie ruft nach dir“, flüsterte Klawdia leise ins Telefon, als könne sie meine Gedanken lesen. „Nur dein Name klingt in ihren Lippen. Sie liegt da und starrt an die Decke, als sei etwas dahinter zu sehen… und ruft: ‚Daniluschka… Daniluschka…‘“

Diese Worte trafen mich direkt ins Herz. Nicht aus Liebe, auch nicht aus Pflichtbewusstsein, sondern aus einer Mischung aus primitivem Groll und neugieriger Aufregung. Ich wollte sie schwach erleben, wollte sehen, wie die schwarzen Brunnen ihrer Augen, in denen ich seit Kindheit ertrank, endlich erblassten.

“Wahrheit verschlingt oft harsche Ängste – Großmutter Melanja wollte mich genau das lehren.”

Eine Erinnerung schlug zu wie eine Axt ins verfaulte Holz: Ich war sieben Jahre alt und wir verbrachten eine Woche bei der Großmutter. Unabsichtlich zerbrach ich ihre kostbare, blaue Porzellantasse mit goldenem Rand, ein Geschenk des Großvaters. Sie schrie nicht. Auch keine Strafe folgte. Stattdessen packte sie mein Handgelenk so fest, dass die Knochen knackten, und zog mich in den Keller. Dort roch es faulig nach Kartoffeln und Mäusekot. Die Tür schlug zu, Dunkelheit umfing mich, während sie durch den Spalt flüsterte: „Bleib da, lass die Angst deine Lügen fressen.“ Ich schrie heiser, weinte, betete. Als mich die Tür endlich wieder frei gab, stand sie unbewegt da, wie eine Statue, mit einem Blick voller Satisfaktion, keineswegs Zorn.

Ich hatte mir frei genommen unter dem Vorwand dringender Familienangelegenheiten. Während ich in der Pendlerbahn saß und nervös am Knie zupfte, erinnerte ich mich daran, wie meine Mutter mich vor ihrem Tod festhielt und wisperte: „Sie ist anders, aber glaube nicht an ihre Worte, glaube mir.“ Dann trug mich ein knarzender, staubiger Bus in die Vergangenheit. Vorbei an Feldern, die wie ausgebleichte Tapeten erschienen, und Bäumen, deren knorrige Äste zum Himmel ragten wie knochige Finger.

Das Dorf empfing mich mit bedrückendem Schweigen. Die Häuser, umrankt von Efeu und Vergessenheit, blickten mit dunklen Fenstern auf mich. An einem Haus war die Tür weit geöffnet, wie eine klaffende Wunde. An einem anderen hing ein rostiges Fahrrad, überwachsen von Gras. Das Haus der Großmutter, schwarz vom Regen und von der Zeit gezeichnet, stand am Rand einer Schlucht. Sein Dach war durchgebogen wie der Rücken eines alten Pferdes, und vernagelte Fenster sahen aus wie Narben.

Tante Klawdia erwartete mich auf der Veranda. Ihr schmaler, papierdünner Gesichtsausdruck wirkte erschöpft, die Angst hinter ihrem Lächeln kaum verhohlen.

„Es ist längst Zeit“, flüsterte sie und umarmte mich. Ihr Kleid roch nach Zwiebeln und Krankheit. „Sie hat gewartet.“

Im Inneren summte das Haus wie ein Bienenstock. Feuchtigkeit, Moder, Geruch alter Bücher und etwas süßlich-Verfaultes, das sich mir an die Kehle klammerte. Die Großmutter lag auf dem Bett, halb in Kissen versunken. Ihr Gesicht sah aus wie eine Wachsmaske – die Haut straff über den Knochen gespannt, ihre Augen jedoch brannten wie schwarze, bodenlose Abgründe.

„Du bist gekommen…“ keuchte sie. Kälte lag in ihrer Stimme, keine Wärme. Nur eine eisige Gewissheit. „Ich wusste, dass du kommen würdest.“

Ich setzte mich auf einen Stuhl neben dem Bett. Die Luft war schwer und harzig, jeder Atemzug schien von ihrem Willen getränkt. Um nicht zu ersticken, fragte ich leise:

„Tante Klawdia, soll ich auf dem Dachboden aufräumen? Hier sitzt es sich ja nicht gut.“

Sie wedelte ab, als wolle sie eine lästige Fliege vertreiben: „Mach, was du willst. Aber weck sie bloß nicht auf.“

“Der Dachboden war ein Reich der Schatten, voller vergessener Dinge und Geheimnisse.”

Der Dachboden zeigte sich als ein Reich der Schatten. Eine dicke Staubschicht verhinderte, dass meine Fußspuren sichtbar wurden, wie Pflugfurchen im Feld. Das schwache Licht drang durch das verstaubte Fenster und erhellte feine Spinnweben, kunstvoll geformt wie Spitzen. Alte Truhen, verrostete Werkzeuge, Bündel getrockneter Kräuter und in einer Ecke eine Puppe mit abgerissenen Kopf – ihre Porzellanarme flehten um Gnade.

Ich öffnete eine Truhe. Darunter lag ein Album, bedeckt mit vergilbten Spitzen. Darin Fotografien von Menschen in schwarzen Kleidern und Anzügen, deren Augen ausgeschnitten, mit Harz übergossen oder mit Papier verklebt waren. Unter einem stand: „Lachte über meinen Schmerz. Jetzt schweigt sie.“ Unter einem anderen: „Nahm meine Liebe. Gab Schmerz zurück.“

Doch ein Bild ließ mich erzittern: Eine junge Frau mit meinen Augen – meine Mutter. Auch ihre Augen waren ausgeschnitten, mit der Beschriftung: „Tochter. Schwach. Verlassen mich.“

Atemlos rannte ich mit dem Album ins Freie. Der Wind raschelte in den Blättern, als flüsterten Geister. Ich erinnerte mich an die letzten Worte meiner Mutter am Tag ihres Todes: „Wenn ich gehe, lass nicht zu, dass sie dein Licht löscht.“

In der Nacht erschien mir ein Traum. Ich stand auf einem Feld, das nicht von Ähren bedeckt war, sondern von Knochen. Der Himmel blutrot getrocknet. Aus der Erde krochen Menschen mit hohlen Augenhöhlen. Ihre ausgestreckten Hände trugen Brandzeichen mit den Worten: „Nimm an. Werde stark.“

Ich erwachte schweißgebadet. Es roch nach Ozon im Zimmer. An der Wand über meinem Bett zeichnete sich die Umrissfigur eines großen Mannes in schwarzem Frack ab. Kein Gesicht, keine Augen.

Die darauffolgenden Tage verbrachte ich in einem Albtraum. Die Großmutter starb nicht. Wie eine Spinne im Netz lag sie reglos da und murmelte Zaubersprüche. Tante Klawdia bewegte sich zitternd durch das Haus und wagte kaum einen Ton. Doch das Haus hatte sein eigenes Leben. Messer auf dem Tisch schienen auf mich gerichtet. Fremde Gesichter spiegelten sich im Spiegel.

Eines Tages erwischte ich Klawdia, wie sie zitternd eines der Dachfenster vernagelte:

„Sie darf nicht hinaus“, flüsterte sie. „Auf keinen Fall.“

„Wer denn?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort kannte.

„Du hast doch das Album gesehen“, ihre Finger bohrten sich in meine Hand. „Sie sammelte Seelen. Und will sie an dich weitergeben.“

“Die letzte Stunde brachte die tiefste Prüfung meiner Seele.”

In der letzten Nacht lag ich wach, die Augen weit geöffnet. Plötzlich sprang die Tür auf. Dort stand er – hochgewachsen, gesichtslos, in einem schwarzen Frack wie die Nacht ohne Sterne. Schatten tropften aus seinen leeren Augenhöhlen.

„Es ist Zeit“, flüsterte er. „Die Herrin wartet. Der Erbe muss das Geschenk annehmen.“

Mein Körper gehorchte nicht. Aus den Wänden krochen Schatten – Menschen aus dem Album, durch Leiden gezeichnet. Sie nahmen meine Hände, ihre kalten Finger drangen bis in die Knochen.

Im Zimmer der Großmutter saß sie auf dem Bett, umgeben von schwarzer Flamme. Ihre Augen glühten wie glühende Kohlen.

„Hier, Enkel“, zischte sie und reichte die Hand. „Meine ganze Macht. Sie alle werden deine Sklaven. Du wirst stärker als ich. Sag nur ‘Ja’.“

Die Stimmen in meinem Kopf sagten: „Räche dich an denen, die über dich lachten…“, „Ergründe das, was die Sterne verbergen…“, „Niemand wird dich je wieder brechen können…“

Und dann erinnerte ich mich: keine Worte, sondern das Gefühl. Die Hände meiner Mutter, als sie mir den Kopf streichelte nach dem Begräbnis. Der Duft ihres Haares – Kamille und Regen. Ihre letzte Flüsterung: „Du bist das Licht, Danila. Lass sie es nicht auslöschen.“

„Nein“, hauchte ich.

„NEIN!“, schrie ich, und meine Stimme zersprang wie Glas.

Der Raum wurde von Dunkelheit erfüllt. Der gesichtslose Mann zerfiel zu Asche. Die Schatten schrien auf voller Erleichterung. Die Großmutter blickte mich an, und zum ersten Mal blitzte Angst in ihren Augen auf.

„Narr…“, zischte sie. „Du wirst schwach sterben…“

Ihr Körper zerfiel zu Staub. Ich rannte hinaus in den Wald, bis meine Beine nachgaben. Im Morgengrauen nahm mich ein alter Mann mit einem wettergegerbten Gesicht mit seinen LKW mit.

„Das Haus hat gebrannt?“, fragte er.

Ich nickte.

„Das ist besser so“, sagte er. „In solchen Häusern bleibt die Finsternis selbst nach dem Feuer zurück.”

Wichtiger Einblick: Manchmal ist es nötig, sich der Dunkelheit zu stellen, um das Licht in sich zu bewahren.

Seitdem sind zehn Jahre vergangen. Ich lebe in der Stadt und arbeite in einem Kindergarten. Jeden Tag sehe ich Kinder, die aus Knete Sonnen formen, und ihr Lachen klingt wie kleine Glockenspiele.

Doch nachts, wenn die Stille schwer wie Wasser wird, spüre ich ihn – den gesichtslosen Mann, der in der Ecke steht. Er nähert sich nie, er wartet nur.

Ich fragte einmal einen Psychotherapeuten:

  1. Wie soll man handeln, wenn die Angst ein Teil von dir wird?
  2. Sie antwortete mit einem Lächeln: „Liebe bedeutet nicht, keine Angst zu haben. Es bedeutet, trotz der Angst voranzugehen.“

Nun, wenn die dunkle Gestalt erscheint, schalte ich das Licht an. Ich setze mich ans Klavier, das ich gekauft habe, um Kindern Musik beizubringen, und spiele das Schlaflied, das meine Mutter für mich sang.

Manchmal scheint es, als summte jemand leise mit mir. Wahrscheinlich ist es nur der Wind.

Oder vielleicht auch nicht.

P.S. Das Haus verbrannte vollständig. Doch in der Asche fand sich ein unversehrtes Stück – die Porzellantasse mit goldenem Rand. Man brachte sie zu mir, und ich stellte sie auf die Fensterbank. Jeden Tag stehen darin frische Kamillenblüten.

Abschließend lässt sich sagen, dass die Begegnungen mit der Vergangenheit, so düster sie auch sein mögen, uns darauf vorbereiten, das eigene Licht zu erkennen und zu schützen. Die Geschichte zeigt, wie wichtig es ist, trotz des düsteren Erbes die eigene Stärke und Menschlichkeit zu bewahren.