Anna schloss gerade den letzten Bericht und lehnte sich erschöpft in den Stuhl zurück. Die Position als Finanzdirektorin im Familienunternehmen ihres Vaters erforderte ständige Konzentration. Mit 32 Jahren hatte sie schon beachtliche Erfolge erzielt.
„Papa, ich bin zu Hause“, sagte Anna, als sie das Büro ihres Vaters betrat. „Wir besprechen morgen die neuen Investitionen.“
„Natürlich, meine Kleine“, erwiderte ihr Vater, während er die Papiere zur Seite legte. „Grüß Alex von mir. Wann kommt ihr wieder zum Wochenendhaus?“
„Am Wochenende sicher“, lächelte Anna. „Alex hat versprochen, dir bei der Gewächshausarbeit zu helfen.“
Der Heimweg dauerte ungefähr eine halbe Stunde. Anna parkte ihr neues Auto auf dem Hof und ging die Treppe zum oberen Stock. Sie hatte die geräumige Dreizimmerwohnung bereits vor der Hochzeit gekauft. Hohe Decken, weite Fenster und großzügige Räume: alles strahlte Gemütlichkeit und familiäres Glück nach vier Jahren Ehe aus.
„Alex, ich bin zu Hause!“, rief Anna, während sie im Flur ihre Schuhe auszog.
„Ich bin in der Küche!“, antwortete ihr Ehemann. „Das Abendessen ist fast fertig.“
Alex stand am Herd und rührte in einer Pfanne. Als mittlerer Manager war sein Gehalt bescheiden, doch das störte Anna nie. Die Hausarbeit teilten sie gerecht auf.
„Wie läuft es bei der Arbeit?“, umarmte Anna ihren Mann von hinten.
„Wie üblich Trubel“, drehte sich Alex zu ihr um. „Und wie läuft das Projekt mit den neuen Partnern?“
„Wir arbeiten gerade an den Unterlagen“, setzte Anna sich an den Küchentisch. „Hat deine Mutter angerufen?“
„Ja, nach dem Mittagessen“, deckte Alex die Teller. „Es geht ihr gut. Sie erzählte von den Nachbarn und beschwerte sich über das Wetter. Du weißt doch, ihr Geburtstag steht bald an.“
„Natürlich erinnere ich mich. Sechzig Jahre – ein bedeutender Tag. Wir müssen uns etwas Besonderes für das Geschenk überlegen.“
Am Wochenende fuhren sie häufig zum Landhaus, das Anna von ihrer Großmutter geerbt hatte. Gemütlich und klein, ideal für Erholung. Galina Iwanowna hatte diesen Ort immer geliebt.
„Erinnerst du dich daran, wie wir letztes Jahr ihre Zähne behandelt haben?“, setzte sich Alex seiner Frau gegenüber. „Sie spricht immer noch freundlich von dir.“
„Familie bleibt Familie“, zuckte Anna mit den Schultern. „Dann haben wir die Reise nach Sotschi organisiert und Reparaturen gemacht. Galina Iwanowna verdient unsere Fürsorge.“
Die Schwiegermutter behandelte Anna stets herzlich. Sie nannte sie liebevoll ihre Tochter, interessierte sich für ihren Job und mischte sich niemals in ihr Privatleben ein. Anna war dankbar für diese harmonische Beziehung.
„Was denkst du über ein Geschenk für deine Mutter?“, räumte Alex das Geschirr weg. „Vielleicht Schmuck?“
„Darüber habe ich auch nachgedacht“, spielte Anna mit ihrem Ring. „Aber ich möchte etwas Wesentlicheres schenken. Schmuck ist zwar schön, aber vergänglich.“
In den nächsten Tagen grübelte Anna weiterhin über das passende Geschenk nach. Eine Reise? Galina Iwanowna hatte kürzlich eine gemacht. Elektrogeräte? Sie besaß bereits alles Nötige. Es sollte etwas Besonderes und unvergesslich sein.
„Papa, wie findest du die Idee mit dem Wochenendhaus?“, fragte Anna während der Mittagspause.
„Wie meinst du das?“, legte ihr Vater das Sandwich aus der Hand.
„Ein kleines Grundstück mit Haus für Galina Iwanowna zum Geburtstag“, erklärte Anna und zeigte einen Plan. „Sie wünscht sich schon lange einen eigenen Gemüsegarten.“
Der Vater blickte sie aufmerksam an.
„Eine gute Idee“, stimmte er zu. „Suche in der Nähe der Stadt nach einem passenden, gemütlichen Grundstück.“
Anna verbrachte einige Tage mit der Suche nach Angeboten. Viele Immobilienmakler boten verschiedene Objekte an, doch die Mehrheit war entweder zu groß, zu weit weg oder zu heruntergekommen.
„Dieses Grundstück sieht interessant aus. In Stadtnähe, zwanzig Minuten mit dem Auto. Das Haus ist klein, aber solide. Sechs Ar Land, mit Obstbäumen.“
„Was kostet es?“, betrachtete Anna die Fotos genauer.
„Zwei Millionen fünfhunderttausend. Verhandelbar“, blätterte der Makler durch die Unterlagen. „Die Besitzer ziehen um.“
Anna notierte sich die Adresse. Das Grundstück entsprach genau ihren Vorstellungen. Klein, gepflegt und mit Entwicklungspotenzial. Galina Iwanowna würde das Geschenk sicherlich schätzen.
Abends teilte sie ihrem Vater die Neuigkeiten telefonisch mit.
„Sehr gute Wahl“, bestätigte der Vater. „Deine Schwiegermutter ist praktisch veranlagt. Das Wochenendhaus wird ihr gefallen. Und der Preis liegt in deinem Rahmen.“
Nach dem Gespräch rief Anna ihren Mann an, voller Vorfreude – er würde diese Idee sicher begrüßen. Galina Iwanowna hatte immer von einem eigenen Garten geträumt.
„Hallo Alex“, klang Annas Stimme fröhlich. „Ich habe Neuigkeiten zum Geschenk für deine Mutter.“
„Erzähl, Liebes“, klang Alex interessiert. „Was hast du geplant?“
„Wie wäre es mit dem Wochenendhaus?“, berichtete Anna aus dem Büro. „Ich habe ein tolles Angebot in der Vorstadt gefunden: sechs Ar Grundstück, ein hübsches Haus und bereits mit Obstbäumen.“
„Wirklich?“, klang Alex begeistert. „Mama wird begeistert sein! Sie hat oft gesagt, dass sie gerne ihre eigenen Tomaten anbauen möchte.“
Anna lächelte, als sie seinen begeisterten Ton hörte. Alex unterstützte stets ihren Einsatz für seine Familie.
„Sie verlangen zweieinhalb Millionen“, fuhr Anna fort. „Das lohnt sich aber. Stell dir vor, wie sehr sie sich freuen wird!“
„Das ist das beste Geschenk, was man sich vorstellen kann!“, bestätigte Alex aufgeregt. „Das wird sie nie vergessen. Du bist einfach genial, meine Liebe.“
Die Wärme in seiner Stimme berührte sie tief. Anna stellte sich vor, wie sie zu dritt den besonderen Tag planen würden.
„Ich muss jetzt los“, sagte Alex sanft. „Wir sehen uns abends. Dann besprechen wir alles beim Essen.“
Gerade wollte Anna auflegen, als sie bemerkte, dass die Verbindung nicht unterbrochen war. Plötzlich erklang eine ihr bekannte und doch kalte Stimme seiner Mutter am anderen Ende:
„Alex, hast du das Gespräch mit der reichen Frau nicht beendet?“ – Galina Iwanowna klang genervt.
Anna erstarrte. Wer war gemeint? Sie hielt das Telefon zitternd fest und verstand langsam, dass die Schwiegermutter von ihr sprach.
„Ja, Mama“, seufzte Alex. „Sie redet ständig über Geschenke und prahlt mit ihrem Geld.“
„Ich habe die Nase voll von ihrer Großzügigkeit“, fuhr die Mutter fort. „Hilft sie viel, fühle ich mich daneben wie eine Bettlerin. Sie hebt ständig ihre Überlegenheit hervor.“
Anna ließ sich in den Stuhl fallen, überwältigt von der Bitterkeit der Worte. Menschen, die sie als Familie betrachtete, redeten mit solcher Feindseligkeit über sie.
„Mama, bald wird sich alles ändern“, senkte Alex die Stimme. „Erinnerst du dich, ich habe mit dem Anwalt gesprochen? Ich habe eine Strategie, wie ich das Vermögen auf mich übertragen kann.“
„Wirklich?“, fragte die Schwiegermutter neugierig.
„Ich lege ihr Papiere vor, verpackt als normale Dokumente“, erklärte Alex kühl. „Sie ist so vertrauensvoll, dass sie nichts merken wird. Nach und nach wird alles auf mich umgeschrieben.“
„Ein geliebter Mensch, der kalt plant, mich zu betrügen.“
Anna hielt sich die Hand vor den Mund, um das Aufschreien zu unterdrücken. Der Mann, den sie vier Jahre lang liebte, dachte eiskalt an Betrug.
„Und was dann?“, zeigte sich Galina Iwanowna zufrieden.
„Zuerst ziehen wir ihr so viel Geld wie möglich für den Familienalltag ab“, fuhr Alex fort. „Danach reiche ich die Scheidung ein und klage die Hälfte ihres Vermögens von ihren privaten Konten ein.“
„Clever gemacht, Sohn“, lobte die Mutter. „Vielleicht reden wir ihr auch ein, ich sei schwer krank. Für Auslandsbehandlung könnten wir um Geld bitten.“
„Klasse Idee“, stimmte Alex zu. „Nach der Scheidung leben wir sorgenfrei, aber Anna bleibt auf der Strecke.“
Anna beendete den Anruf still. Sie war wie gelähmt. Die Tränen flossen ihr über die Wangen, doch in ihrem Innern wuchs die Entschlossenheit.
Die beiden wichtigsten Menschen in ihrem Leben planten ihren Betrug. Die, denen sie am meisten vertraute, sahen in ihr nur eine Geldquelle.
Entschlossenheit: Anna wischte ihre Tränen weg. Von nun an würde sie sich nicht mehr täuschen lassen.
Am Abend kehrte Alex gutgelaunt nach Hause zurück und pfiff fröhlich vor sich hin, als er die Jacke im Flur auszog.
„Anna, mein Schatz, ich bin da!“, rief Alex aus dem Flur. „Hast du schon nach dem Wochenendhaus für deine Mutter geschaut?“
Anna legte wortlos eine Mappe mit Unterlagen auf den Küchentisch. Ganz oben lag die Scheidungserklärung.
„Was soll das?“, riss Alex die Papiere auf und las die Zeilen. Sein Gesicht wurde blass.
„Das habt ihr dir verdient“, sagte Anna ruhig.
„Wovon redest du?“, tat Alex überrascht. „Ist das ein schlechter Witz?“
Anna sah ihn kalt an. Gerade hatte dieser Mann ihren Betrug geplant. Und nun spielte er die unschuldige Opferrolle.
„Du hast vergessen den Anruf heute Mittag zu beenden. Ich habe euer ganzes Gespräch mitgehört.“
Alex straffte sich heftig. Panik blitzte in seinen Augen auf, doch er beherrschte sich schnell.
„Du hast das falsch verstanden“, begann er aufdringlich, trat näher an den Tisch. „Wir haben nur herumgesponnen, nichts Ernstes.“
„Spinnen darüber, wie du mein Vermögen auf dich übertragen willst?“, stand Anna von ihrem Platz auf. „Über gefälschte Dokumente? Über Krankheitssimulation?“
„Anna, beruhige dich“, streckte Alex die Arme aus. „Wir sind Familie. Glaubst du wirklich an so einen Unsinn?“
Anna trat einen Schritt zurück. Dieser Mann versuchte sie weiterhin zu täuschen, während er ihr in die Augen sah.
„Pack deine Sachen und geh!“, sagte sie kalt. „Die Wohnung gehört mir, ich habe sie vor der Ehe gekauft. Hier hast du keinen Platz mehr.“
„Du kannst mich nicht einfach rausschmeißen!“, protestierte Alex. „Ich bin dein Ehemann!“
„Ehemann in Vergangenheit“, korrigierte Anna. „Die Scheidung ist eingereicht. Ich habe die Dokumente.“
„Mein Sohn ist wie ein Falke, und du bist ein Spatz, der sich in ein fremdes Nest verirrt hat!“, schnippte Galina Iwanowna.
Alex lief verzweifelt in der Küche auf und ab und suchte nach Argumenten. Die Maske des fürsorglichen Ehemanns war endgültig gefallen.
- „Na gut, du willst es hart spielen?“, schrie er. „Wie du willst! Ich werde die Hälfte des Vermögens einklagen und dann sehen wir, wer am Ende gewinnt!“
- „Versuch es doch!“, antwortete Anna gelassen. „Das Eigentum war vor der Ehe mein, und mein Geld liegt längst auf Firmenkonten.“
Alex schwieg und wusste, dass er verloren hatte.
Innerhalb einer Stunde verließ er mit einem Koffer die Wohnung. Anna rief sofort einen Schlosser und ließ noch am selben Abend die Schlösser austauschen.
Die Scheidung verlief schnell, Alex erhielt nur eine geringe Abfindung.
Nach einem Monat kam Galina Iwanowna zu Anna. Sie weinte, bat um Verzeihung und beteuerte, dass ihr Sohn die Intrige erdacht hatte.
„Anna, mein Kind“, schluchzte die Schwiegermutter, „ich habe dich wie meine eigene Tochter geliebt! Du weißt, dass ich das nicht bin!“
„Jetzt kenne ich euer wahres Gesicht“, antwortete Anna ohne sie hereinzulassen.
„Aber wir waren doch Familie“, flehte Galina Iwanowna. „Vielleicht können wir weiter Kontakt haben? Du warst wie eine Tochter für mich.“
Anna schüttelte den Kopf.
„Familie verrät sich nicht gegenseitig“, sagte sie und schloss die Tür.
- Anna änderte am nächsten Tag ihre Telefonnummer.
- Sie blockierte ihre ehemalige Schwiegerfamilie auf allen sozialen Netzwerken.
- Galina Iwanowna verlor damit die gewohnte finanzielle Unterstützung.
- Alex zog in ein Zimmer einer Wohngemeinschaft.
- Anna begann ihr Leben neu, wachsam gegenüber den wahren Kosten von menschlichen Beziehungen und dem Schutz persönlicher Grenzen.
Diese Geschichte verdeutlicht: Vertraue nicht blind und schätze den Wert echter Beziehung und Selbstschutz immer hoch ein.