Mit großer Sorgfalt faltete Natasha die winzigen Babykleidungstücke zusammen und legte sie in ihre Tasche, bevor sie diese verschloss. Schon am kommenden Tag würde sie aus dem Geburtshaus entlassen werden. Die Vorstellung, endlich mit der kleinen Masha zu Hause zu sein, ließ ihr Herz schneller schlagen. Mit 42 Jahren wurde sie zum ersten Mal Mutter – ein echtes Wunder nach all den langen Jahren des Hoffens.
Plötzlich erschien die vertraute Krankenschwester Nina im Zimmer. Die Frau mit ihrem voluminösen Haar war bekannt für ihre Freundlichkeit. „Na, Natasha, bist du bereit für morgen?“, erkundigte sich Nina sanft. „Wann wird dein Mann dich abholen?“
Ein Moment des Zögerns überkam Natasha – genau jene Antwort, vor der sie Angst gehabt hatte, war verlangt worden.
„Wahrscheinlich werde ich alleine mit dem Baby nach Hause fahren“, antwortete sie mit einem müden Lächeln. „Mein Mann ist auf Geschäftsreise, und mein Bruder hat auch viel um die Ohren.“
Nina zog die Stirn kraus.
„Alleine mit einem Neugeborenen? Das geht so nicht. Hast du keine Freundin, die helfen könnte?“
Natasha schüttelte den Kopf. Viele ihrer Freundinnen waren weggezogen oder mit ihren eigenen Familien beschäftigt. Es fiel ihr schwer zuzugeben, dass sie, obwohl sie 42 war, niemanden hatte, auf den sie sich wirklich verlassen konnte.
„Ich werde schon klar kommen, keine Sorge“, erwiderte sie bestimmt. „Ich bin nicht die Erste, die das alleine schafft, und auch nicht die Letzte.“
Obwohl Nina den Kopf schüttelte, drängte sie nicht weiter. Im Krankenhaus gab es viele Schicksale: junge Mütter ohne Partner oder ältere Frauen, die sich bewusst für ein Kind ohne Ehemann entschieden hatten. Natasha passte nicht in diese Kategorien. Sie war gepflegt, gebildet und trug ihren Ehering. Doch das Leben hatte eigene Pläne.
Allein ließ sie Gedanken an das leere Zuhause zu. Kein Jubel, keine Willkommensbotschaften, keine Verwandten, die sie erwarteten. Nur sie selbst und die kleine Masha – mitten in der großen, weiten Welt.
Ihr Mann Oleg war tatsächlich auf Geschäftsreise – das zumindest behauptete er vor zwei Wochen, ehe er das Haus verließ. Es war kaum zu fassen, dass all das nur einen Monat vor der Geburt ihres ersehnten Kindes passierte.
„Natasha, ich bin nicht bereit“, hatte er kurz zuvor gesagt, den Blick abwendend. „Ich dachte, ich schaffe das, aber es ist nicht für mich. Das Baby, die Windeln, die schlaflosen Nächte… Ich bin 45 und will für mich leben. Du wolltest ein Kind.“
Ohne Tränen, ohne Schreie oder Bitten beobachtete sie nur, wie er seine Sachen packte. Die Welt, die sie gemeinsam zehn Jahre lang aufgebaut hatten, stürzte in sich zusammen. Die Schwangerschaft war ein unerwartetes Ereignis gewesen – sie hatten die Hoffnung auf Kinder in ihrem Alter schon fast aufgegeben. Das Wunder hatte sie vollkommen überwältigt. Sie war sicher, dass auch Oleg glücklich war: Er begleitete sie zu Ultraschalluntersuchungen, half bei der Namenswahl, plante das Kinderzimmer… Doch plötzlich änderte sich alles.
„Ich werde finanziell unterstützen“, hatte er zuletzt gesagt. „Aber erwarte nicht, dass ich die Rolle des fröhlichen Vaters übernehme. Das bin nicht ich, und ich habe dich gewarnt.“
Seitdem war kein Anruf, keine Nachricht von ihm gekommen – nur nüchterne Geldüberweisungen unter der Bezeichnung „Für Ausgaben“. Kein Wort über das Baby, kein Nachfragen zum Verlauf der Geburt, keine Glückwünsche zur Tochter.
Die Beziehung zu ihrem Bruder Viktor war noch komplizierter. Nach dem Tod ihrer Eltern war der Kontakt zwischen ihnen kaum noch vorhanden. Er lebte in einer nahegelegenen Stadt, und Natasha hatte es nie gewagt, ihn um Hilfe zu bitten. Als sie ihm endlich die Geburt seiner Nichte mitteilte, blieb er höflich, aber distanziert.
„Glückwunsch, Natasha. Tut mir leid, aber ich kann nicht kommen – Arbeit, du weißt schon. Vielleicht werde ich später vorbeischauen.“
Ihr Handy vibrierte mit einer Nachricht. Für einen kurzen Moment hoffte Natasha, dass es Oleg sein könnte. Doch es war nur ein Werbemail eines Babyfachgeschäfts. Mit bitterem Lächeln erkannte sie, wie naiv sie gewesen war. Hatte sie wirklich gedacht, er würde sich plötzlich besinnen und mit einem Blumenstrauß im Krankenhauses stehen, um sie abzuholen?
Der Entlassungstag war hektisch. Die Schwestern halfen Natasha, das Baby anzuziehen, der Arzt gab letzte Hinweise, und schemenhaft konnte sie bereits fröhliche Stimmen von Müttern hören, die von Verwandten begrüßt wurden.
„Natalya Petrovna Sokolova!“ rief die Dienstschwester. „Die Unterlagen warten auf Sie.“
Natashas Herz begann schneller zu schlagen. Der lang ersehnte und zugleich gefürchtete Moment war gekommen. Vorsichtig nahm sie das eingewickelte Baby in den Arm und trat in den Flur.
Am Empfang wartete die Stationsleitung mit einer Mappe voller Dokumente.
„Hier und hier bitte unterschreiben. Das ist Ihr Entlassungsbogen und die Pflegetipps fürs Baby. Morgen wird eine Besuchskrankenschwester vorbeikommen.“
Natasha nickte, wehrte sich aber gegen das Ungleichgewicht zwischen Baby halten und unterschreiben müssen.
„Und wer holt Sie ab?“ fragte die leitende Schwester, den leeren Flur hinter Natasha beobachtend.
„Ich… ich bin alleine“, erwiderte Natasha und spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. „Ich bestelle ein Taxi.“
Die Leitung runzelte skeptisch die Stirn.
„Vielleicht rufst du doch jemanden an?“
„Das geht nicht,“ flüsterte Natasha. „Mein Mann hat uns verlassen, und ich habe keine engen Angehörigen.“
Plötzlich drangen laute Stimmen und fröhliches Lachen von der nächsten Ecke herüber. Neugierig wandte sie sich um und blieb überrascht stehen.
Eine „Delegation“ näherte sich: Krankenschwester Nina, die Reinigungskraft und ein junger Notaufnahmeregistrant. Sie trugen rosa Luftballons und ein großes Plakat mit der Aufschrift „Herzlichen Glückwunsch, Mama!“
„Was ist das?“ fragte Natasha ungläubig.
„Wir sind deine Unterstützerinnen“, zwinkerte Nina. „Wir dachten uns, niemand sollte dieses Krankenhaus allein verlassen. Besonders nicht so eine wundervolle Mutter.“
„Aber wie…“ Natasha war sprachlos.
„Außerdem habe ich ein Taxi für dich bestellt“, fügte Nina hinzu. „Mein Cousin fährt, das Auto hat einen Kindersitz – alles bestens.“
Tränen stiegen in Natashas Augen.
„Danke, Nina“, flüsterte sie. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“
„Du musst nichts sagen“, lächelte Nina. „Denk einfach daran: Du bist nicht allein auf dieser Welt. Und auch das Baby ist es nicht.“
Gemeinsam begleiteten sie Natasha zum Ausgang, wo wirklich ein Taxi wartete. Nina half, Masha korrekt im Sitz zu sichern, und die Reinigungskraft schenkte ihr die Ballons.
Als das Taxi davonfuhr, blickte Natasha zurück auf die Menschen vor dem Hauseingang. Gestern noch medizinisches Personal, heute viel mehr – eine kleine Familie. Sie winkten zum Abschied, und in diesem Augenblick wusste Natasha, dass sie sie nie vergessen würde.
Die Fahrt nach Hause dauerte etwa zwanzig Minuten. Der Fahrer, der sich als Mikhail vorstellte, war ein redseliger Mann mittleren Alters.
„Ich habe selbst drei Kinder“, sagte er stolz und warf einen Blick in den Rückspiegel zu Natasha. „Mach dir keine Sorgen, wir bringen deine Prinzessin sicher nach Hause.“
Zu Hause half Mikhail nicht nur beim Ausladen, sondern trug auch die Tasche bis zur Wohnung.
„Vielen Dank“, sagte Natasha, während sie ihm das Fahrgeld reichte.
„Nein, nein“, winkte Mikhail ab. „Heute geht das aufs Haus. Ein Sonderangebot für junge Mamas.“
Er lächelte und fügte hinzu:
„Wenn du etwas brauchst – Lebensmittel oder einen Arztbesuch – hier ist meine Karte. Ruf an, jederzeit.“
Mit Mühe öffnete Natasha die Tür, hielt Masha in einem Arm und betrat die stillen Räume. Kein Ballon, kein Willkommen – nur der Staub auf den Möbeln und eine verwelkte Blume auf der Fensterbank.
Sie legte Masha behutsam auf das Sofa, umgab sie mit Kissen und blickte sich um. Alles war unverändert seit ihrem Weggang – ein unfertiges Kinderzimmer mit einem halbfertigen Bettchen (Oleg hatte versprochen, es fertigzustellen, schaffte es aber nicht), ein Haufen ungewaschener Babykleidung, ein leerer Kühlschrank.
Natasha setzte sich neben ihre Tochter, und zum ersten Mal seit langer Zeit erlaubte sie sich zu weinen. Nicht aus Trauer oder Bitterkeit, sondern aus dem Bewusstsein: Jetzt waren sie beide füreinander da – gegen den Rest der Welt. Egal was passiert, sie musste stark sein für dieses kleine Mädchen.
Ein Klopfen an der Tür ließ sie erschrecken. Draußen stand Anna Vasilievna, eine ältere Nachbarin mit warmherzigen Augen, die Natasha noch aus Kindertagen kannte.
„Natashenka, du bist zurück!“ rief sie erfreut. „Ich sah durch das Fenster, dass du mit dem Baby gekommen bist. Ich wollte nur kurz vorbeikommen, um dir zu gratulieren.“
In ihren Händen hielt sie einen Topf mit duftender Suppe und eine Tasche voller Lebensmittel.
„Ich habe etwas Suppe und gebratene Frikadellen mitgebracht“, sagte sie, als sie die Küche betrat. „Ich weiß, wie das ist: Du kommst aus dem Krankenhaus, und niemand ist da, der kocht.“
Natasha war gerührt. „Anna Vasilievna, danke. Sie retten mich.“
„Ach, wir sind Nachbarinnen, lebten schon ewig nahe beieinander“, winkte die Ältere ab. „Als ich Kolya bekam, war ich auch alleine – mein Mann war auf See. Ich weiß, wie hart das sein kann.“
Natasha senkte den Blick.
„Wenn du nachts etwas brauchst, dann ruf einfach an“, sagte Anna auf dem Weg zur Tür. „Zögere nicht, Natashenka. Alleine mit einem Neugeborenen ist es schwer.“
Am Abend, nachdem Masha eingeschlafen war, saß Natasha in der Küche mit einer Tasse Tee und einer etwas leichteren Stimmung. Ja, ihr Mann hatte sie in dem wichtigsten Moment ihres Lebens im Stich gelassen. Doch es gab auch gute Menschen – eine Krankenschwester, einen Taxifahrer, eine Nachbarin.
Das Telefon vibrierte – eine Nachricht von ihrem Bruder: „Natash, ich habe frei bekommen. Ich komme am Samstag, will meine Nichte kennenlernen. Kopf hoch, Schwester.“
Ein Lächeln durchbrach ihre Tränen. Vielleicht würde alles nicht so schwer werden. Vielleicht würden sie es schaffen, Masha und sie. Und vielleicht kam eines Tages jemand in ihr Leben, der sie beide aufrichtig lieben und nie verlassen würde.
Fürs Erste hatten sie einander. Dieses Band war stark genug für einen neuen Anfang.
Wichtiges Fazit: Natashas Geschichte zeigt, wie unerwartete Veränderungen und Einsamkeit überwunden werden können – durch kleine Gesten der Unterstützung und die Kraft, weiterzumachen. Auch in schwierigen Zeiten kann menschliche Nähe neue Hoffnung schenken.