„Was ist los, hast du die Karte sperren lassen? Und wie sollen dann Mutter und deine Schwester über die Runden kommen?“ rief Denis, während Olga nur leise lächelte.
Ende März, als die Straßen noch von schmutzigem Schnee bedeckt waren, kündigte sich der Frühling bereits in der Luft an. In Olgas Büro lag der neue Arbeitsvertrag auf dem Tisch, den sie kaum fassen konnte.
Die Zahlen beeindruckten sie: Ihr Gehalt war nun zwanzig Prozent höher als das von Denis. „Glückwunsch, Olga“, lächelte Igor Walerjewitsch. „Du hast es dir verdient. Drei Jahre tadellose Arbeit, zwei erfolgreiche Projekte im letzten Jahr. Solche Mitarbeiter schätzen wir sehr.“
Mit gemischten Gefühlen machte sich Olga auf den Heimweg – ein Gefühl aus Stolz und leichter Verunsicherung. Bisher war Denis der Hauptverdiener gewesen, was sich stillschweigend so eingespielt hatte. Er arbeitete als Bauingenieur mit sicherem Einkommen.
Olga managte eine Logistikfirma und verdiente etwas weniger. Das war für beide in Ordnung – niemand stellte die Rollenfrage oder geriet wegen Geld in Streit.
„Klingeling, ich habe Neuigkeiten!“, kündigte sie zu Hause an und schälte ihre Schuhe aus.
Denis kam mit einer Tasse Tee aus der Küche. In Jogginghose und altem T-Shirt erkannte Olga sofort seine Gestik – nach fünf Ehejahren kannte sie jede Stimmung. Anblick, Kopfneigung, wie er die Tasse hielt – alles sprach Bände.
„Ich habe eine Gehaltserhöhung bekommen, jetzt bin ich Abteilungsleiterin“, flüsterte Olga fast herausfordernd.
Denis legte die Tasse ab, umarmte sie und lachte herzlich: „Das ist großartig! Ich wusste, dass du es packst. Du hast es schon lange verdient.“
Sie lehnte sich zufrieden an seine Schulter und atmete seinen Aftershave-Duft mit einem Hauch Waschmittel ein.
„Übrigens, jetzt verdiene ich mehr als du“, sagte sie fast schelmisch.
Er zog sich zurück, sah ihr in die Augen und lachte: „Perfekt! Dann bin ich jetzt der reiche Mann, der sich bedienen lässt. Ich werde auf dem Sofa liegen und Bier trinken.“
Er klopfte sich auf die Brust, und die angespannte Atmosphäre löste sich auf. Sie fühlten sich verbunden. Am Abend stießen sie mit Sekt in der kleinen Küche an und schmiedeten Pläne.
„Lass uns ein gemeinsames Konto eröffnen“, schlug Denis vor, während er ihr noch einen zweiten Schluck einschenkte. „Wir sparen auf ein Auto. Unser Wagen ist schon über zehn Jahre alt und ächzt bei jedem Schlagloch. Zeit für was Neues.“
„Gute Idee“, nickte Olga. „Aber nicht auf Kredit. Wir legen jeden Monat zwanzig Prozent unseres Gehalts zurück. So können wir das Auto bald bar bezahlen.“
Kurz darauf, eine Woche später, eröffnete Olga das Konto auf ihren Namen. Sie konnte als Erste Zeit für die Bankangelegenheiten finden, und Denis war es egal, Hauptsache das Geld wuchs. Anfangs lief alles bestens: Beide zahlten regelmäßig ein. Bis zum Frühsommer hatte sich ein ansehnlicher Betrag angesammelt.
Doch dann kam der Anruf von Svetlana.
Während Olga auf der Arbeit war, schickte Denis ihr eine Nachricht: „Sveta kommt zurück aus Moskau. In einer Woche.“ Kein weiteres Wort, keinerlei Gefühl.
Svetlana war Denis’ jüngere Schwester, 28 Jahre alt, Olgas Zeitgenossin. Vor drei Jahren zog sie nach Moskau, voller Hoffnung auf ein besseres Leben. Ihre Mutter, Tamara Iwanowna, bettelte sie eine Woche lang an zu bleiben, doch Svetlana blieb stur. Dort hatte sie bereits einen Freund und einen vielversprechenden Job.
„Was ist passiert?“ schrieb Olga.
„Abends erzähle ich dir alles“, antwortete Denis kurz darauf.
Am Abend schien Denis in Trübsal versunken. Er lief nervös durch die Wohnung, murmelte kaum verständlich. Schließlich setzte er sich ihr gegenüber und berichtete alles auf einmal:
„Svetlana hat sich von Andrej getrennt. Er hat sie verlassen, zog aus und nahm seinen Anteil an der Mietwohnung mit. Sveta kann die Miete alleine nicht stemmen, und der Job hat auch nicht das gehalten, was versprochen wurde. Sie bekommt kaum Geld, kehrt jetzt zur Mutter zurück.“
Olga legte gähnend die Gabel weg.
„Zur Mutter? Tamara Iwanowna ist fast siebzig und schon im Ruhestand.“
„Sie arbeitet. In der Schulkantine, auch nebenbei etwas.“
Olga spürte, wie sich in ihr Wut aufbaute: „Dennis, deine Schwester ist erwachsen. Wie kann sie es sich erlauben, sich auf die Unterstützung der alten Mutter zu verlassen?“
Der Mann biss die Zähne zusammen.
„Was soll sie denn tun? Soll sie auf der Straße leben? Sie ist meine Schwester.“
„Sie soll arbeiten und sich ein Zimmer mieten, wie jeder vernünftige Mensch.“
„Sie wird einen Job finden, sie braucht nur Zeit. Mama ist nicht dagegen.“
Olga wollte noch etwas sagen, schwieg aber. Sie wusste, Diskussionen waren nutzlos. Denis liebte seine Schwester und verteidigte sie, obwohl er ihre Unbekümmertheit und Launenhaftigkeit anerkannt hatte. Nach dem Tod ihres Vaters hatte Dennis mit 16 Jahren die Rolle des Familienoberhaupts übernommen, seine Mutter unterstützt und Svetlana zum Tanz- und Englischunterricht gebracht. Sie standen einander nahe, und Olga akzeptierte das.
Doch das bedeutete nicht, dass ihr das alles gefiel.
Eine Woche später kam Svetlana an. Am Samstagmorgen klingelte es, und Olga saß noch im Bademantel in der Küche mit ihrem Kaffee, als Denis glücklich die Tür öffnete und im Flur ein freudiges Lachen erklang:
„Déncsi! Du fehlst mir so!“
Olga verließ die Küche und erstarrte. Svetlana stand im Flur, einen beigen Kaschmirmantel trug, mit einer edlen Ledertasche und modischen Stiefeletten. Ihr Haar war sorgsam frisiert, das Make-up perfekt, und der teure französische Duft lag in der Luft.
„Olya!“, strahlte Svetlana und stürzte sich in eine Umarmung. „Wie geht’s dir? Du siehst fantastisch aus!“
„Danke“, erwiderte Olga mechanisch die Umarmung. „Du siehst auch toll aus.“
Im Wohnzimmer zogen sie sich aus, und Olga bemerkte die Designerklamotten, das zierliche goldene Armband am Handgelenk und die Uhr, die mehr wert war als Olgas Monatsgehalt.
„Wie geht es Tamara Iwanowna?“, fragte Olga, während sie Tee eingoss.
„Mama ist fit, arbeitet wie immer“, winkte Svetlana sorglos ab. „Sie sagt, ohne Arbeit ist ihr langweilig.“
„Braucht sie Hilfe?“ fragte Olga vorsichtig.
„Nein, wir kümmern uns“, winkte Svetlana ab und wandte sich an Denis: „Dén, ich hab die Nase voll von Moskau! Diese Hektik, die Menschen – alle sind nur auf sich bedacht und falsch.“
Denis nickte mitfühlend. Olga trank schweigend ihren Tee.
„Und dieser Andrej“, fuhr Svetlana fort, eine verbitterte Tonlage erklang, „hat mir goldene Berge versprochen. Er hat gesagt, ich bin die Einzige, wir heiraten. Dann ist er einfach ausgezogen. Er hatte eine andere Frau. Kannst du dir das vorstellen?“
„Was für ein Schuft“, murmelte Denis. „Ich hätte mit ihm reden sollen.“
„Ach, egal, vorbei“, seufzte Svetlana, lächelte aber wieder. „Hauptsache, ich bin zu Hause. Hier will ich mein Glück finden.“
Olga beobachtete sie still und dachte: Versteht sie das wirklich nicht? Spürt sie kein schlechtes Gewissen, in ihrem Designerkleid zu sitzen, während ihre alte Mutter in der Schulkantine arbeitet, um sie zu ernähren?
„Sveta, suchst du Arbeit?“ platzte es aus Olga heraus.
„Klar doch!“, antwortete Svetlana erfreut. „Einige Lebensläufe habe ich schon geschickt. Aber weißt du, in Moskau habe ich mich an einen gewissen Lebensstandard gewöhnt. Ich kann nicht irgendwo billig arbeiten. Ich will etwas Anständiges.“
„Verstehe“, sagte Olga, während sie das Teeglas hob, das innere Unbehagen wuchs.
„Übrigens“, flüsterte Svetlana vertraulich, „ich muss mein Niveau halten. Ich möchte heiraten, und auf dem Heiratsmarkt, vor allem in unserem Alter, darf man nicht billig aussehen. Ein guter Mann schaut nicht auf eine Frau in billiger Kleidung.“
„Und woher hast du das Geld dafür?“, fragte Olga direkt, deutete auf Svetlanas Tasche.
Die junge Frau lächelte geheimnisvoll: „Ich habe meine Quellen. Keine Sorge.“
„Ein Sponsor“, dachte Olga bitter. „Also ein vermögender Liebhaber. Deshalb das ganze Geld.“ Sie fühlte zugleich Widersprüchliches: wenigstens täuscht Svetlana nicht vor, dass ihre Mutter zahlt.
Seitdem kam Svetlana regelmäßig vorbei, mindestens einmal pro Woche, manchmal öfter. Sie besuchten sie oder Denis fuhr zur Mutter. Denis kehrte jeweils nachdenklich zurück, beantwortete Fragen knapp: Alles in Ordnung, die Mutter ist fit, Svetlana sucht Arbeit.
Olga mischte sich nicht ein. Sie hatten eine stille Übereinkunft: Denis’ Familie war seine Angelegenheit, und sie sollte sich nicht einmischen. Fünf Jahre funktionierte das, warum sollte es jetzt plötzlich aufhören?
Der Sommer verging unbemerkt. Olga verbrachte viel Zeit im Büro, lernte ihre neuen Aufgaben. Denis unterstützte sie, regte sich nicht über späte Heimkehr auf. Sie ließen das Geld auf dem Konto wachsen. Olga lud ab und zu die App hoch, überprüfte das Guthaben und freute sich über die steigenden Zahlen.
Anfang September erhielt sie eine Jahresprämie – ein schöner Betrag, fast ein Drittel des Werts für das Wunschauto. Sofort beschloss Olga, die Ersparnisse zu einem höheren Zinssatz anzulegen. Die Bank bot attraktive Konditionen für größere Investments.
Während der Mittagspause ging sie zur Filiale. Die freundliche Sachbearbeiterin, eine Frau um die vierzig, lächelte beim Anblick des Kontos:
„Das ist eine gute Summe für den Anfang.“
„Ja, wir sparen für ein Auto“, sagte Olga stolz.
„Ein tolles Ziel. Aber…“, die Sachbearbeiterin zog die Stirn kraus und prüfte den Bildschirm, „Hier gibt es ungewöhnliche Transaktionen. Hohe Beträge werden regelmäßig abgehoben. Sind Sie sich dessen bewusst?“
Olgas Herz setzte einen Schlag aus.
„Welche Abhebungen?“
„Schauen Sie: Am 10. Juni 15.000, am 25. Juni 20.000, am 3. Juli 10.000 – und so weiter.“
Sie starrte auf den Bildschirm. Es wurde ihr innerlich eiskalt. Ihr Geld, ihr gemeinsames Sparvermögen für die Zukunft – mehr als die Hälfte war weg.
„Können Sie herausfinden, wohin das Geld ging?“
„Auf eine Karte, die auf den Namen…“, die Sachbearbeiterin sagte zögernd, „… Svetlana Igorevna Komarova lautet. Ist das Ihre Verwandte?“
Olga schloss die Augen. Keine Betrügerei, kein Hackerangriff, sondern Denis – ihr Mann – hatte das Spargeld an seine Schwester überwiesen.
„Kann man die Karte sperren?“ fragte sie leise.
„Selbstverständlich, ich veranlasse es sofort.“
Zu Hause saß Olga im Bus, sah aus dem Fenster und nahm nichts wahr. In ihrem Kopf herrschte ein riesiges Durcheinander, wie Fernsehrauschen. Sie versuchte Erklärungen zu finden: Vielleicht ging es Svetlana schlecht, Krankheit, Schulden? Aber warum hatte Denis nichts gesagt? Warum stahl er, ja stahl – vom gemeinsamen Geld?
Sie erinnerte sich an Svetlanas teure Kleidung, die sündteure Tasche, die Gespräche über „Heiratsmarkt“ und „Niveau halten“. Und an das rätselhafte Lächeln: „Ich habe meine Quellen.“
Die Quelle war gefunden. Ihr Mann nahm das Geld vom Konto ab und gab es seiner Schwester aus – für ihre Kleidung.
Um halb sieben betrat Olga die Wohnung. Denis war in der Küche, am Handy. Als er ihre Schritte hörte, blickte er auf, besorgt.
„Olya, alles in Ordnung? Ich wollte Geld überweisen, aber die Karte geht nicht.“
Sie legte die Tasche ab, zog die Schuhe aus. Langsam, vorsichtig. Innerlich brodelte es, doch äußerlich zeigte sie eisige Ruhe.
„Ich habe die Karte sperren lassen.“
„Was? Warum?“
„Ich war heute in der Bank, wollte das Geld anlegen. Und sah, dass mehr als die Hälfte des Sparguthabens weg ist.“
Denis wurde blass. Sekunde um Sekunde Schweigen.
„Du hast die Karte gesperrt? Und wie sollen Mutter und deine Schwester jetzt leben?“ rief er, während Olga nur lächelte.
„Du hast unser Geld an Svetlana überwiesen“, sagte sie unumstößlich.
„Ich wollte dir sagen…“
„Wie lange schon?“
„Was?“
„Seit wann machst du das?“
„Seit Juni, als sie zurückkam. Olya, sie steckt in Schwierigkeiten, braucht Hilfe…“
„Schwierigkeiten?“, Olga lächelte bitter. „Kaschmirmantel und halbmillionenschwere Tasche?“
„Das ist aus Moskau…“
„Sie trägt immer neue Klamotten, das habe ich gesehen!“
„Sie braucht das. Sie sagt, sie sucht einen anständigen Mann…“
„Einen Mann?!“, Olga spürte das Zittern. „Dén, wir haben fürs Auto gespart! Für unsere Zukunft! Und du gibst unser Geld einfach her, damit deine erwachsene Schwester potenziellen Männern imponieren kann?“
„So ist das nicht! Sie hat versprochen, es zurückzugeben!“
„Wann? Von welcher Quelle? Sie sucht seit drei Monaten ehrliche Arbeit!“
Denis lief hin und her, riss sich am Haar.
„Ich konnte nicht Nein sagen. Sie ist meine Schwester. Sie steckt wirklich in Schwierigkeiten. Andrej hat sie verlassen, sie hat keine Arbeit…“
„Und dafür soll Mama aufkommen? Wenn Mama es nicht tut, bist du dran, und benutzt unser Konto?“
„Olya, versteh doch…“
„Nein, du verstehst!“, trat sie näher, blickte ihm in die Augen. „Deine Schwester ist 28 Jahre alt! Gesund, mit Diplom, ganz bei sich. Aber statt zu arbeiten und fürs eigene Geld zu sorgen, glaubt sie, die Welt schulde ihr etwas. Die Mutter schuldet, der Bruder schuldet!“
„So ist sie nicht…“
„Doch, genau so! Und du machst das mit! Drei Monate hast du mich belogen!“
Denis schwieg. Mit gesenktem Kopf, Olga sah sein Zucken im Kiefer.
„Entsperr die Karte“, flüsterte er.
„Nein.“
„Olya…“
„Nein! Das war unser Geld! Unser gemeinsames Ziel! Du hast kein Recht gehabt!“
„Ich habe auch gespart! Auch ich!“
„Und ich auch! Mehr als du! Ich verdiene schließlich mehr, erinnerst du dich?“
Denis zuckte zusammen, als hätte er einen Schlag bekommen. Olga sah, wie seine Miene sich verhärtete.
„Ich verstehe“, sagte er kalt. „Also bestimmst du jetzt, weil du mehr verdienst?“
„Nein, ich entscheide, weil ich die Vernunft habe.“
„Wir haben uns doch geeinigt…“
„Du hast als Erster gebrochen!“
Sie standen sich gegenüber, und plötzlich klaffte eine unüberwindbare Kluft zwischen ihnen. Fünf Jahre Ehe, Verständnis, Vertrauen – alles zerbrach in wenigen Minuten.
Das Telefon von Denis klingelte. Er blickte aufs Display, sein Gesicht verzog sich.
„Sveta“, sagte er, ging in den Flur.
Olga blieb in der Küche zurück, hörte Teile des Gesprächs:
„Ja, ich habe die Karte sperren lassen… Ich weiß nicht… Olga hat es rausgefunden… Nein, jetzt kann ich nicht… Warte, ich entscheide noch…“
Nach einer Weile kehrte er zurück. Sein Gesicht war gerötet, die Augen funkelten vor Wut.
Doch Olga lächelte nur. Seltsamerweise war dieses Lächeln nicht geplant. Es war, als würde eine Last von ihr fallen. Der Nebel verschwand, und alles erschien klar und deutlich.
Sie sah ihren Mann, der ihr drei Monate lang belogen hatte und das gemeinsame Ersparte verschwenderisch ausgab. Der sie anschrie, während er seine Schwester beschützte, die auf Kosten anderer lebte.
Sie sah die Zukunft vor sich: Sie würde arbeiten, sparen und planen, während Denis Geld hin und her schob – für „Familie“, „Schwester“, „Ich kann nicht Nein sagen“.
Und sie lächelte, denn die Entscheidung wurde plötzlich leicht. Glasklar einfach.
„Olya, hörst du mich?“, schüttelte Denis ihre Schulter. „Mama schafft das nicht alleine! Sie braucht Hilfe!“
„Tamara Iwanowna braucht Unterstützung“, antwortete Olga ruhig, „nicht Svetlana. Deine Schwester braucht keine Hilfe, sie will nur gratis Geld für ihre Klamotten.“
„Du verstehst das nicht…“
„Doch, das tue ich. Und weißt du was, Dén? Ich werde es nie verstehen.“
Sie drehte sich um und ging ins Schlafzimmer. Sie holte ihre Tasche aus dem Schrank und begann, ihre Sachen zu packen.
„Was machst du?“
„Ich gehe. Einige Tage bei Lena, dann miete ich eine kleine Wohnung.“
„Olya, bitte… Lass uns reden…“
„Über was?“, drehte sie sich um. „Wie du deine Schwester weiter versorgen willst? Dass wir nun zwei Jahre länger aufs Auto sparen, weil du unser Geld für ihre Kleidung ausgegeben hast? Dass ich dir nicht mehr traue?“
„Ich werde mich ändern! Versprochen!“
„Dén“, trat sie an ihn heran, blickte ihm in die Augen, „du wirst es nicht tun. Für dich ist das normal. Du glaubst, ich muss das verstehen. Aber ich muss nicht. Ich bin nicht verpflichtet, deine Schwester zu unterstützen.“
„Es geht nicht ums Unterstützen…“
„Doch, genau darum. Pro Woche 10-15.000, über drei Monate mehr als 100.000. Das ist keine Hilfe, Dén, das ist Versorgung.“
Er schwieg. Ihr Blick war voller Verletzung, Unverständnis und Zorn, aber keine Reue. Olga begriff: Er fühlte sich nicht schuldig, dachte, sie müsse es dulden.
„Du wirst es bereuen“, sagte sie heiser.
„Vielleicht“, nickte Olga, während sie die Tasche schloss, „aber die Entscheidung liegt bei mir.“
An diesem Abend verließ sie das Haus. Zuerst ging sie zu einer Freundin, dann mietete sie eine kleine Einzimmerwohnung am Stadtrand. Zwei Wochen später reichte sie die Scheidung ein.
Denis versuchte anzurufen, Nachrichten zu schicken, um ein Treffen zu erbitten. Er versprach, alles würde sich ändern. Doch Olga schwieg. Sie hatte verstanden: Vertrauen lässt sich nicht mit Versprechen kitten.
Die Scheidung verlief schnell – ihr gemeinsames Vermögen war gering. Die Wohnung gemietet, einfache Möbel, das Auto alt und auf Denis angemeldet. Olga verlangte nichts, nahm nur ihre Sachen und das Geld auf dem Konto mit.
Ein halbes Jahr später wechselte sie den Job zu einer internationalen Firma mit noch besserem Gehalt. Sie mietete eine größere Wohnung und kaufte sich einen gebrauchten, aber zuverlässigen Honda.
Ein Jahr nach der Scheidung begegnete sie zufällig Svetlana im Einkaufszentrum. Die Schwester schlenderte lachend neben einem älteren Herrn im teuren Anzug und mit goldenem Halskettchen her, voller Selbstbewusstsein.
„Sie hat sich einen Sponsor gesucht“, dachte Olga. Oder vielleicht einen Ehemann. Egal.
Olga ging weiter, ohne anzuhalten. Ihr Leben kreuzte den Weg dieser Familie nicht mehr. Erstaunlicherweise empfand sie keine Trauer, nur stilles Erleichtertsein.
Zu Hause, in ihrer kleinen, aber gemütlichen Wohnung, kochte sie Tee und setzte sich ans Fenster. Draußen stand ihr Auto – nicht neu, nicht das Traumauto, von dem sie und Denis träumten, aber ihres. Mit eigenem Geld gekauft. Ohne Zwang, ohne Verpflichtungen oder fremde, ungebetene Erwachsene.
Auf ihrem Telefon piepste eine Benachrichtigung: Ihr Gehalt war eingegangen. Olga öffnete die App, überwies ein Drittel ihres Einkommens auf ein Sparkonto. Ein neues Ziel – die Anzahlung für eine eigene Wohnung. Noch weit weg, aber erreichbar. Auf ihre Weise, nach ihren Regeln.
Und auf unerklärliche Weise fühlte sie sich gut. Frei. Als hätte sie einen schweren Rucksack abgelegt, den sie nie bemerkt hatte, dass sie ihn trug.
Sie lächelte dem dunklen Fensterbild in ihrem Spiegelbild zu und erhob die Tasse leise.
Auf die Freiheit. Auf die Wahl. Und auf das Recht, die Ungerechtigkeiten anderer zu verstehen – ohne sie zu akzeptieren.