Die Verwandlung einer gewöhnlichen Frau

 

Olya saß am Tisch und versuchte, ihre zitternden Hände zu beruhigen. Der Teller mit dem Salat war schon kalt, doch sie hatte keinen Bissen genommen. Gegenüber saß Irina Petrowna — majestätisch, mit perfekter Frisur und einem strengen Blick. Andrei schwieg, er drehte nervös seine Gabel.

„Olenka, erzähl mir von dir“, begann die Schwiegermutter in dem Ton einer Lehrerin während einer Prüfung.

„Ich… arbeite in der Buchhaltung. Habe die Fachschulausbildung abgeschlossen. Ich lese gerne“, stammelte Olya. Oh Gott, wie dumm das klang!

„Verstehe. Und was machen deine Eltern?“

„Mama ist Verkäuferin, Papa arbeitet als Mechaniker in einer Fabrik.“

Irina Petrowna nickte, als hätte sie endlich die lang erwartete Bestätigung ihrer Vermutung erhalten. Andrei zuckte zusammen:

„Mama, was hat das mit…“

„Schweige. Ich rede mit der Dame.“

Olya presste die Serviette zusammen. War es wirklich so schlimm? Sie hatte sich bemüht! Ein neues Kleid gekauft, drei Stunden für ihre Frisur gebraucht, vor dem Spiegel geübt.

„Hast du irgendwelche Hobbys? Sprichst du Fremdsprachen?“

„Ein bisschen Englisch… Ich habe es in der Schule gelernt.“

„Machst du Sport?“

„Äh, nein, nicht wirklich…“

Jede Antwort schien immer bedauerlicher zu klingen. Olya fühlte, wie ihr das Gesicht heiß wurde. Und Irina Petrowna schaute sie mit einem Mitleid an, das schlimmer war als jede Abneigung.

„Andrusha, bring die Dame bitte weg. Ich muss mit dir reden.“

„Mama!“

„Keine Widerrede.“

Olya stand auf, ihre Beine fühlten sich schwach an. Im Flur sprach Andrei hastig Entschuldigungen, aber seine Worte drangen nicht zu ihr durch. Sie zog ihre Jacke an und dachte nur eins — schnell nach Hause.

„Ich werde anrufen“, versprach er.

Doch Olya wusste bereits, dass der Anruf ausbleiben würde.

„Draußen regnete es. Olya ging den Bürgersteig entlang und wiederholte die ganze Situation mit dem Abendessen in Gedanken. Vielleicht hätte sie über einen Computer-Kurs berichten sollen? Oder über die Universität lügen? Nein, das wäre pauschal durchschaut worden.

Ihr Telefon war drei Tage lang still. Olya rannte in ihrer Wohnung umher, erdachte Ausreden. Vielleicht war er krank? Oder hatte Stress bei der Arbeit? Doch tief im Inneren wusste sie die Wahrheit.

Am vierten Tag erhielt Andrei eine Nachricht: „Es tut mir leid. Mama denkt, dass wir nicht zueinander passen. Ich kann sie nicht enttäuschen.“

Olya las die SMS zehn Mal. Nicht passend. Das bedeutete, dass sie nicht gut genug war. Nicht klug genug, nicht schön, nicht gebildet. Einfach nicht genug.

Sie legte sich auf die Couch und weinte den ganzen Abend. Am nächsten Morgen stand sie auf und betrachtete sich im Spiegel. Ein gewöhnliches Gesicht, ein normaler Körper, ein normales Leben. Eine graue Maus aus einer grauen Familie mit einem grauen Job.

„Du bist zu gewöhnlich für meinen Sohn“ — dieser Satz klang nicht laut, aber Olya hörte ihn deutlich. Und sie erkannte, dass Irina Petrowna recht hatte.

„Na gut“, sprach sie zu ihrem Spiegelbild. „Mal sehen, wie gewöhnlich ich bin.“

Olya holte ein Notizbuch und begann, eine Liste zu erstellen. Englisch — richtig lernen. Sport — ins Fitnessstudio gehen. Job — was Besseres finden. Aussehen — den eigenen Stil finden. Bildung — vielleicht doch die Hochschule?

Die Liste umfasste zwei Seiten. Olya betrachtete sie und schmunzelte. Danke, Irina Petrowna. Ohne Sie wäre ich eine graue Maus geblieben.

Der Wandel

Sechs Monate vergingen. Olya stand vor einem Spiegel im Fitnessstudio und erkannte sich selbst nicht wieder. Woher kamen diese Muskeln in meinen Armen? War die Taille immer schon so schmal?

„Olya, du siehst heute großartig aus!“, rief Nastya, ihre Trainerin. „Minus zwölf Kilo — das ist schon enorm!“

„Ach komm, das ist nichts.“

„Ich meine es ernst! Und wie sieht es mit deinem Englisch aus?“

„So weit ganz gut. Ich bin schon bei Elementary.“

Zu Hause schaltete Olya ihren Laptop ein und öffnete die nächste Lektion. Die Lehrerin auf dem Bildschirm lächelte:

„Heute lernen wir über Vorstellungsgespräche…“

Vorstellungsgespräch. Ja, es ist Zeit, den Job zu wechseln. In der Buchhaltung jammerte die Chefin jeden Tag über Löhne und Krisen. Olya war aus diesem Sumpf herausgewachsen.

Sie öffnete eine Jobplattform. Vertriebsmitarbeiter, Bürokauffrau, Administrator… Halt. „Assistenz der Geschäftsführung in einem IT-Unternehmen. Englischkenntnisse erforderlich. Gehalt ab 80.000.“

Achtzig! Momentan verdiente sie fünfunddreißig.

„Mal sehen, ob wir es versuchen?“ fragte sie ihren Kater.

Barsik miaute. Offensichtlich befürwortete er die Idee.

Eine Woche später saß Olya im Büro gegenüber einem jungen Geschäftsführer. Der Anzug war neu, die Frisur frisch, die Maniküre makellos.

„Also, erzähl mir von dir“, sagte er auf Englisch.

Olya verlor nicht die Fassung:

„Ich habe das College abgeschlossen und zuvor als Buchhalterin gearbeitet, um mich in der neuen Position weiterzuentwickeln.“

„Ausgezeichnet! Ich suche jemanden, der Herausforderungen nicht scheut.“

„Ich habe keine Angst.“

Und das war die Wahrheit. Die alte Olya fürchtete alles — den Chef, die Schwiegermutter, sogar die Verkäufer im Geschäft. Die neue Olya hatte gelernt, „nein“ zu sagen und ihre Meinung zu vertreten.

Sie bekam den Job. Am ersten Tag schauten die Kollegen neugierig:

„Aus welchem Bereich kommst du?“

„Buchhaltung.“

„Wow. Warum hast du dich entschieden, den Bereich zu wechseln?“

Olya zuckte mit den Schultern:

„Ich wollte etwas Größeres erreichen.“

Größeres. Früher hatte sie von Stabilität und einem ruhigen Familienleben geträumt. Jetzt wollte sie die Welt erobern.

Abends lernte sie Spanisch, las Bücher über Psychologie, besuchte Ausstellungen. An den Wochenenden — Theater, Kino, Treffen mit neuen Freunden.

„Olya, du bist eine ganz andere Person geworden“, sagte ihre Mutter am Telefon. „Früher hast du immer zu Hause gesessen.“

„Früher hatte ich keine Zeit zu leben.“

„Und dieser Typ, Andrei… Vielleicht sollten wir versuchen, sich zu versöhnen?“

Olya lachte:

„Mama, warum sollte ich zurückgehen?“

Sie verstand nicht mehr, was sie an ihm gefunden hatte. Ein willfähriger Muttersöhnchen, der es nicht schaffte, die Frau, die er liebte, zu verteidigen. Igitt.

Nach einem Jahr kaufte Olya eine Wohnung im Zentrum. Eine Einzimmerwohnung, aber es war ihre.

Sie renovierte, stellte schöne Möbel auf und hängte Bilder auf.

„Bei der Arbeit wurde sie zur Projektleiterin befördert. Ihr Gehalt stieg auf einhundertzwanzigtausend.“

„Der Erfolg steht dir zu“, sagte ihr Kollege Dmitri während eines Betriebsfestes.

„Danke.“

„Vielleicht sollten wir am Wochenende etwas unternehmen?“

Olya sah ihn aufmerksam an. Gut aussehend, intelligent, unabhängig. Sicher wird er seine Mutter nicht um Erlaubnis fragen.

„Warum nicht.“

Ihr Leben stabilisierte sich. Aber manchmal dachte Olya abends an Irina Petrowna und lächelte. Interessant, was würde sie jetzt sagen, wenn sie sie sieht?

Olya richtete ihren Blazer und trat in den Konferenzraum des Hotels. Ihr Namensschild trug die Aufschrift: „Olga Morozova, Projektmanagerin“. Um sie herum wuselten Menschen in Anzügen — die städtische IT-Konferenz versammelte alle, die in der Geschäftswelt etwas bedeuteten.

„Olya!“ rief eine vertraute Stimme. Dima aus der Nachbarabteilung winkte. „Wie läuft es mit deinem Vortrag?“

„Es ist in Ordnung. Ich spreche in einer Stunde.“

„Wir sehen uns danach. Viel Glück!“

Sie nickte und ging zu ihrem Platz. In zwei Jahren hatte sich alles grundlegend verändert. Der Job ihrer Träume, die neue Wohnung, das Auto, der Urlaub in Italien im letzten Sommer. Und vor allem — sie mochte sich selbst endlich.

„Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, wo die Registrierung ist?“ fragte ein weiblicher Stimme von der Seite.

Olya drehte sich um und erstarrte. Irina Petrowna. Die gleiche strenge Frisur, der gleiche arrogante Blick, nur ihre Falten waren mehr geworden.

„Dort, an der Theke“, wies Olya den Weg.

Irina Petrowna schaute genauer hin und runzelte die Stirn:

„Entschuldigung, aber kennen wir uns?“

„Vielleicht.“

„Sie sehen sehr ähnlich aus wie… Allerdings, das kann nicht sein.“

Olya schwieg. Es war interessant zu beobachten, wie die ehemalige Schwiegermutter versuchte zu verstehen, wer ihr gegenüberstand.

„Mein Gott!“ Irina Petrowna schlug die Hände zusammen. „Sie sind es! Olya! Aber wie… also…“

„Guten Tag, Irina Petrowna.“

„Ich habe Sie überhaupt nicht erkannt! Sie haben sich so verändert!“

Ja, das kann einen schon überraschen. Anstelle einer grauen Maus in einem billigen Kleid steht da jetzt eine selbstbewusste Frau in einem teuren Anzug. Schlanke Figur, professionelles Make-up, perfekte Haltung.

„Was machen Sie hier?“ fragte Irina Petrowna mit kaum verborgener Verwunderung.

„Ich arbeite. Und Sie?“

„Ich… mein Sohn ist jetzt im IT-Bereich, bat mich zu kommen und nachzuschauen. Aber Sie… in welcher Funktion?“

„Projektmanagerin bei TechSolutions. Ich halte heute einen Vortrag.“

Irina Petrowna blinzelte einige Male:

„Vortrag? Sie?“

„Was überrascht Sie daran?“

Eine Pause dehnte sich aus. Olya sah, wie in dem Kopf der Frau Zahnräder rotierten. Offensichtlich war die neue Information nicht simplifiziert.

„Einfach… vor zwei Jahren waren Sie…“

„Eine andere. Ja, das war ich.“

„Und wie haben Sie… also, wann haben Sie das gemacht?“

„Es gibt Zeit, wenn man weiß, was man will.“

Ein Murmeln erfüllte den Raum — die erste Sektion begann. Olya sah auf die Uhr:

„Entschuldigen Sie, ich muss mich vorbereiten.“

„Warten Sie!“ Irina Petrowna packte sie am Ärmel. „Und Andrei… reden Sie noch miteinander?“

„Nein. Und warum?“

„Er ist immer noch ledig. Er findet einfach keine passende Frau.“

Olya lächelte:

„Vielleicht sind seine Standards zu hoch?“

Irina Petrowna errötete. Der Sticht traf sein Ziel.

„Ich habe damals… vielleicht zu früh geurteilt.“

„Vielleicht.“

„Sie haben sich so verändert! Es ist einfach nicht zu fassen! Eine ganz andere Person.“

„Ich bin dieselbe. Ich habe mich nur entfaltet.“

Der Organisator der Konferenz trat an Olya heran:

„Olga Viktorovna, in zehn Minuten beginnt Ihr Vortrag. Sind Sie bereit?“

„Natürlich.“

Er ging. Irina Petrowna schaute mit offenem Mund:

„Olga Viktorovna? Sie werden mit „Sie“ angesprochen?“

„Seltsam, oder?“ Olya lächelte. „Ich muss gehen, sie warten auf mich.“

Sie drehte sich um und ging zur Bühne. Sie fühlte den erstaunten Blick der ehemaligen Schwiegermutter auf ihrem Rücken und triumphierte innerlich.

Olya beendete ihre Präsentation unter Applaus. Der Vortrag war großartig verlaufen — einige Leute kamen, um ihre Kontaktdaten auszutauschen und eine Zusammenarbeit vorzuschlagen. Sie strahlte vor Freude.

„Bravo!“ Dima klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter. „Du bist einfach großartig!“

„Danke. Gehst du zum Buffet?“

„Natürlich. Und du?“

„Ja, ich habe schon Hunger.“

Im Foyer wartete Irina Petrowna. Sie stand nervös an einer Säule und nestelte an ihrer Tasche.

„Darf ich mit Ihnen sprechen?“ trat sie an Olya heran.

„Ich höre.“

„Ich habe Ihren Vortrag gesehen. Um ehrlich zu sein, habe ich nicht die Hälfte verstanden, aber alle waren begeistert.“

„Danke.“

„Sagen Sie… sind Sie glücklich?“

Eine merkwürdige Frage. Olya dachte einen Moment nach:

„Ja. Sehr.“

„Haben Sie jemanden?“

„Ja.“

„Ernsthafte Beziehungen?“

„Ich weiß noch nicht. Mal sehen.“

Irina Petrowna nickte und sagte plötzlich:

„Ich habe mich geirrt. Vor zwei Jahren. Ich habe mich sehr geirrt.“

„Worüber genau?“

„Über Sie. Ich dachte, Sie… na ja, passen nicht zu meinem Sohn. Jetzt verstehe ich — er passte Ihnen nicht.“

Olya schwieg. Was sollte sie dazu sagen?

„Entschuldigen Sie mich bitte?“

„Wofür sollte ich mich entschuldigen? Sie haben mir geholfen.“

„Geholfen?“ Irina Petrowna schaute überrascht.

„Natürlich. Wenn es Ihre Worte nicht gegeben hätte, wäre ich eine graue Maus geblieben. Vielen Dank.“

„Aber ich wollte Sie beleidigen!“

„Sie haben es getan. Und das hat mir gut getan.”

Irina Petrowna blinkte verwirrt:

„Ich verstehe nicht…“

„Manchmal brauchen Menschen einen Tritt, um wach zu werden. Sie haben mir diesen gegeben.“

„Bedeutet das, Sie sind nicht böse?“

„Wieso? Wut ist Energie, die verschwendet wird. Es ist besser, sie für Veränderungen zu nutzen.“

Ein großer Mann in einem teuren Anzug trat an Olya heran:

„Olya, möchtest du dich mit einem Investor aus Moskau bekannt machen?“

„Natürlich.“ Olya wandte sich an Irina Petrowna: „Entschuldigung, ich muss arbeiten.“

„Warten Sie! Und Andrei… können Sie sich treffen?“

Olya schüttelte den Kopf:

„Warum in die Vergangenheit zurückkehren? Ich habe jetzt ein anderes Leben.“

„Aber er hat sich verändert! Er ist selbstständiger geworden!“

„Ich freue mich für ihn. Aber für mich ist es nicht mehr interessant.“

Irina Petrowna seufzte:

„Ich verstehe. Es ist einfach schade, so eine Frau zu verlieren…“

„So ist das Schicksal.“, sagte Olya lächelnd. „Auf Wiedersehen, Irina Petrowna.“

Sie ging voraus, um den Investor kennenzulernen. Neue Möglichkeiten, neue Horizonte, neue Herausforderungen — das waren die Dinge, die sie interessierten.

Und Irina Petrowna stand und sah ihr nach. Vielleicht verstand sie zum ersten Mal im Leben, dass Geld und Status nicht alles sind. Das Wichtigste ist innere Stärke und Selbstvertrauen.

Olya blickte nicht zurück. Warum? Die Vergangenheit ist vergangen. Was vor ihr lag, war ein interessantes Leben voller neuer Leistungen und Erfolge.

Und alles das dank einem einfachen Satz: „Du bist zu gewöhnlich für meinen Sohn.“ Wie schön, dass Irina Petrowna das damals ausgesprochen hat. Sonst hätte Olya niemals erfahren, wozu sie fähig ist.

Manchmal werden die schmerzhaftesten Schläge zu Beginn der schönsten Verwandlungen. Und dafür sollte man sogar den Feinden dankbar sein.