Die Dämmerung schlich sich langsam über mein kleines Dorf, Saint-Roch-sur-Saône. Mit sechsundsiebzig Jahren stehe ich wie gewohnt vor dem ersten Hahnenschrei auf, eine Routine, die ich über ein halbes Jahrhundert gepflegt habe. Meine Hände, vom Wetter gezeichnet und rissig, scheinen aus der gleichen Erde zu bestehen, die ich betrete. In meinem alten, steinernen Zuhause, dessen Dach von der Zeit geschwärzt ist, lebe ich alleine. Die Armut war stets mein stiller Begleiter; nicht als Strafe, sondern als Schicksal. Klagen ist mir fremd, ich verlange nichts von der Welt. Ich heiße Amélie Thuret und habe erkannt, dass das Überleben nicht auf dem basiert, was wir besitzen, sondern auf dem, was wir ertragen.
An diesem Morgen lag der Duft von Regen in der Luft. Das treue Wasser der Saône flüsterte leise. Mit meinem Metalleimer machte ich mich auf den Weg zur Uferkante, meine nackten Füße süßen im frischen Schlamm. Während ich Wasser schöpfte, hörte ich in der Ferne den Schrei eines Schnepfen.
Plötzlich riss ein dumpfer Ton die Stille auseinander. Ein Aufprall. Ich runzelte die Stirn, blieb stehen und lauschte.
„Das wird nur ein Zweig sein“, dachte ich… doch das Geräusch wiederholte sich, begleitet von einem leisen, fast menschlichen Stöhnen.
Mein Herz begann schneller zu schlagen. Ich trat ein paar Schritte in Richtung Fluss. Etwas Dunkles schwebte zwischen den Wellen. Ein massiver, unregelmäßiger Klumpen. Ein Schauer durchlief meinen Rücken.
— Der Fluss gibt nie zurück, was er verschluckt, murmelte ich.
Doch meine Füße bewegten sich wie von selbst. Die Gestalt kam näher, und plötzlich erkannte ich eine menschliche Form. Ein Körper. Festgebunden mit dicken Seilen.
Ich ließ den Eimer fallen und trat ins kalte Wasser.
— Halten Sie durch! rief ich, auch wenn der Mann mich nicht hören konnte.
Das Wasser erreichte mir die Taille, meine alten Knochen protestierten, doch die Furcht trieb mich an. Ich packte den leblosen Körper und zog mit aller Kraft. Endlich gelang es mir, ihn ans Ufer zu bringen, wo ich erschöpft zusammenbrach.
Er schien tot zu sein.
Ich legte meine Finger an seinen Hals… ein Puls. Schwach, aber spürbar.
— Gott hat ihn noch nicht zurückgerufen, stellte ich fest.
Ich schleppte ihn nach Hause, entzündete das Feuer und im Licht der Flammen sah ich ihn genauer. Er war kein gewöhnlicher Arbeiter. Seine Hände waren zart. Seine Kleidung, teuer. An seinem Handgelenk trug er eine Golduhr. Und auf seinem Siegelring waren Initialen eingraviert: LDM.
Ich erinnerte mich an das Gerede im Dorf… an einen Namen… eine Nachricht…
Laurent Desmonts, der verschwundene Magnat.
Der Mann, den ganz Frankreich suchte.
Er öffnete die Augen, gerade genug, um zu murmeln:
— Man… wollte… meinen Tod.
In dieser Nacht durchbrach das Brummen von Motoren die Stille. Sie hielten vor meiner Tür.
Die Scheinwerfer beleuchteten meine Fassade, als wollten sie sie durchdringen. Mein altes Herz hämmert gegen meine Rippen.
Laurent öffnete halb die Augen. Seine Stimme klang rau:
— Öffnen Sie nicht… wenn sie eintreten, bin ich ein toter Mann.
Ich zitterte, trat jedoch nicht zurück. Ich griff mechanisch nach meinem alten Küchenmesser. Drei Gestalten stiegen aus dem Transporter. Kein Wort. Kein Aufruf. Sie kamen näher… als wüssten sie bereits, dass er hier war.
Es klopfte. Einmal. Zweimal. Dreimal.
— Wir wissen, dass er bei Ihnen ist, Madame, sagte eine kalte Stimme. — Wir gehen rein, ob mit Ihrem Einverständnis oder nicht.
Mein Atem wurde schwer. In diesem Moment erinnerte ich mich an etwas, das mein verstorbener Mann oft wiederholte: _„Bewaffnete Männer fürchten sich nur vor zwei Dingen: dem Lärm… und der Wahrheit.“_
Und ich konnte ihnen zumindest eines von beiden geben.
Ich packte das alte, rostige Gewehr, das an der Wand hing – leer, aber das wussten sie nicht – und zielte auf das Fenster.
— Ein Schritt weiter, und ich mache Sie in Stücke! schrie ich mit einer Kraft, die mir unbekannt war.
Ein eisiges Schweigen fiel. Die Männer schauten sich an. Zögerten. Dann zogen sie sich zurück. Sie stiegen wieder in den Transporter und fuhren davon.
Ich schloss die Tür und blieb atemlos. Als ich mich zu Laurent umdrehte, war er wach und sah mich mit einem merkwürdigen Ausdruck an – einer Mischung aus Dankbarkeit und Entsetzen.
— Sie hätten nicht gehen sollen, murmelte er.
— Wie das? fragte ich, völlig verwirrt.
Er schluckte.
— Denn das waren nicht meine Feinde… das waren meine Leibwächter.
Ich erstarrte.
— Ihre… Leibwächter? Aber Sie waren gefesselt… halb tot…
Laurent senkte den Blick. Die Flammen warfen Schatten auf sein gepeinigtes Gesicht.
— Amélie… ich war kein Opfer. Ich habe meinen eigenen Tod inszeniert.
Der Boden schien sich unter meinen Füßen zu bewegen.
— Sie möchten sagen, dass…?
— Ich musste die Illusion eines Entführungsversuchs erwecken. Ich musste aus Frankreich fliehen. Ich hatte Millionen veruntreut. Meine Familie, meine Partner… alle glaubten, ich wäre tot. Es war perfekt. Aber meine Männer wollten mich übertölpeln. Sie haben mich niedergeschlagen, gefesselt und ins Wasser geworfen. Sie dachten, ich würde dort enden.
Mir fehlten die Worte.
— Und Sie — sagte er mit einer verzerrten Art von Lächeln — haben ihre Pläne durchkreuzt. Und auch meine.
Ein schreckliches Frösteln überkam meine Brust.
— Und nun… was haben Sie vor? fragte ich.
Er richtete sich auf, sein Blick wurde hart.
— Was nötig ist, um nie wieder aufzutauchen. Wenn ich zurückkomme, wird man auch nach der Person suchen, die mich gerettet hat.
Sein Blick ruhte auf mir. Berechnend.
— Und ich kann keine Zeugen hinterlassen.
Meine Hand suchte nach dem Messer auf dem Tisch. Doch plötzlich durchbrach ein lautes Knacken die Luft.
Ein Schuss.
Laurent brach zusammen, ein rotes Loch an seiner Schläfe.
Ich wandte mich entsetzt um.
Auf der Schwelle, mit seinem alten Jagdgewehr, stand mein Nachbar, Herr Édouard, zweiundachtzig Jahre alt, so diskret wie eine Wildkatze.
— Ich habe die Spur dieser Männer verfolgt, sagte er ruhig. — Und auch Ihre, als ich sie ohne ihn wegfahren sah. Ich dachte, etwas stimmte nicht.
Ich kämpfte um Luft.
— Édouard… Sie… warum?
Langsam steckte er seine Waffe weg.
— Denn dieser Mann hat mein Leben vor vierunddreißig Jahren zerstört. Er hat die Firma, in der ich arbeitete, ausgeraubt und zweihundert Familien ins Elend gestürzt. Auch meine.
Er trat an die Leiche heran und spuckte neben ihr.
— Ganz Frankreich suchte ihn, um ihn zu retten. Ich suchte ihn, um zu beenden, was er begonnen hatte.
Ein schweres Schweigen erfüllte den Raum.
— Und jetzt? fragte ich mit einer winzigen Stimme.
Er sah mich mit einer kalten Ruhe an.
— Jetzt… nichts. Für die Welt wird Laurent Desmonts verschwunden bleiben.
Und Sie… haben nichts gesehen. Richtig?
Ich nickte ganz langsam.
Er drehte sich um, bereit zu gehen, hielt aber vor der Tür inne.
— Nicht jeder, der ertrinkt, verdient es, gerettet zu werden.
Dann verschwand er im Morgennebel.
Seit jenen Tagen hat die Saône zwei Geheimnisse bewahrt:
- das eines Milliardärs, der aus den Toten zurückgekehrt ist…
- und das einer alten Frau, die gelernt hat, dass einige Lebendige kein Leben bringen.