Ein Neuanfang in Annecy: Élises Geschichte

Der Morgen hatte sanft über Lyon angebrochen, als goldenes Licht zart zwischen den roten Dächern der Fourvière-Hügel schimmerte. Élise schlenderte langsam durch ihr kleines Apartment im Viertel Croix-Rousse, ihre Hand lag auf ihrem runden Bauch, der kurz davor stand, zu platzen. Jeder Schritt war beschwerlich, doch trotz der Erschöpfung sprach sie mit Liebe:

„Halt durch, mein Schatz… nur noch ein wenig, und bald werden wir uns endlich kennenlernen.“

Marc, ihr Ehemann, schenkte ihr jedoch keinen einzigen Blick.

Seit ihrer Schwangerschaft hatte sich der ehemals fürsorgliche und voll von Versprechungen seiende Mann in einen Fremden verwandelt. Er beklagte sich über alles: den Geruch des Essens, ihren leichten Schlaf, ihren angespannten Atem. Er behandelte sie, als ob die Mutterschaft sie unsichtbar gemacht hätte.

Ein unerwarteter Schmerz

Eines Abends, während Élise sorgfältig die kleinen Kleidungsstücke für das Baby faltete, sprach er einen Satz, der ihr das Herz brach:

„Nächsten Monat wirst du bei deinen Eltern in Annecy entbinden. Hier ist alles zu teuer. Dort wird sich eine Hebamme für ein paar Groschen um dich kümmern. Ich werde mein Geld nicht zum Fenster hinauswerfen.“

Élise sah ihn an, während Tränen in ihren Augen aufstiegen.

„Aber Marc… ich bin im neunten Monat. Die Reise ist anstrengend… ich könnte unterwegs entbinden…“

Er zuckte nur mit den Schultern, ohne Mitgefühl.

„Das ist dein Problem. Wenigstens hörst du dann auf zu jammern.“

In dieser Nacht erkannte Élise, dass der Mann, den sie einst liebte, nicht mehr existierte.

Zwei Tage später, mit einem Kloß im Hals, bestieg sie einen TGV nach Annecy, während sie eine alte Reisetasche hielt.

Am Bahnhof wartete ihre Mutter, Madame Fontaine, auf sie. Als sie sie so blass herabsteigen sah, umarmte sie sie fest.

„Meine Kleine… jetzt bist du zu Hause. Mama wird sich um dich kümmern.“

In der Zwischenzeit, kaum hatte Élise Lyon verlassen, stürzte Marc zu Chloé Morel, seiner jungen Assistentin.

Auch sie war schwanger… und hatte Marc geschworen, es sei ein Junge.

„Endlich ein Erbe!“ prahlte er.

Er ging keine Kosten ein: private Suite in der Klinik Saint-Antoine, erstklassige Betreuung, nahezu 8.000 Euro bereits bezahlt.

Ein überraschendes Ereignis

Am Tag der Geburt kam Marc mit einem großen Strauß Tulpen an.

Als das Baby geboren wurde, schickte er sofort ein Foto an alle seine WhatsApp-Gruppen:

„Mein Sohn! Er sieht mir so ähnlich!“

Doch seine Freude währte nicht lange.

Eine Krankenschwester rief ihn, um einige Dokumente zu unterschreiben. Stolz ging Marc in die neonatologische Abteilung.

Als sich die Tür öffnete, erstarrte sein Lächeln.

Vor ihm stand Madame Fontaine, Élises Mutter, mit verschränkten Armen und frostigem Blick.

„S… Sie, Madame Fontaine? Was machen Sie hier?“ stammelte Marc.

Sie stellte ein Fläschchen Säuglingsnahrung auf den Tisch, vollkommen ruhig.

„Ich bin gekommen, um meinen Schwiegersohn und den Sohn, auf den Sie so stolz sind, zu sehen.“

„Sie irren sich… Chloé ist nur eine Freundin, die ich unterstütze…“ versuchte Marc nervös zu erklären.

Madame Fontaine hob die Hand, um ihn zu stoppen.

Sie zog einen Umschlag aus ihrer Tasche.

„Wissen Sie, was das ist? Ein DNA-Test. Ich habe ihn angefordert, kurz nach der Geburt des Babys.“

Langsam öffnete sie den Umschlag und genoss jeden Augenblick.

„Und raten Sie mal… das Kind ist nicht Ihres, Marc. Nicht einmal ein Tropfen.“

Marc erstarrte, blass.

„Das kann nicht sein… Chloé hat mir versichert…“

Madame Fontaine gab ein kurzes, bitteres Lachen von sich.

„Sie haben meine Tochter aus dem Haus geworfen, weil sie ein Mädchen erwartete. Sie haben sie aus ihrem Zuhause geschickt, um ein paar Euro zu sparen. Aber für diese Frau haben Sie Tausende ausgegeben. Und wofür? Um das Kind eines anderen großzuziehen.“

Sie steckte die Dokumente wieder in ihre Tasche und machte sich auf den Weg zur Tür.

„Élise geht es gut. Sie hat ein wunderschönes, gesundes Mädchen zur Welt gebracht. Und keine Sorge… sie hat jetzt einen Vater. Aber das sind Sie nicht mehr. Von nun an brauchen meine Tochter und meine Enkelin keinen Feigling wie Sie.“

Die Tür schlug zu und ließ Marc auf einem Stuhl zusammenbrechen.

Das Schreien eines Neugeborenen hallte im Flur wider, das gleiche Schreien, das ihm vor wenigen Stunden wie ein Wunder erschienen war.

Jetzt war es eine Ironie.

Ein neuer Anfang

Einige Wochen später informierte die Klinik ihn darüber, dass er eine Rechnung von über 12.000 Euro begleichen müsse.

Chloé war verschwunden und hatte alle Schulden auf ihren Namen hinterlassen.

Die Wohnung, die er für sie gekauft hatte, wurde gepfändet.

Seine Ersparnisse waren dahin.

Sein Stolz, zerbrochen.

In Annecy erholte Élise sich langsam und allmählich.

Die Abendsonne spiegelte sich im türkisfarbenen See, während Madame Fontaine sie beobachtete, wie sie ihr Baby auf der Terrasse wiegte.

„Siehst du, meine Tochter? Das Leben bringt jeden schließlich immer an seinen Platz zurück. Du hast die Liebe. Er… hat nur seine Schuld.“

Élise küsste die Stirn ihres kleinen Mädchens, ein fragiles Lächeln auf ihren Lippen.

Der milde Wind strömte von den Bergen herunter und ließ die Blätter der Apfelbäume im Garten zittern.

Und zum ersten Mal seit langer Zeit atmete Élise tief durch.