„Schatz, warum überweisen wir dein Erbe nicht einfach auf unser gemeinsames Konto?“ schlug ihr Ehemann vor, ohne zu ahnen, dass sie bereits von seinen Scheidungsplänen wusste.

Anastasia ordnete die frischen Brötchen und nahm ihren gewohnten Platz hinter der Theke ein. Der Duft von frisch gebackenem Brot erfüllte den kleinen Laden. Sie liebte es, in diesem Wohnviertel von Jekaterinburg zu arbeiten. Für sie war dieser Laden weit mehr als nur ein Geschäft. Es war das Vermächtnis ihrer Eltern.

Die Türglocke klingelte, und eine ältere Dame betrat das Geschäft.

„Guten Morgen, Anna Petrowna!“ Anastasia lächelte warm. „Wie immer ein Laib Borodino-Brot und ein Päckchen Hüttenkäse?“

„Ach, Nastenka“, seufzte die alte Frau. „Du merkst dir immer, was ich brauche. Genau deshalb liebe ich deinen Laden – hier fühlt es sich an wie zu Hause.“

Anastasia war stolz darauf, fast alle Stammkunden beim Namen zu kennen. Für viele Menschen aus der Nachbarschaft war dies nicht nur ein Lebensmittelladen. Es war ein Ort des Zusammenkommens, ein Platz, an dem man Neuigkeiten austauschte und das Leben besprach.

Als der morgendliche Kundenansturm nachließ, setzte sich Anastasia auf einen Stuhl und versank in Gedanken. Heute war der Jahrestag des Todes ihrer Eltern. Drei Jahre war es her, dass ein Autounfall ihr Leben veränderte. Seitdem führte sie das Geschäft alleine. Sie erinnerte sich daran, wie ihr Vater ihr die Buchhaltung beibrachte und ihre Mutter ihr zeigte, wie man die Regale ordnet. Sie hatten sie schon damals auf das Erwachsenenleben vorbereitet.

Plötzlich riss das Klingeln ihres Handys sie aus ihren Gedanken. Der Name ihres Mannes leuchtete auf dem Bildschirm auf.

„Hallo, Witya“, meldete sie sich.

„Nastja, wann hast du heute Feierabend?“ Victors Stimme klang ungewöhnlich fröhlich.

„Wie immer um sieben. Warum?“

„Perfekt! Ich habe eine Überraschung für dich. Treffen wir uns um acht in unserem Lieblingsrestaurant, einverstanden?“

Anastasia lächelte. Trotz drei Jahren Ehe verstand Victor es immer noch, sie zu überraschen.

„Okay, ich freue mich darauf.“

Nachdem sie aufgelegt hatte, kehrte sie zu ihrer Arbeit zurück, doch ihre Gedanken wanderten immer wieder zu dem geplanten Abend.

Was hatte Victor wohl vorbereitet? Hatte er endlich eine Arbeit gefunden?

Seit Monaten war Witya arbeitslos und arbeitete an einem Geschäftsplan für ein Startup. Anastasia unterstützte ihn so gut sie konnte, aber sie machte sich zunehmend Sorgen um ihre finanzielle Zukunft.

Als sie am Abend im Restaurant ankam, sah sie Victor sofort. Er saß an einem entfernten Tisch und spielte nervös mit einem Glas in seinen Händen.

„Hallo, mein Schatz“, sagte Anastasia und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Also, was ist die Überraschung?“

Victor grinste breit.

„Nastja, ich habe endlich einen Investor für mein Startup gefunden!“

Anastasia klatschte vor Freude in die Hände.

„Witya, das ist großartig! Herzlichen Glückwunsch!“

„Ja“, nickte Victor. „Aber es gibt eine Bedingung. Um zu zeigen, dass ich es ernst meine …“ Er zögerte einen Moment, beobachtete ihre Reaktion. „Ich muss auch selbst investieren. Wir brauchen also ein Startkapital. Und ich dachte …“

Anastasia spürte eine Anspannung in sich aufsteigen. Sie ahnte bereits, worauf er hinauswollte.

„Vielleicht sollten wir deinen Laden verkaufen?“ platzte Victor heraus. „Wir investieren das Geld in mein Projekt, und in ein, zwei Jahren sind wir Millionäre!“

Anastasias Magen zog sich zusammen. Den Laden verkaufen? Die einzige Erinnerung an ihre Eltern? Die einzige Einkommensquelle?

„Witya, bist du wahnsinnig? Du weißt genau, was dieser Laden mir bedeutet“, sagte sie leise.

„Ach, Nastja!“ Victor winkte ab. „Es ist doch nur ein Geschäft, nur ein Gebäude mit Waren. Aber wir haben die Chance, richtig reich zu werden!“

Anastasia schüttelte den Kopf.

„Nein, Witya. Das kann ich nicht. Dieser Laden ist nicht nur ein Geschäft, er ist ein Teil von mir und ein Andenken an meine Eltern. Ich habe hier Stabilität und einen guten Ruf. Ist dein Startup wirklich wichtiger als das?“

Victor verzog das Gesicht.

„Na gut, dann lass uns wenigstens darüber zu Hause reden. Schau dir den Geschäftsplan an! Dann wirst du unsere Chancen verstehen!“

Zögernd stimmte Anastasia zu, obwohl sie ein ungutes Gefühl hatte.

Die nächsten Wochen wurden zur Qual. Victor sprach ununterbrochen von seinem Projekt, versuchte sie zu überzeugen, den Laden zu verkaufen. Er zeigte ihr Zahlen, präsentierte Diagramme, versprach ein goldenes Leben.

„Nastja, verstehst du nicht? Dieser kleine Laden gehört der Vergangenheit an“, sagte Victor. „Aber mein Projekt ist ein Schritt in die Zukunft! Stell dir vor, wir haben bald eine ganze Kette von Geschäften in ganz Russland!“

Doch je mehr er drängte, desto stärker wurde Anastasias Widerstand. Etwas an Victors Verhalten beunruhigte sie. Er wurde gereizter, launischer, flüsterte oft mit jemandem am Telefon und schloss sich in seinem Arbeitszimmer ein.

Eines Tages hörte Anastasia zufällig ein Gespräch mit an.

„Mach dir keine Sorgen, Kolyan“, sagte Victor. „Alles läuft nach Plan. Diese Dumme wird bald zustimmen, den Laden zu verkaufen. Dann ziehen wir schnell die Scheidung durch, und das Geld gehört uns.“

Anastasia erstarrte. Ihr Herz pochte wild, und ein einziger Gedanke hämmerte in ihrem Kopf: Wie konnte er nur?

Sie sammelte all ihre Kraft, ging leise in ihr Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie brauchte Zeit, um sich zu fassen und zu entscheiden, was sie tun sollte.

Die nächsten Tage fühlten sich an wie ein Traum. Mechanisch erledigte Anastasia ihre Arbeit im Laden, lächelte die Kunden an, doch in ihr tobte ein Sturm aus Wut und Enttäuschung. Dann wurde ihr klar, dass sie sich rächen wollte.

Victor bemerkte die Veränderung nicht. Er schwärmte weiterhin von seiner glorreichen Zukunft und wie viel sie durch den Verkauf des Ladens gewinnen würden.

„Nastja, denk doch mal nach“, sagte er eines Abends beim Essen. „Warum brauchen wir diesen kleinen Laden, wenn wir bald eine ganze Kette besitzen können? Du wirst nicht mehr nur hinter der Theke stehen, du wirst alles leiten!“

Anastasia nickte scheinbar nachdenklich, aber innerlich begann sie bereits, einen Plan zu schmieden.

„Weißt du, Witya“, sagte sie am nächsten Tag, „du hast vielleicht recht.“

Victors Augen leuchteten auf.

„Wirklich? Du stimmst zu?“

„Noch nicht ganz“, antwortete sie. „Ich dachte nur, vielleicht sollten wir den Laden auf beide Namen überschreiben. Damit wir ihn gemeinsam weiterentwickeln können.“

Victor war einen Moment lang überrascht, doch dann nickte er eifrig.

„Das ist eine großartige Idee! Ich wusste, dass du es einsehen würdest!“

Am nächsten Tag suchte Anastasia einen Anwalt auf – nicht, um den Laden auf beide Namen zu übertragen, sondern um sicherzustellen, dass er nur ihr gehörte.

Als sie nach Hause kam, saß Victor am Telefon. Er legte schnell auf, als er sie sah.

„Na, hast du die Unterlagen erledigt?“ fragte er.

„Ja“, antwortete Anastasia ruhig. „Bald gehört der Laden ganz offiziell unserer Zukunft.“

Zwei Wochen später brachte Victor die endgültigen Papiere.

„Hier sind die Dokumente für die Übertragung deines Erbes auf unser gemeinsames Konto“, sagte er. „Lass uns unterschreiben und durchstarten!“

Anastasia schaute ihn direkt an.

„Victor, ich weiß über deine Pläne Bescheid.“

Victor erblasste.

„Was?“

„Ich habe dein Gespräch mit Nikolai gehört. Du wolltest mich betrügen.“

Victor versuchte sich herauszureden, doch Anastasia unterbrach ihn und legte ihm die Scheidungspapiere vor.

„Hier sind die Dokumente. Du hast eine Woche, um auszuziehen.“

Victor war besiegt.

Als Anastasia am nächsten Morgen ihren Laden betrat, wusste sie, dass sie das Richtige getan hatte. Sie hatte nicht nur ihr Geschäft gerettet – sie hatte sich selbst gerettet.