Die Dienerin hatte Mitleid mit ihm und gab dem verwaisten Jungen zu essen, während die Besitzer weg waren. Als das wohlhabende Paar zurückkehrte, waren sie sprachlos angesichts dieses Anblicks.
Wladimir und Ljudmila Grigorjew hatten Julia Antonowna viele Jahre lang als Hausangestellte vertraut.
Eines Tages, während sie weg waren, beendete Julia ihre Hausarbeit und beschloss, sich am Fenster auszuruhen.
Da sah sie einen dünnen Jungen in abgetragener Kleidung, der langsam am Zaun entlangging.
„Er muss hungrig sein“, dachte Julia mitfühlend.
Ein Blick auf die Uhr im Wohnzimmer und die Erkenntnis, dass das Paar nicht so bald zurückkehren würde, veranlassten sie, nach draußen zu gehen und mit ihm zu sprechen.
„Wie heißt du, Kleiner?“, fragte sie leise.
„Wasja“, antwortete der Junge und spähte misstrauisch unter seinem zerzausten Haar hervor.
„Komm mit, Wassja. Ich gebe dir ein Stück frisch gebackenen Apfelkuchen“, bot sie an, und der Junge folgte ihr ohne zu zögern.
Sein Magen knurrte schon seit Stunden, da er den ganzen Tag nichts gegessen hatte.
In der Küche schnitt Julia ein großzügiges Stück Kuchen ab und stellte es vor Wassja.
„Der ist so lecker!“, rief er und kaute begeistert.
„Meine Mutter hat immer so einen Kuchen gebacken“, sagte er.
„Wo ist deine Mutter jetzt?“, fragte Julia sanft. Wassja hörte auf zu kauen und senkte den Blick.
„Ich habe sie lange gesucht … sie ist verschwunden“, flüsterte er traurig.
„Iss ruhig“, ermutigte Julia ihn. „Du wirst sie bestimmt finden.“
In diesem Moment öffnete sich die Haustür und Wladimir und Ljudmila betraten das Haus. Julia zuckte beim Geräusch ihrer Schritte zusammen.
„Und wer ist unser Gast?“, fragte Wladimir, überrascht, den Jungen in der Küche zu sehen.
„Wen hast du hierhergebracht, Julia?“, fügte er ernst hinzu.
„Dieses Kind sucht seine Mutter. Es hatte Hunger, also habe ich es gefüttert“, erklärte sie ruhig und zuckte mit den Schultern.
„Willst du jetzt einfach irgendjemandem etwas zu essen geben, ohne uns zu fragen?“, protestierte Wladimir.
Als Wasja das hörte, fing er an zu weinen.
„Ich gehe“, sagte er leise und ließ den unvollendeten Kuchen auf dem Teller stehen.
Ljudmila, stets mitfühlender als ihr Mann, kam näher.
„Woher kommst du?“, fragte sie zärtlich.
„Ich lebe bei meinem Großvater, aber er ist sehr streng. Er schreit mich an und schlägt mich manchmal.
Deshalb bin ich weggelaufen“, gestand Wasja und holte ein altes, zerknittertes Foto aus der Tasche seiner zerrissenen Jeans.
„Das sind meine Eltern. Wir haben zusammen gewohnt“, sagte sie, während sie dem Paar das Foto überreichte und sich die Tränen abwischte.
Ljudmila erstarrte, als sie das Bild sah … es war ihre Tochter Warja!
„Wolodja, sieh mal … es ist unsere Tochter!“, rief sie mit zitternder Stimme und reichte das Foto ihrem Mann.
Wladimir war schockiert.
„Wasja, wie hast du dieses Foto bekommen?“, fragte er.
„Ich habe es von meinem Großvater genommen. Auf der Rückseite stand eine Adresse, und ich dachte, meine Mutter könnte hier sein“, erklärte Wasja und beruhigte sich etwas.
„Mein Großvater sagt, meine Mutter hätte mich verlassen, aber ich glaube ihm nicht.“
„Das kann nicht sein … das kann einfach nicht sein“, wiederholte Ljudmila und erinnerte sich an Warjas Flucht mit einem Zigeuner namens Manusch.
Jahrelang hörten sie nichts von ihr, bis sie zurückkehrte und kurz darauf einen Unfall hatte.
Seitdem lebten sie allein in der Villa.
„Und dein Vater?“, fragte Wladimir.
„Er ist vor sechs Monaten gestorben“, antwortete Wasja unter Tränen.
Das Paar war schockiert. Sie hatten ihren Enkel gefunden! Müde von der Einsamkeit beschlossen sie, ihn zu behalten.
„Wir bringen dich in dein Zimmer, Kleiner“, sagte Ljudmila liebevoll.
„Kommt meine Mutter?“, fragte Wasja.
„Deine Mutter ist jetzt bei deinem Vater“, antwortete sie traurig.
Später füllten sie die Papiere für seine Adoption aus.
Großvater hatte keine Einwände, als er erfuhr, dass Wasja bei wohlhabenden und freundlichen Menschen sein würde.
Julia Antonowna war überglücklich. Dank dieser freundlichen Geste hatte die Familie wieder Freude gefunden.
Mit der Zeit war Wasja kein hilfloses, hungriges Kind mehr, sondern ein wohlbehüteter, gebildeter und vor allem geliebter Mensch.