– Alla, ich bin’s!
Polinas Stimme schallte durch den Flur und hallte durch den engen Korridor. Die Schlüssel klimperten, als sie in eine Keramikvase fielen – ein Ritual, das ihre Mutter schon in ihrer Kindheit begonnen hatte. Sie zog ihre Schuhe aus, richtete ihr tagsüber zerzaustes Haar und ging ins Wohnzimmer. Sie stellte sich ein Treffen mit ihrer Schwester und den Duft von heißem Tee vor.
Doch kaum hatte sie die Schwelle überschritten, erstarrte sie wie angewurzelt, als wäre sie gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Eine Frau um die Fünfzig saß auf dem alten Sofa, das ihre Eltern ihr einst zum vierzehnten Geburtstag geschenkt hatten. Sie betrachtete die Neue mit sichtlichem Interesse, fast trotzig. Die Frau trug einen Morgenmantel – ein Zeichen dafür, dass sie sich hier sehr wohl fühlte.
– Entschuldigung, wer sind Sie? – fragte Polina höflich, aber leicht verwirrt und sah sich nach ihrer Schwester um.
– Und wer sind Sie? – antwortete die Frau im gleichen Ton, regungslos, und musterte den Gast weiter.
„Geschichten in vier Wänden“ © (1040)
Polina lachte unwillkürlich, als sie diese Antwort hörte, doch das Lachen verstummte schnell und wich der Anspannung:
– Willst du ernsthaft ein Fragenspiel spielen? Lass uns erwachsener sein: Wer bist du und warum bist du in der Wohnung meiner Schwester?
Ein etwa sechzehnjähriges Mädchen kam aus dem Schlafzimmer, in dem sie und Alla einst ein Etagenbett geteilt hatten. Ihre Haare waren zerzaust, ihr Gesicht schläfrig – der Ausdruck eines Teenagers nach Schlafmangel.
– Na toll, noch eine mysteriöse Gestalt, – murmelte Polina und rief dann laut: – Boris! Wo bist du? Komm raus und erkläre die Situation!
– Er ist nicht zu Hause, – sagte das Mädchen ruhig und lehnte sich an den Türrahmen.
Polina musterte sie aufmerksam, von ihren zerzausten Haaren bis zu ihren weichen Pantoffeln:
– Dann fangen wir mit Ihnen an. Wie heißen Sie?
– Lena.
Polina nickte der Frau auf dem Sofa zu:
– Und wer ist das?
– Meine Mutter.
Polina schlug sich auf die Knie und schnaubte trotz ihrer Anspannung:
– Wahrscheinlich ist das Polina Stanislawowna? Die Mutter meines zukünftigen Schwiegersohns? Stimmt’s?
– Ja, – die Frau nickte und wurde zum ersten Mal etwas munter. – Sie sind also Polina, Boris’ Schwester?
– Elena, – verbesserte Lena. – Sie heißt Elena, nicht Boris. Er ist mein Bruder.
– Oh, entschuldigen Sie, – Polina Stanislawowna winkte ab. – Das Alter fordert seinen Tribut.
– Nett, Sie kennenzulernen, – antwortete Polina mit trockener Ironie. – Nun erklären Sie mir: Was machen Sie hier? Und vor allem – mit wessen Erlaubnis?
„Was machst du hier?“, antwortete die Schwiegermutter erneut mit einer Frage.
„Verdammt!“, platzte Polina heraus und zitterte bereits vor Ärger. „Bekommen wir jetzt normale Antworten, oder werden wir uns weiterhin wie in einer Komödie mit Fragen bombardieren?“
„Ich kann antworten“, sagte Polina Stanislawowna ruhig, doch es kam keine Antwort.
Polina wandte sich an Lena:
„Hör mal, Mädchen, spricht deine Mutter überhaupt klar und deutlich? Oder hat sie Probleme mit Russisch?“
Lena sah erst ihre Mutter an, dann wieder Polina und fragte plötzlich:
„Wer bist du überhaupt? Warum sollte ich dir etwas erklären?“
„Vielleicht bin ich ein Pferd im Mantel?“, witzelte Polina. „Okay, kurz gesagt: Ich bin Polina, die Schwester von Alla, der Wohnungseigentümerin. Also deine zukünftige Verwandte. Ist es jetzt klarer?“
Währenddessen strich Polina Stanislawowna langsam mit der Handfläche über die Decke, die neben ihr lag – eine Geste heimeliger Behaglichkeit, die Polina nur irritierte.
„Okay, ich versuche es noch einmal“, seufzte Polina. „Was machst du im Haus meiner Schwester?“
Die Schwiegermutter riss ihren Blick von der Decke los:
„Ich sitze.“
„Danke für die wichtige Klarstellung“, bedankte sich Polina sarkastisch. „Aber mich interessiert der Grund für deine Anwesenheit hier.“
„Ich lebe“, antwortete die Frau lakonisch.
Polina spürte, wie sie innerlich kochte, riss sich aber zusammen und überprüfte ihre Vermutungen: Sie blickte ins Schlafzimmer – dort lagen fremde Sachen und ein Koffer, und im Badezimmer fand sie Zahnbürsten und Kosmetika. Zurück im Wohnzimmer ließ sie sich in einen Sessel sinken:
„Jetzt ist alles klarer. Ich möchte nur noch einmal klarstellen: Weiß Alla, dass du hier bist?“
„Ja… ich meine, ich erzähle es dir morgen bestimmt“, zögerte Polina Stanislawowna.
„Einfach genial!“, rief Polina. „Erst ziehst du ein, richtest dich ein und dann beschließt du, zu warnen. Weiß dein Sohn, mein zukünftiger Schwiegersohn, von deinen „Plänen“?
„Natürlich“, nickte die Frau.
„Und kommt es dir nicht seltsam vor, dass du die Vermieterin nicht einmal um Erlaubnis gefragt hast?“
Lena mischte sich ein:
„Warum verhörst du Mama wie eine Ermittlerin? Sie schuldet dir doch nichts!“
Polina wandte den Blick der Lehrerin zu ihr:
„Gehst du zur Schule?“
Das Mädchen nickte.
„Dann denk an die Regeln: Um etwas zu sagen, musst du die Hand so heben“, zeigte Polina die Geste. „Setz dich also auf den Hocker, stütze deine Hände auf die Knie und bleib ruhig sitzen, während die Erwachsenen die Sache klären.“
Lena sah ihre Mutter beleidigt an, doch sie zuckte nur mit den Achseln. Das Mädchen schmollte, nahm aber gehorsam auf dem Hocker Platz.
„Schon besser. Gut gemacht. Und denkt daran: Erwachsene sprechen – Kinder hören zu“, nickte Polina zustimmend. „Nun, Polina Stanislawowna, kommen wir zur Sache. Wie bist du hierhergekommen? Wer hat die Schlüssel?“
„Borja hat sie mir gegeben!“, musste Lena unwillkürlich sagen und vergaß dabei die Anweisungen.
„Was habe ich dir gerade erklärt?“, bemerkte Polina streng. „Jetzt ist es zu spät. Aber die Information ist angekommen. Also, Boris hat dir die Schlüssel gegeben. Und er selbst ist jetzt nicht hier.“