Ich wurde als Kind im Alter von fünf Jahren im Zug ausgesetzt. Heute, mit 25 Jahren, bin ich zu dem Bahnsteig zurückgekehrt, auf dem alles begann.

Vor nicht allzu langer Zeit, ich war kaum fünf Jahre alt, war ich zum ersten Mal allein. Nicht nur allein, sondern in einem riesigen Metallmonster namens „Zug“, dessen Zahnräder auf den Schienen klapperten, als wollten sie meine Kindheitsängste quälen. Zuerst verstand ich nicht, was los war. Um mich herum kamen und gingen Menschen, grau und dunkel gekleidet, mit müden Gesichtern und schweren Taschen. Die Luft roch nach Eisen, dann nach Zigarettenrauch, geräuchertem Fisch und noch etwas anderem – als vermischten sich all die Düfte der vorbeiziehenden Menschen in diesem Waggon. Mama sagte mir, sie wolle kurz rausgehen, „um den Schaffner um Tee zu bitten“. Sie sprach immer sparsam, als fielen ihr die Worte schwer, aber an diesem Tag brauchte sie etwas länger als sonst. Als sie meinen Anzug zuklappte, zitterten ihre Hände. Kaum, aber genug, dass ich es sah. Ich bemerkte alles. Besonders, als die Erwachsenen versuchten, ruhig zu wirken, um die Kinder nicht zu erschrecken.

Sie sah mich an … anders als sonst. Länger. Tiefer. Als wollte sie dieses Bild bewahren oder sich gar verabschieden.

Und dann ging sie einfach. Als ob wir spazieren gingen, ein ganz normaler Zwischenstopp, ein Tag wie jeder andere.

Aber das war kein ganz normaler Tag.

Ich wartete.

Fünf Minuten. Zehn. Dreißig. Eine Stunde. Ich zählte die Sekunden, die mir endlos vorkamen. Ich lauschte jedem Schritt im Gang, jedem harmlosen Wort, jedem Geräusch, das ihre Rückkehr ankündigen könnte. Aber sie kam nicht zurück. Die Zugtüren schlugen zu, der Zug fuhr ab, und ich eilte zum Fenster und presste meine Stirn gegen die Scheibe. Plötzlich war die Welt zu groß geworden und ich zu klein. Ich sah, wie der Bahnsteig schrumpfte, die Gesichter der Menschen verschwammen, und mir wurde klar, dass Mama weg war. Ganz und gar nicht.

Ich war allein. In einer Welt, in der niemand wusste, dass ich verlassen worden war.

Ich weinte nicht. Nicht sofort. Wahrscheinlich, weil man mir immer gesagt hatte: „Jungs weinen nicht.“ Es war ein Teil von mir geworden, obwohl ich das Gefühl hatte, als würde etwas in mir zerbrechen. Ich blieb dort, starr auf dem Sitz vor mir, und flüsterte: „Sie kommt zurück, sie bringt mir Tee.“ Ich wollte es so sehr glauben, dass ich es schließlich auch tat. Bis mich eine Frau auf der anderen Seite des Ganges fragte: „Mit wem reisen Sie, Großer?“

„Mit meiner Mama“, antwortete ich. „Sie ist zum Tee ausgegangen …“

Ich wiederholte diese Worte die ganze Fahrt über. Mit jedem Blick, mit jeder Frage sagte ich dasselbe, als würde sie, wenn ich es nur oft genug wiederholte, endlich mit dem kleinen Pappbecher auftauchen.

Aber sie kam nicht zurück.

Am nächsten Bahnhof holte mich jemand ab. Ein Angestellter, vielleicht ein Polizist; ich erinnere mich nicht. All diese Gesichter verschmolzen zu einem: freundlich, aber distanziert. Ich wurde zum Büro des Bahnhofsvorstehers geführt. Dort roch es nach altem Holz, Zigarettenrauch und einem süßen Parfüm. Sie boten mir ein Bonbon an. Ich wollte es nicht essen. Meine Hände gehorchten mir nicht mehr. Aber ich nahm es hin: um zu zeigen, dass ich gut war, dass man mich sanft behandeln konnte.

Dann war da das Waisenhaus.

Eine kurze Nachricht, als wäre nichts Schlimmes. Doch es ist ein ganzes Universum: endlose Flure, knarrende Türen, kalte Böden, ein einziger, anhaltender Duft billiger Seife und die seltenen, sanften Stimmen der Erzieherinnen. Mir wurde ein Bett in einer Ecke zugewiesen – die Matratze an die Wand gedrückt, ein fleckiges Laken, das seit Ewigkeiten niemand mehr gewaschen hatte. Die Erzieherin, ihr Gesicht streng wie eine Schulleiterin, sagte zu mir:

„Du hast Glück: Wir haben kaum jüngere Kinder.“

„Glück.“

Ich rezitierte dieses Wort in meinem Bett, unter einer zu dünnen Decke, und lauschte dem Rascheln der Nachbarn und den knarrenden Dielen. Glück … Warum war mir so kalt? Warum schlug mein Herz so heftig? Warum wollte ich schreien, wenn ich es nicht konnte?

Die ersten Wochen wartete ich. Wartete darauf, dass Mama zurückkam; dass sie den falschen Bahnsteig genommen, ihre Fahrkarte verloren oder alles nur ein Albtraum war. Jedes Geräusch im Flur ließ mich zusammenzucken: „Sie ist es!“ Eines Tages rief mir ein Jugendarbeiter, ein großer Mann mit strengem Blick, zu:

„Jetzt reicht’s. Niemand wird dich holen.“

Seine Worte trafen mich wie ein Schlag. Und ich hörte auf zu hoffen.

Von diesem Moment an gehörte ich niemandem. Nutzlos, ohne Bindungen. Im Waisenhaus lernt man schnell die Regeln des Überlebens: Nicht weinen, nicht hoffen, nicht auffallen. Man steckt die Schläge ein, trägt übergroße Kleidung schweigend. Man hat keine Geschichte mehr, keinen Platz mehr, solange man nicht „nützlich“ ist.

Ich zog mich in mich selbst zurück, baute eine innere Mauer auf. Sie nannten mich „Lokomotive“ – nicht, weil ich Züge mochte, sondern weil

Ich hätte tausend Fragen stellen, sie hassen und weglaufen können. Doch stattdessen sagte ich einfach zu ihr:

„Du hast mir diesen Tee nie gebracht.“

Sie sah mich mit zitternden Lippen an, und ich sah zum ersten Mal Tränen der Schuld über ihr Gesicht rinnen.

Wir küssten uns nicht. Es gab kein magisches Wiedersehen, keine Musik, kein Licht, keine plötzliche Vergebung. Wir saßen einfach nebeneinander: zwei verlorene Seelen auf den Schienen des Lebens. 25 Jahre später, wiedervereint auf demselben Gleis.

Und ich verstand: Manchmal entsteht Vergebung nicht aus Worten. Sie entsteht aus Schweigen. Aus der einfachen Wahrheit: „Du warst da. Ich auch. Wir leben noch.“