Die Legende der alten Dame aus Wohnung 23
Die älteste Bewohnerin der Wohnung Nummer dreiundzwanzig avancierte längst zum gefürchteten Mythos des gesamten Hausflurs. Nicht etwa wegen netter Eigenschaften, sondern eher als eine Art täglicher Alptraum, der auf den Treppenabsätzen geflüstert wurde, der an den Briefkästen Seufzer hervorrief und bei gemeinsamen Teepausen für Missmut sorgte. Ihr wirklicher Name war den meisten Unbekannt, und schon gar nicht war ihr Nachname allen geläufig. Tatsächlich suchten die meisten auch nicht danach. Für die Nachbarn war sie einfach nur „die alte Frau aus der 23.“, ein Symbol kollektiven Ärgers, ständige Quelle von Problemen sowie Unruhe.
Die Nachbarn stellten sich nur zwei Fragen: „Wann endet endlich dieses Chaos?“ und „Wie lange müssen wir das noch ertragen?“ Diese Fragen hallten so oft, dass sie fast schon zu einer Art Mantra wurden. Jeder, der sich zur Tür der 23. Wohnung begab, erwartete vorab folgendes Szenario: das Quietschen der Tür, eine lange Pause und dann eine schwache, heisere Stimme, die eher klagend als einladend wirkte:
„Was? Was willst du?“
Durch einen Spalt erschien eine kleine, gebeugte Frau mit wirrem, ergrautem Haar, das in Büscheln abstand. Ihre dicken Brillengläser schienen fast die Nasenwurzel zu drücken, und ein graues, um die Bügel gewickeltes Pflasterband verlieh ihrem Aussehen einen fast skurrilen, aber auch kläglichen Eindruck. Die abgetretenen Schuhe sahen aus, als wären sie vom Müll gefischt worden. Neben ihr stand eine winzige Hündin, deren lautes Bellen eher an den Schutz eines ganzen Königreichs erinnerte als an ein kleines Apartment.
Manchmal öffnete die Frau die Tür, manchmal tat sie so, als sei niemand zu Hause. Gelegentlich fixierte sie missmutige Nachbarn mit geneigtem Kopf und blickte sie tief an, als versuche sie zu verstehen, was ihnen auf der Seele brennt. Wer jedoch zu laut wurde – etwa eine Beschwerde über das den ganzen Tag über dröhnende Fernsehen –, wurde mit einem bestätigenden Nicken und einem beruhigenden „Jetzt, sofort…“ abgespeist. Kurzzeitig kehrte Ruhe ein, doch die Wartezeit war nur von kurzer Dauer. Schon nach ein oder zwei Tagen brach das Geräusch wieder aus, der kalte Wind von Kakerlaken kroch aus den Ritzen hervor und ein modriger Gestank verbreitete sich im Treppenhaus, wie ein Schatten des Verfalls, der alle Wohnungen unweigerlich umfing.
Die Nachbarn versuchten alles:
- Insektenvernichter-Sprays wurden versprüht
- Fallen aufgestellt
- Spezielles Gel zur Bekämpfung der Ungeziefer verwendet
Doch diese Kreaturen schienen die Bewohner und ihre Bemühungen auszutricksen, indem sie in der Wohnung der alten Dame Schutz suchten und nach den Angriffen zurückkehrten, als wäre es ihr Zuhause. Den unerträglichen Geruch jedoch zu beseitigen, erwies sich als unmöglich. Der muffige Duft befand sich nicht nur im Hausflur, sondern breitete sich in Fahrstuhl und Treppenhaus so aus, dass die Modrigkeit und der Verfall überall spürbar waren.
Nina Fjodorowna war ihr Name, den kaum jemand im Haus kannte. Sie war kurz vor ihrem 85. Geburtstag und war vor vielen Jahren in diesen Hauseingang gezogen ohne dass sich jemand daran erinnerte, wann genau. Zunächst lebte sie still und zurückgezogen, bis sie zum Symbol des permanenten Stresses im Haus wurde. Selbst der Bezirksbeamte wurde mehrmals aufmerksam und kündigte mögliche Strafmaßnahmen an. Doch obwohl die alte Dame immer nickte und freundlich mit einem fast kindlichen Lächeln reagierte, änderte sich nichts an der Situation.
Durch eine hartnäckige Erkrankung im vergangenen Jahr war sie nahezu taub geworden. Sie hatte versucht, einen Antrag auf ein Hörgerät zu stellen, doch die Wartezeit zog sich in die Länge – vielleicht wurde sie auch schlichtweg vergessen. Ihre Rente war gering, kaum ausreichend zur Deckung der Kosten für Miete, Arzneien, Essen sowie die Versorgung von Zhuzha, ihrem kleinen Hund, die ihr einzig verbleibende Gefährtin darstellte.
Zhuzha war es auch, die die alte Dame vor der völligen Einsamkeit bewahrte. Diese Freundschaft begann vor fünfzehn Jahren nach dem Tod ihres Mannes, mit dem sie ihr ganzes Leben in enger Verbundenheit geteilt hatte. Kinder oder Verwandte hatten sie beide nicht. Freunde verstarben nacheinander und gaben Nina Fjodorowna auch noch allein. Eines verregneten Herbsttages bemerkte sie auf dem Rückweg vom Einkaufen einen zitternden, verschmutzten Welpen bei den Mülltonnen. Er drückte sich schutzsuchend an die Wand, geradewegs auf der Suche nach Hilfe.
Sie wollte ihn ignorieren, sprachlebensmüde:
„Ich kann dich nicht mitnehmen … Ich selbst werde bald sterben.“
Doch anscheinend entschied der kleine Hund anders und folgte ihr nach Hause. Damit begann ein neues Kapitel im Leben der einsamen Frau. Der Hund wurde zu ihrem Vertrauten und Halt. Sechs Jahre vergingen, und trotz zunehmender Unordnung, Schmutz, Gerüche und Staub, die ihre Wohnung mehr und mehr wie das Heim einer Hexe erscheinen ließen, blieb Nina indifferent und dem Alltag um sie herum gleichgültig.
Währenddessen kündigten sich Veränderungen im Haus an. Die Nachbarin von Wohnung 27, eine Etage höher lebend, freute sich über die Genehmigung ihres Darlehens. Das bedeutete endlich ein Auszug von dem täuschenden Lärm, den Gerüchen und den Kakerlaken. Ihr Plan war, die jetzige Wohnung zu vermieten, den Erlös in den Kredit zu investieren. Die alte Frau würde bald verschwinden, so das Kalkül, womit sich dann auch der Preis der Wohnung erhöhen ließ.
Dann zog eine neue Mieterin, Mascha, in den Hausflur ein. Sie war frisch geschieden, Mutter eines Kindes und wohnungslos. Ohne den beißenden Geruch oder die Kakerlaken wahrzunehmen, unterschrieb sie freudig den Mietvertrag. Erst am Abend, nachdem ihr Sohn eingeschlafen war und sie das Küchenlicht anschaltete, entdeckte sie die unerwünschten Haustiere, die über die Arbeitsplatte huschten.
Entsetzt rief Mascha aus:
„Igitt, wie ekelhaft! Können diese Viecher wirklich immer noch hier sein?“
Die Erinnerung an ihre Kindheit in einem alten, kurz vor dem Abriss stehenden Haus überflutete sie: Kakerlaken waren damals fast ständige Begleiter, lästig und ungewollt, aber vertraut. Später zog die Familie in eine moderne Wohnung um, wo Insekten längst vergessen schienen. Ihre Eltern boten ihr nach der Scheidung Hilfe an, doch Mascha wollte nicht zurück. Ihre Arbeit, die Kinderbetreuung für Artyom und die Perspektiven in dieser Stadt waren für sie entscheidend.
Sie betrachtete die geräumige Küche skeptisch:
„Jetzt erklärt sich, warum die Miete so günstig ist“, murmelte sie. „Morgen wird gründlich geputzt und alles entseucht. Aber erst, wenn ich ausgeschlafen habe – schließlich ist morgen frei.“
Doch die Morgendämmerung begann ganz anders als gedacht. Gegen sechs Uhr wurde Mascha von lautem Krachen und einem männlichen Fernsehton geweckt, der aus dem Haus drang. Zuerst dachte sie, jemand sei draußen, doch dann wurde ihr klar, dass der Lärm aus der Wohnung direkt unter ihr kam.
Verärgert flüsterte sie unter ihrer Decke:
„Was für ein Wahnsinn!“
Der Schlaf war fortan vorbei.
Nach dem Frühstück gingen Mutter und Sohn einkaufen, um Reinigungsmittel und Insektenschutz zu besorgen. Auf dem Spielplatz traf Mascha eine Nachbarin vom dritten Stock, die ihr sofort etwas seltsam erschien – ihre Augen verrieten eine Mischung aus Müdigkeit und Sorgen.
Die Frau berichtete:
- Sie sei selbst gerade gestern in den vierten Stock gezogen.
- Die neue Wohnung sei schön und hell, aber Probleme mit Kakerlaken und Geruch gäbe es seit langem.
- Die „alte Dame mit Wohnung 23“ sei die Ursache für den unhaltbaren Zustand.
- Die unzufriedenen Nachbarn seien machtlos und oft grausam in ihren Urteilen.
Mascha fühlte sich überrascht und empört über das Schicksal der alten Frau und fragte sich, warum ihr niemand helfe.
Sie vermutete:
„Vielleicht gibt es Verwandte, denen die Pflege zu mühsam ist – oder die warten, bis sie stirbt, um die Wohnung zu übernehmen.“
Die Nachbarin nickte, ohne zu widersprechen.
Zurück am Hausflur begegnete Mascha der gebeugten alten Dame mit ihrem weißen Hund. Die Frau versuchte mühsam, den Schlüssel im Türschloss des Gegensprechers zu wenden, während ihre Hände zitterten. Artyom rief begeistert:
„Hundi!“
Das Tier wedelte glücklich mit dem Schwanz, ohne zu bellen.
Mascha half der Seniorin ins Haus, trug ihre Einkaufstasche und unterstützte sie. Im Aufzug herrschte Stille. Nina Fjodorowna brauchte lange, um die Tür zu öffnen. Im Inneren empfing Mascha ein feuchter, abgestandener Geruch, während des Chaos und die Vernachlässigung sichtbar waren. Doch der dankbare und vertrauliche Blick der alten Frau berührte sie tief.
„Wie einsam sie lebt“, dachte Mascha auf dem Heimweg. „Ein ganzes Leben gelebt – und jetzt allein, in Unordnung, Lärm und Spott.“
Von diesem Moment an beschloss sie zu helfen. Einfach, weil sie konnte.
Später rief sie Lev an, einen ehemaligen Klassenkameraden, der sich heute als Freiwilliger engagierte. Er versprach, sich um die Beantragung eines Hörgeräts für Nina Fjodorowna zu kümmern.
So begann eine neue Phase im Leben der drei: Mascha, ihr Sohn Artyom und die alte Dame mit ihrem treuen Hund Zhuzha. Sie besuchten sie regelmäßig, brachten Lebensmittel mit, gingen spazieren oder schauten gemeinsam fern. Jede Begegnung erfüllte Nina mit Freude, besonders wenn Artyom mit Zhuzha spielte und die beiden, frei und geliebt, herumtollten.
Langsam bemerkten die Nachbarn Veränderungen:
- Die Kakerlaken verschwanden;
- Der modrige Geruch ließ nach;
- Der Fernseher lief nicht mehr pausenlos.
Dennoch störte einige Nachbarn, wie oft Mascha die alte Frau besuchte. Es gab Gerüchte, dass sie auf Erbschaft aus sei.
Ein Nachbarpaar stritt sich darüber und machte erbitterte Bemerkungen, während Mascha unbeirrt handelte. Für sie zählte nur, dass Nina sich ein wenig menschlicher und geborgener fühlte. Zwischen den dreien und dem Hund entstand eine Verbindung, die mehr als bloße Unterstützung war – es war Menschlichkeit.
Nach fast einem Jahr überraschte eine traurige Situation: An einem Besuchstag öffnete Nina nicht die Tür, doch hinter der Wohnungstür hörte man Zhuzhas Winseln. Mascha rief den Notarzt und Lev an. Er traf zuerst ein, öffnete nach wenigen Minuten durch den Balkon und ließ den Hund zu Artyom rennen. Dann bat er Mascha und den Jungen, nach Hause zu gehen.
Nina Fjodorowna war verstorben – still, ohne Schmerzen, in der Weise, wie sie es sich gewünscht haben könnte.
Zuhause spielte Artyom mit Zhuzha wie gewohnt und fragte:
„Warum bringen wir den Hund nicht zurück zu Oma Nina?“
Sanft streichelte Mascha ihren Sohn und sagte:
„Weil Zhuzha jetzt bei uns wohnen wird. Und Oma Nina wird nicht mehr einsam sein. Sie ist jetzt an einem besseren Ort.“
Lev kam am Abend und versicherte, sich um die Beerdigung zu kümmern. Nina Fjodorowna hatte ihm vertraut, und er hielt sein Wort.
Die Nachbarn beobachteten weiter die Wohnung, erwarteten Erben. Schließlich stellte sich heraus, dass Mascha die Erbin war. Die alte Dame hatte alles rechtzeitig geregelt und vertraut der mitfühlenden Nachbarin ihr Zuhause anvertraut.
In jener Nacht, als Mascha die Wohnung aufräumte, hörte sie erneut die Nachbarn hinter der Wand streiten. Sie beschuldigten sich gegenseitig, nicht rechtzeitig gehandelt zu haben. Mascha schmunzelte leise, nicht aus Ärger, sondern aus einer tiefen Dankbarkeit gegenüber dem Leben, das ihr gezeigt hatte, dass es nicht die Feinde, Probleme oder Umstände sind, die zählen, sondern Menschen, die Hilfe benötigen.
Sie entschied sich, die Wohnung zu verkaufen. Glücklich war sie, denn sie hatte Lev, Artyom und Zhuzha an ihrer Seite – ihre wahre Familie geworden.