Mary war schon fast ein Jahr mit James zusammen, als sie sich endlich dazu entschieden, zu heiraten. Für viele schien die Entscheidung übereilt, doch Mary, Mutter eines neunjährigen Mädchens und seit über einem Jahrzehnt alleinerziehend, glaubte, ein Stück Glück verdient zu haben.
James präsentierte sich als der Traum eines Partners: intelligent, großzügig, stets mit einem frischen Blumenstrauß, einem selbstgekochten Abendessen und sogar Nachhilfe in Mathematik für Ellie. Für Mary fühlte es sich wunderbar an, wie problemlos James sich in ihr Leben einfügte. Allerdings blieb Ellie ihm gegenüber reserviert.
Von Anfang an begegnete die Kleine James mit Argwohn. Selbst nach der Hochzeit blieb sie ihm gegenüber verschlossen. Mary versuchte, ihre Tochter zu verstehen und erklärte sich Ellies Verhalten mit der gewöhnlichen Anpassungsphase, da Kinder oft Zeit brauchen, um eine neue Vaterfigur zu akzeptieren.
An einem Samstagabend organisierte James eine intime Feier zu dritt zu Hause. Auf dem Menü standen Steak, Kartoffelpüree und eine Flasche Rotwein, die er entkorkte. Kerzen erhellten die Tafel, und sanfter Jazz erfüllte den Raum. Mary trug ihr liebstes grünes Kleid und fühlte sich so entspannt wie seit Wochen nicht mehr.
Beim gemeinsamen Essen warf Mary einen besorgten Blick auf Ellie, die ungewöhnlich blass wirkte, als sie den Weinglas vor ihrer Mutter wahrnahm, als hätte sie eine düstere Vorahnung.
James füllte den Wein ein, reichte Mary ein Glas und hob das seine zum Trinkspruch: „Auf uns!“, sagte er mit einem herzlichen Lächeln.
Doch in dem Moment durchbrach Ellies scharfe Stimme die Stille.
„Mama, trink bloß nicht aus diesem Glas! Der neue Papa hat etwas hineingegeben!“
Die Zeit schien stillzustehen. Mary erstarrte, den Weinheber wenige Zentimeter vor den Lippen. James wandte sich ruhig, aber mit einem eisigen Blick Ellie zu.
„Wovon sprichst du?“, fragte er gelassen.
Mit Tränen in den Augen entgegnete Ellie: „Ich habe gesehen, wie du vor dem Essen etwas aus deiner Tasche genommen und in den Wein gemischt hast. Ich war mir nicht sicher, aber ich habe es gesehen.“
Mary richtete ihren Blick auf James, der nervös lachte.
„Mein Schatz, du bist doch noch ein Kind. Du hast dich sicherlich geirrt. Ich habe nur eine Zuckerwürfel ins Glas getan, damit mein Wein etwas süßer schmeckt.“
Doch Mary spürte, dass etwas nicht stimmte. Sie nahm beide Gläser in die Hand und prüfte sie mit der Nase – es roch nach nichts Ungewöhnlichem. Dann schlug sie vor:
„Lass uns die Gläser tauschen, ja?“
James zögerte einen Moment.
„Komm schon, Mary…“
„Bitte, vertrau mir.“
Widerwillig reichte er die Gläser zurück. Mary brachte sie in die Küche, füllte von jedem Weinprobe in Tassen, die sie im Kühlschrank aufbewahrte. Am Montag wollte sie die Proben im Labor der Klinik, in der sie arbeitete, untersuchen lassen. Auch wenn die toxikologischen Geräte einfach waren, konnten sie wichtige Substanzen identifizieren.
Mit Ruhe kehrte sie an den Tisch zurück.
„Mir ist nicht so wohl. Können wir den Wein heute Abend lieber weglassen?“
James nickte sichtlich unwohl.
„Okay.“
Ellie klammerte sich zitternd an den Arm ihrer Mutter.
In jener Nacht konnte Mary nicht schlafen. Sie lauschte Ellies ruhigem Atmen und fragte sich, was James in ihr Glas getan haben könnte. Früh am Montagmorgen brachte sie die Proben sicher in der Klinik unter. Nach ihrem Arbeitstag begann sie die Analyse.
Das Ergebnis war schockierend: Die Weinprobe, die Mary hätte trinken sollen, enthielt Zolpidem, ein starkes Beruhigungsmittel, das bei Schlafstörungen verschrieben wird. In kleinen Mengen verursacht es Schläfrigkeit, in höheren Dosen Verwirrung, Erinnerungslücken und sogar Bewusstlosigkeit.
Es war keine zufällige Verunreinigung. Die Handlung war absichtlich. Zitternd druckte Mary das Testergebnis aus, steckte es in ihre Tasche und verließ kaum bemerkbar die Klinik, trotz der aufmunternden Worte der Kollegen.
Zu Hause durchsuchte sie während James‘ Schlafenszeit seine Papierschublade. Sie fand einen unscheinbaren Ordner mit der Aufschrift „Finanzunterlagen“ und darin Kopien diverser Ausweise mit verschiedenen Namen und Geburtsdaten. Tief darunter lag ein kleines Notizbuch mit Auflistungen von Frauennamen, Geldbeträgen und Zeiträumen. Außerdem entdeckte sie Fotos: Einige Selfies mit fremden Frauen, andere heimlich aufgenommen.
Auf der letzten Seite stieß Mary auf ein Bild von sich und Ellie vor der Haustür, versehen mit einer roten Notiz:
- „Mary R. – Zugang zu Medikamenten über die Klinik. Geplante Aktion, keine Zeugen.“
- „Kind zu aufmerksam. Plan verzögern.“
Ein kalter Schauder durchfuhr Mary. Sie legte alles wieder zurück, weckte Ellie vor Tagesanbruch und flüsterte ihr zu:
„Pack deine Sachen, wir fahren für einige Tage zu Oma.“
Während James in Jogginghose war, verließen sie das Haus, hinterließen einen Zettel mit der Ausrede, Mary fühle sich unwohl.
Am selben Nachmittag ging Mary mit dem Laborbericht, den Proben und den diskret aufgenommenen Fotos zur Polizeiwache. Innerhalb von zwei Tagen durchsuchten Ermittler das Haus und fanden in James‘ Auto weitere Beruhigungsmittel, Wegwerftelefone, Perücken und einen gefälschten Pass. James war in Wahrheit Jonathan Myers, unter falscher Identität unterwegs, gesucht wegen Betrugs, Identitätsdiebstahls und mutmaßlicher Beteiligung an mehreren Vermisstenfällen.
Seine Festnahme erfolgte in einem Lagerraum außerhalb der Stadt. Unbeeindruckt akzeptierte er seine Situation ohne Widerworte.
Für mehrere Monate begannen Mary und Ellie ihr Leben neu, unterstützt von Therapie und der standhaften Hilfe ihrer Familie und Freunde. Ellie wurde zu ihrer stillen Heldin – mit nur einem besorgten Satz beim Abendessen hatte sie eine Tragödie verhindert.
Wichtige Erkenntnis: Mary verzichtete fortan auf Wein, nicht aus Angst, sondern als Zeichen ihrer Wachsamkeit und als Ehrung für den Mut ihrer Tochter. Jeden Abend vor dem Einschlafen sprach sie leise:
„Danke, dass du auf mich aufgepasst hast, Ellie. Du hast mir das Leben gerettet.“
Diese Geschichte zeigt, wie wichtig es ist, der Intuition von Kindern zuzuhören und vergangene Eindrücke nicht zu unterschätzen, wenn es um die Sicherheit der Familie geht.