Zu diesem Zeitpunkt war den jungen Angestellten noch nicht klar, dass Elisabeth Müller gerade im Begriff war, ihr Unternehmen zu übernehmen…
„— Wohin wollen Sie denn? …“ murmelte ein junger Mann am Empfang, ohne von seinem Smartphone aufzublicken.
Mit seinem trendigen Haarschnitt und dem modischen Hoodie zog er genau die Aufmerksamkeit auf sich, die man in der Tech-Branche häufig anstrebt.
Elisabeth Müller richtete diskret ihre elegante Handtasche auf der Schulter und versuchte einen unauffälligen Eindruck zu hinterlassen: eine einfache Bluse, ein knielanger Rock und flache Schuhe ohne Absatz.
Der frühere Geschäftsführer, Herr Gruber, ein Mann mit grauem Haar und einem müden Lächeln, mit dem sie den Kauf abgeschlossen hatte, hatte ihr mit einem Schmunzeln erklärt:
„— Ein trojanisches Pferd, Elisabeth. Sie werden den Köder annehmen, ohne die Falle zu erkennen. Niemand wird wissen, wer du wirklich bist, bis es zu spät ist.“
„— Ich bin die neue Mitarbeiterin. Rechtsabteilung, bitte“, stellte sie sich ruhig vor, ohne bevormundend zu wirken.
Der junge Empfangschef hob schließlich den Blick, musterte sie aufmerksam von Kopf bis Fuß – von den abgetragenen Schuhen bis zum gepflegten silbergrauen Haar – und zeigte ein spöttisches Grinsen.
Ein innenpolitischer Witz wurde geboren:
„— Ja, habe ich gehört. Sie bekommen Zugang von der Sicherheitskontrolle. Ihr Büro befindet sich am Ende des Flurs. Wir hier sind mit echten Projekten beschäftigt.“
Elisabeth nickte gelassen und begab sich in den Open-Space-Bereich – eine riesige Halle voller Computer und Mitarbeiter, die ständig „im Projekt“ zu sein schienen.
Sie war darauf spezialisiert, für Struktur zu sorgen. Nach dem Tod ihres Mannes hatte sie dessen Firma Schritt für Schritt saniert. Mit durchdachten Investitionen und digitaler Transformation – und nun, mit 67 Jahren, stellte sie sich ihrer bislang größten Aufgabe: den Erwerb eines renommierten IT-Unternehmens, das innerlich jedoch stark verfallen war.
Ihren Arbeitsplatz richtete man am Ende des Raumes neben dem Archiv ein – ein alter, zerkratzter Schreibtisch mit einem quietschenden Stuhl, eine Reliktinsel inmitten eines Meeres aus Tablets und Quellcodes.
„— Eingewöhnt?“, ertönte die Stimme von Ora, der Marketingleiterin. Perfekt gestylt und in einem cremeweißen Anzug, strahlte sie Selbstbewusstsein und einen teuren Duft aus.
„— Ich versuche, mich mit der Arbeitsweise vertraut zu machen“, antwortete Elisabeth sanft.
„— Beginnen Sie mit den Verträgen des Projekts ‚Orion‘ vom letzten Jahr, die liegen im Archiv. Das sollte nicht zu kompliziert sein“, sagte Ora herablassend, als wollte sie sagen: „Bleib du nur hier, Großmütterchen.“
„— Danke“, entgegnete Elisabeth ruhig, während sich in ihr leisere Ironie regte.
- Stas, einer der Entwickler, verharrte bei seiner Gruppe und betrachtete sie mit einem höhnischen Grinsen:
- „Ich sag’s ja: Omas haben hier nichts verloren. Der Personalleiter ist völlig übergeschnappt.“
Die anderen konnten ein Kichern nicht unterdrücken.
Elisabeth verspürte eine kühle, klare Entschlossenheit in sich aufsteigen. Sie wandte sich Stas zu und blickte ihm fest in die Augen. Alles, was sie sah – von den teuren Kleidern über die Gadgets bis hin zur Gucci-Uhr am Handgelenk des jungen Entwicklers – war durch ihr Geld finanziert worden.
„— Danke“, sagte sie gelassen. „Jetzt weiß ich genau, wo ich suchen muss.“
Das Archiv war ein fensterloser kleiner Raum. Elisabeth öffnete eilig den Ordner ‘Orion’ und begann, die darin enthaltenen Dokumente, Anlagen und Berichte zu prüfen.
Auf den ersten Blick wirkten die Unterlagen tadellos. Doch ihr geschultes Auge bemerkte Unstimmigkeiten:
- Die Rechnungsbeträge an »CyberTechSystems« waren alle auf glatte Tausender gerundet – ein Indikator für Nachlässigkeit oder möglicherweise bewusste Verschleierung.
- Die Leistungsbeschreibungen waren schwammig angegeben: »Allgemeine Beratung«, »Analytische Unterstützung«, »Prozessoptimierung« – typische Floskeln, an denen ein erfahrener Prüfer Zweifel hegt.
Nach mehreren Stunden öffnete sich quietschend die Tür und Lena aus der Buchhaltung trat scheu ein:
„— Guten Tag. Kann ich Ihnen mit dem elektronischen System behilflich sein? Meine Kollegin meinte, Sie hätten noch keinen Zugang.“
Ihre Stimme war freundlich und herzlich, ohne einen Hauch von Überheblichkeit.
„— Das wäre sehr hilfreich, danke“, antwortete Elisabeth.
Während Lena die Software erklärte, begann Elisabeth, Vertrauen neu zu fassen: Selbst in einem undurchsichtigen Umfeld gab es eine verlässliche Quelle.
Doch kaum zwei Minuten später kehrte Stas zurück:
„— Ich brauche sofort den Vertrag mit ›CyberTechSystems‹! Los!“
Seine Forderung klang wie ein Befehl.
„— Ich bin erst einen Tag hier, aber ich arbeite bereits“, entgegnete Elisabeth ohne Wut. „Ich versuche, Fehler zu korrigieren, die bisher übersehen wurden.“
„— Mir egal!“, schrie er und entriss ihr rüde den Ordner. „Mit euch Alten gibt es immer nur Ärger!“
Mit einem lauten Knall schlug er die Tür zu.
Elisabeth folgte ihm nicht, denn ihr Verstand war völlig klar. Sie nahm ihr Handy, um ihren Anwalt anzurufen:
„— Arkadiusz, guten Morgen. Bitte überprüfe die Firma ›CyberTechSystems‹. Ich habe einen Verdacht.“
Am darauffolgenden Morgen klingelte ihr Handy unaufhörlich. Gelassen nahm sie ab und setzte ihre Brille auf.
„— Ja, Arkadiusz?“
„— Ich habe es untersucht. Du hattest recht. ›CyberTechSystems‹ ist eine Briefkastenfirma auf Zypern. Und rate mal, wer als zweitgrößter Anteilseigner geführt wird?“
„— Sag es nicht…“, lächelte Elisabeth leicht.
„— Stas. Mit 30 Prozent vom Anteil. Der Rest gehört einer Scheinfirma, aber alle Zahlungen laufen direkt von eurer Firma auf Konten in der Schweiz. Und weißt du, wer die Überweisungen freigegeben hat? Ora, die Marketingleiterin.“
Elisabeth schloss den Ordner behutsam.
„— Perfekt. Bereite bitte einen offiziellen Bericht vor. Ich werde ihn morgen im Vorstand vorlegen. Und, Arkadiusz… informiere auch die Presse. Das wird eine köstliche Geschichte für die Wirtschaftsseite.“
Am folgenden Morgen war der Konferenzraum bis auf den letzten Platz gefüllt. Alle Direktoren, darunter auch Stas und Ora, saßen unruhig am Tisch.
Mit ruhigem Auftreten betrat Elisabeth Müller den Raum, den Ordner unter dem Arm.
„— Guten Morgen. Bevor wir mit der Sitzung starten, möchte ich eine wichtige Ankündigung machen. Als neue Eigentümerin habe ich ein internes Audit veranlasst. Die Ergebnisse sind… überraschend.“
Ora lachte kurz auf:
„— Audit? Frau Müller, mit allem Respekt, die Realität ist komplexer.“
„— Das stimmt. Aber in der Realität existiert auch das Gesetz und strafrechtliche Konsequenzen“, erwiderte Elisabeth entspannt.
Stas sah sie schockiert an:
„— Was soll das heißen?“
Elisabeth holte einige Papiere hervor und legte sie den Vorstandsmitgliedern vor:
„— Scheintransaktionen, aufgeblasene Beträge und Subverträge an Offshore-Firmen, an denen Herr Stas beteiligt ist. Wir haben Beweise in schriftlicher Form. Zur Klarstellung: Ich habe die Dokumente heute Morgen der Staatsanwaltschaft übergeben.“
Im Raum herrschte Schweigen.
Stas versuchte zu argumentieren:
„— Das ist eine Intrige! Sie haben keine Berechtigung—“
„— Im Gegenteil, ich habe jedes Recht. Denn ich bin nicht die »Oma aus dem Archiv«. Ich bin Elisabeth Müller, die neue Geschäftsführerin und Mehrheitsgesellschafterin dieses Unternehmens. Und ihr beide seid ab sofort von euren Posten suspendiert.“
Ein paar Sekunden lang herrschte absolute Stille. Dann begann ein junger Mitarbeiter aus dem hinteren Teil des Raumes zu klatschen, dem weitere schnell folgten.
Innerhalb kürzester Zeit erhob sich der gesamte Saal, um Elisabeth Beifall zu spenden.
Elisabeth lächelte gelassen, nicht aus Rache, sondern weil sie immer wusste:
Wahre Macht muss nicht laut sein.
Respekt erlangt man weder durch das Alter, sondern durch Charakterstärke.
Diese Geschichte zeigt, dass Entschlossenheit, Erfahrung und Weitblick auch in jungen, dynamischen Branchen unerlässlich sind, um auf Dauer Erfolg zu haben.
Sie verdeutlicht, wie wichtig Integrität und das Durchsetzen von Gerechtigkeit sind, selbst wenn Widerstand von unerwarteter Seite kommt.