Wenn Familie zur Belastung wird: Viktorias mutige Entscheidung für Neuanfang

Victoria blieb zwei Stunden länger im Friseursalon, denn durch die Empfehlung ihrer Freundinnen meldeten sich zwei neue Kundinnen bei ihr an.

„Wir wollen nur dich, Victoria Andrejewna! Du bist zweifelsohne die beste Friseurin der Stadt!“ – mit diesen Worten ging die Frau mit einem Lächeln auf den Lippen nach Hause.

Vielleicht war jetzt tatsächlich der Moment gekommen, den Sprung in die Selbstständigkeit zu wagen. Die Angst loszulassen und auf bessere Zeiten zu hoffen, schien endlich überfällig.

Im Geiste in diesen Überlegungen vertieft, erreichte Victoria ihre Wohnung. Im Treppenhaus vernahm sie unerwartete Stimmen aus einer Nachbarwohnung. Sie öffnete rasch die Tür und erstarrte am Schwellenbrett vor Überraschung. Im Flur lag ein zerfetzter Rucksack, schmutzige Schuhe standen auf dem Boden, und aus der Küche wehte ein unangenehmer Geruch.

„Vika, erkennst du deinen Verwandten? Kirill ist zurückgekehrt!“, rief ihr Ehemann eigenartig lächelnd aus der Küche.

Pawels jüngerer Bruder saß auf der Küchenbank und starrte leer auf den Tisch. Es war eben jener Kirill, der vor vier Jahren das Elternhaus verlassen hatte, um mit einer Tänzerin aus einem Nachtclub zusammenzuleben.

„Hallo“, sagte der Schwager, ohne die Augen zu heben.

„Mama, wer ist das?“, flüsterte die Tochter, die gerade von ihrem Tanzunterricht gekommen war.

„Das ist dein Onkel Kirill, dein Vater’s Bruder“, erwiderte Victoria gefasst. „Du kannst dich wahrscheinlich nicht mehr an ihn erinnern, du warst noch zu klein, als er weggegangen ist.“

„Warum verhält er sich so merkwürdig?“, flüsterte die Tochter leise.

„Geh in dein Zimmer, Liebling. Wir sprechen später darüber.“

Victoria begab sich ins Badezimmer und ließ das Wasser einlaufen, um einen Moment der Ruhe zu finden. Ihr müdes Gesicht blickte ihr im Spiegel entgegen. Mit einer langsamen Bewegung strich sie sich durch die Haare. Es wäre Zeit, die Ansätze zu färben, doch jetzt beschäftigten sie ganz andere Gedanken.

Vor vier Jahren, als Kirill das Haus verließ, hatte die Ehefrau gesehen, wie sehr es Pavel zusetzte. Er hatte tagelang nicht mit den Eltern gesprochen und ihnen die Schuld gegeben, weil sie seinen Bruder verstoßen hatten. Danach wirkte er resigniert, erwähnte Kirill nicht mehr und ging selten ans Telefon. Nun schien sich eine Veränderung anzubahnen.

Pavel trat der Ehefrau in das Schlafzimmer nach, zögerte kurz und sagte leise:

„Er wird eine Weile bei uns bleiben müssen. Das ist notwendig. Mein Bruder braucht nun Unterstützung. Kirill ist in einer schweren Krise. Seine Frau hat ihn betrogen, darum haben sie sich scheiden lassen. Zu den Eltern kann er nicht zurück.“

„Und du hast das entschieden, ohne mit mir zu sprechen?“, wandte sich Victoria empört an ihren Mann. „Findest du nicht, dass das ziemlich anmaßend ist?“

„Was hätte ich diskutieren sollen? Er ist mein Bruder und hat keine andere Bleibe.“

„Pawel, wir haben eine heranwachsende Tochter. Hast du gesehen, wie sein Zustand ist? Glaubst du, sie soll das jeden Tag mitansehen? Kirill…“

„Gerade deshalb braucht er Familie und Hilfe.“ Er sah sie zum ersten Mal an diesem Abend fest an. „Denkst du etwa, ich kann ihn einfach im Stich lassen? Das geht nicht!“

„Wie lange soll das so weitergehen?“

„So lange es nötig ist. Er muss wieder auf die Beine kommen.“

„Und was ist mit Alisa? Du denkst an sie? Sie ist im Alter, wo so etwas alles andere als leicht anzunehmen ist…“

„Genug, Vika!“ Er erhob zum ersten Mal die Stimme, was früher nie vorkam. „Er ist mein Bruder, mein kleiner Bruder. Ich lasse ihn nicht allein in Not.“

Victoria wollte antworten, doch eine unbestimmte Stimmung in seiner Stimme hinderte sie daran. Nach vierzehn gemeinsamen Jahren hörte sie zum ersten Mal diese entschlossenen Töne.

„In Ordnung“, wandte sie sich vom Fenster ab. „Sag ihm nur, er soll hier nicht trinken, und er muss Arbeit finden.“

Pavel schwieg und verließ leise den Raum. Durch die Wand hörte Victoria leise Stimmen in der Küche, vermutlich sprach er heimlich mit seinem Bruder, damit sie es nicht mitbekam.

Die Küchenuhr zeigte weit nach Mitternacht, als endlich Ruhe einkehrte. Victoria lag wach und lauschte den Schritten im Flur. Pavel hatte nicht sofort zu Bett gefunden, sondern war noch einige Male hin und her gegangen, scheinbar um seinen Bruder heimelig einzurichten.

„Alles wird sich fügen“, flüsterte der Mann, als er sich unter die Bettdecke schmiegte. Doch für Victoria blieb dieser Satz ein Zweifel.

Ein Zuhause im Wandel

Der Tag begann mit dem Geruch von Restalkohol in der Küche. Stumm bereitete Victoria das Frühstück für ihre Tochter zu, während sie versuchte, die leeren Flaschen auf dem Tisch und die schmutzige Aschenbecher zu ignorieren.

Nach einem Monat war der einstige Ort der Gemütlichkeit zu einer Art Bar für zwei Personen geworden, die rund um die Uhr geöffnet schien.

  • Alisa schlich sich an dem schlafenden Onkel vorbei zur Tür und flüsterte: „Ich gehe zur Schule.“
  • In letzter Zeit vermied sie es, zu Hause zu sein und verbrachte viel Zeit bei Freundinnen oder im Verein.
  • Victoria spürte die Wut in sich aufsteigen, wenn sie die flüchtige Ausbruch ihrer Tochter betrachtete.

Dieser als „vorübergehend“ geltende Besucher brachte in wenigen Wochen alles durcheinander, was sie über Jahre hinweg sorgsam aufgebaut hatten: harmonische Familienabende, gemeinsame Mahlzeiten, warme, offene Gespräche mit Alisa.

„Guten Morgen“, sagte Pavel, als er aus dem Schlafzimmer herauskam, bereits angezogen. „Kaffee ist noch da?“

„Etwas von gestern bleibt in der Kanne“, antwortete Victoria, während sie auf die Kaffeekanne deutete. „Übrigens, wir müssen reden.“

„Nicht jetzt, ich komme zu spät“, nahm ihr Mann die Tasse und zog eine Grimasse beim kalten Kaffee.

„Wann denn, Pawel? Du bist jeden Tag zu spät und abends sitzt du mit deinem Bruder.“

Er blieb in der Tür stehen und fragte erstaunt:

„Was willst du sagen?“

„Dass es an der Zeit ist, eine Entscheidung zu treffen. Wir können nicht ewig einen gesunden Mann durchfüttern. Das ist nicht richtig!“

„Er hat Depressionen, Vika. Du siehst doch seinen Zustand.“

„Und wir? Sind wir nicht genauso zerrüttet? Alisa will nicht zurück nach Hause. Ich komme jeden Tag in ein Chaos und ertrage den Gestank. Und du…“

„Was mit mir?“, fragte Pavel.

„Du hast dich verändert. Wie kann es sein, dass ich dich kaum wiedererkenne? Du bist nicht mehr der Mann, den ich kenne.“

Pavel stellte die Tasse auf den Tisch: „Wissen was? Lass uns heute Abend ruhig reden, ohne Streit.“

„Nein, jetzt!“, stellte sich Victoria ihm in den Weg. „Ich fordere, dass Kirill in einer Woche hier nicht mehr wohnt. Er soll eine Wohnung nehmen, Arbeit suchen – was auch immer, aber nicht auf unsere Kosten leben!“

„Meinst du das ernst?“, funkelte Pawel zornig. „Du willst meinen Bruder auf die Straße setzen?“

„Ich will keine Unterkunft für ihn sein! Er versucht nicht einmal, sein Leben zu ändern!“

„Er braucht Zeit! Das ist doch ganz klar!“

„Wie lange? Einen Monat? Ein Jahr? Leben lang? Weißt du überhaupt, was mit unserer Familie passiert? Oder ist es dir egal?“

„Denkst du daran, dass auch er zu meiner Familie gehört? Und ich werde meinen Bruder nicht verlassen, so wie es unsere Eltern getan haben, egal wie sehr du das verlangst!“

Tränen schossen Victoria in die Augen: „Also steht die Entscheidung fest?“

„Das ist keine Entscheidung, Vika. Es ist meine Pflicht. Du willst es einfach nicht verstehen.“

Pawel verließ den Raum, die Tür schloss sich leise hinter ihm. Aus dem Wohnzimmer war das Schnarchen Kirills zu hören. Victoria ließ sich auf einen Stuhl fallen und starrte auf den kalten Kaffee im Becher ihres Mannes.

Früher verließ Pavel das Haus nie, ohne sie zum Abschied zu küssen.

Eine Erstarrung in der Beziehung

Die nächsten sechs Tage sprachen die Eheleute kaum miteinander.

Victoria verließ früh das Haus und kam spät zurück. Pavel zeigte kaum Aufmerksamkeit für ihre Abwesenheit und verbrachte lange Abende mit seinem Bruder.

Alisa lief zwischen den Eltern hin und her, versuchte Spannungen zu mildern, aber erhielt nur genervte Erwiderungen wie „Alles ist gut, Schatz, mach dir keine Sorgen“.

Abends, im Bett liegend, lauschte Victoria den Gesprächen aus der Küche. Die Brüder flüsterten zwar, doch gelegentlich drangen Bruchstücke zu ihr durch: „Sie versteht es nicht … Familie muss helfen … Du bist zu nachgiebig mit ihr …“

Ein gemeinsamer Weg?

Am Freitag kam Pavel früher nach Hause. Kirill schlief im Wohnzimmer, Alisa hörte Musik in ihrem Zimmer.

Victoria stand am Herd und rührte automatisch in der Suppe. Kochen war ihr Trostspender, half ihr zur Ruhe zu kommen und den Kopf frei zu bekommen.

„Ich habe eine Lösung gefunden“, trat Pavel selbstbewusst an die Tür und blickte Victoria fest an. „Eine, die für alle passt.“

Sie rührte schweigend weiter und wartete.

„Kirill könnte in deiner Wohnung wohnen.“

Langsam legte sie den Löffel ab. Diese Wohnung symbolisierte für sie immer einen Rückzugsort. Ihre Patentante hatte sie ihr noch vor der Hochzeit überlassen. Victoria entschied immer selbst, wie sie damit umging. Und jetzt das.

„Da sind Mieter“, sagte sie ruhig.

„Und?“, zuckte Pavel gleichgültig mit den Schultern. „Wir sagen ihnen Bescheid, sie suchen sich ein anderes Zuhause. Was ist daran schwer?“

„Pawel, bist du noch bei Verstand? Sie haben für ein Jahr bezahlt und einen Vertrag. Zwei kleine Kinder. Ich werde das nicht machen. Nicht zur Diskussion.“

„Also bleibst Kirill hier“, warf Pavel herablassend ein. „Ende der Diskussion. Mach, wie du willst.“

Sie wischte sich die Hände ab und wandte sich an ihn:

„Bist du sicher, dass du eine Familie mit Kindern rauswerfen willst, die pünktlich zahlt, nur um deinen Bruder kostenfrei unterzubringen?“

„Was soll ich machen? Du willst doch, dass er auszieht.“

„Ich will, dass er selbstständig wird. Arbeit sucht und eine eigene Wohnung nimmt. Endlich erwachsen wird. Nicht wie eine Last auf unserem Sofa liegt!“

„Er hat Depressionen.“

„Wirklich? Oder nutzt er das, um bequem bei uns zu leben? Unser Wein, unser Essen, unser Sofa!“

Pavel blickte wütend und ballte die Fäuste:

„Trau dich nicht, meinen Bruder zu beleidigen! Das steht dir in keiner Weise zu! Hör auf! Sonst weiß ich nicht, was geschieht!“

Victoria sah ihn ruhiger als je zuvor an. Sie erkannte, dass es nicht bloß ein kurzzeitiger Ärger war oder eine reine Helfermentalität. Es war eine bewusste Entscheidung, und sie war getroffen.

„Gut“, sagte sie mit einem leichten Lächeln. „Ich habe verstanden.“

Pavel war sichtlich verwirrt. Er hatte offenbar Ärger, Tränen, Vorwürfe erwartet:

„Was … was hast du verstanden?“

„Alles. Das Abendessen ist fertig. Möchtest du deinen Bruder holen?“

Er betrachtete eine Weile das ungewöhnlich gelassene Gesicht seiner Frau, dann verließ er langsam die Küche.

Sobald er die Wohnung verlassen hatte, holte Victoria ihr Handy heraus und rief eine Bekannte an:

„Guten Abend, Marina. Du hattest mir von einer guten Rechtsberatung erzählt. Ich brauche dringend Unterstützung.“

Laut aus Alisas Zimmer erklang weiter Musik. Victoria ging zur Zimmertür, lehnte den Kopf an das kühle Holz und flüsterte:

„Alles wird gut, Schatz. Mama weiß, wie es weitergeht.“

Neuanfang ohne Altlasten

Die nächsten drei Wochen verbrachte Victoria kaum zu Hause. Sie nahm mehr Arbeit im Salon an und begann einen Weiterbildungskurs.

Alisa lebte bei der Großmutter, um für Prüfungen zu lernen.

Pavel hatte nichts dagegen. Abends beherrschten nun zwei Männer die Wohnung – sie sahen Fußball, bestellten Pizza und unterhielten sich lautstark.

Victoria fühlte sich in ihrem eigenen Heim überflüssig.

Jeden Morgen fand sie in der Küche Spuren der nächtlichen Treffen – leere Flaschen, Zigarettenstummel in Tassen und fettige Pizzakartons.

Pavel schien die Unordnung nicht wahrzunehmen: Früh verließ er das Haus und gab seinem Bruder noch einen Kuss auf den Kopf. Sie aber bekam kaum noch flüchtige Küsse.

Doch eines Tages änderte sich alles.

Pavel kam gut gelaunt nach Hause, ein breites Lächeln begleitete ihn. Der Geruch von Restalkohol hing noch in der Luft, doch er schien das nicht zu bemerken.

„Du kannst dich freuen!“ Obwohl seine Augen glänzten, war es ernst gemeint. „Kirill hat entschieden, selbstständig zu werden.“

Überrascht hielt Victoria die Tasse fest:

„Wirklich?“

„Ja! Er sagte selbst, dass es genug ist, bei uns zu wohnen. Er hat einen Nebenjob gefunden und plant für die Zukunft.“

„Das ist großartig“, spürte sie neue Hoffnung in sich aufkeimen. Vielleicht könnte sich alles zum Guten wenden? Vielleicht würde sie nicht…

„Natürlich ist das wunderbar!“ dachte Pavel laut und setzte sich. „Wir müssen ihm nur helfen, Fuß zu fassen, bevor er es sich anders überlegt.“

„Wie meinst du helfen?“

„Ganz einfach. Morgen rufst du deine Mieter an und sagst ihnen, sie sollen die Wohnung räumen. Sie bekommen einen Monat Zeit und eine kleine Entschädigung.“

Enttäuscht schaute Victoria ihn an und meinte bestimmt:

„Das haben wir schon besprochen. Ausgeschlossen.“

„Diesmal ist alles anders! Kirill will das neue Leben wirklich. Er braucht ein bis anderthalb Jahre, um sich zu stabilisieren. Lass uns helfen.“

„Nein. Ich werde eine Familie mit Kindern nicht wegen deines Bruders rauswerfen.“

Pavel sprang auf, der Stuhl fiel laut gegen die Wand:

„Verstehst du nicht, dass er endlich aufgewacht ist? Er will kämpfen! Und du…“

„Ich will dabei nicht mitmachen! Ich bin kein Rettungsdienst! Will er alleine wohnen, soll er sich eine Wohnung suchen. Wie alle Erwachsenen.“

„Normale Menschen helfen ihren Verwandten!“

„Verwandten ja, aber nicht Ausnutzern, die…“

Victoria brach ab. Pavel warf die Tasse kraftvoll gegen die Wand. Die Scherben verteilten sich in der Küche.

„Also, entweder du lässt meinen Bruder in deine Wohnung einziehen, oder du kannst gehen!“ Seine Stimme zitterte vor Wut.

„Was?“

„Du hast richtig gehört! Dein ständiges Nörgeln ist mir zu viel. Mein Bruder hat sich endlich gefangen, und du…“

„Ich bin störend, oder?“ fragte Victoria plötzlich ruhig.

„Genau! Du machst mir ständig Steine in den Weg und denkst nur an dich!“

Sie wischte ruhig den Kaffee weg: „Ich habe beschlossen.“

„Und was?“, fragte er.

„Entschieden habe ich vor drei Wochen. Ich habe nur gewartet, bis du es selbst akzeptierst.“

Victoria verließ die Küche und ließ Pavel allein. Auf dem Nachttisch lag eine Mappe mit Unterlagen, alles vorbereitet. Die Wochen waren keine Zeitverschwendung gewesen.

Ende einer Ehe und Beginn eines neuen Lebens

„Du musst mich nicht erschrecken“, lächelte sie und blickte auf sein verblüfftes Gesicht. „Ich habe längst die Entscheidung getroffen, egal was du sagst.“

„Was redest du da?“ Er zupfte nervös an seiner Jacke. Schritte klangen im Flur, wahrscheinlich war Kirill wach.

„Da du das Thema Umzug angesprochen hast …“ sie hob die blaue Mappe hoch.

„Was ist das?“, fragte Pavel ungläubig.

„Die Scheidungspapiere. Ich habe den Antrag vor zwei Wochen eingereicht.“ Sie sprach gelassen, aber innerlich bebte sie vor Aufregung.

Pavel wurde blass, öffnete und schloss den Mund immer wieder.

„Und das hier“, zeigte sie einen zweiten Umschlag, „sind Dokumente für den Verkauf meiner Wohnung. Genau die, in die du deinen Bruder einquartieren wolltest. Der Deal steht kurz vor dem Abschluss.“

„Warte … warum?“

Er setzte sich, als könnten ihn seine Beine nicht mehr halten.

„Zuletzt, hier“, legte sie einen weiteren Brief vor ihn hin, „sind die Schauspielaufzeichnungen über den Verkauf meines Anteils an der Wohnung. Du kannst hier wohnen mit wem du willst, ich kümmere mich nicht. Die Transaktion wird abgeschlossen, sobald die Scheidung durch ist.“

„Bist du verrückt? Das war unser Zuhause!“

„War es. Bis du daraus ein Nachtquartier für deinen erwachsenen Bruder gemacht hast.“

„Victoria, lass uns reden …“

„Nein, Pavel, genug geredet. Ich habe während dieser Wochen verstanden, dass ich müde bin. Ermüdet von deiner Passivität, deiner absoluten Treue zu deinem Bruder und dem ständigen Alkoholgeruch in der Küche.“

„Aber was ist mit Alisa?“

„Alisa kommt mit mir mit. Nach Krasnodar.“

„Wohin?“

„Nach Krasnodar. Ich habe dort bereits eine Wohnung gekauft, mit dem Erlös aus dem Verkauf der jetzigen Wohnung. Und auch einen Platz für mein Studio habe ich gefunden.“

Pavel griff sich an den Kopf und flehte:

„Du kannst das nicht tun!“

„Ich kann. Und ich tue es. Denn im Gegensatz zu manchen kann ich Entscheidungen treffen und Verantwortung für mein Leben übernehmen.“

Ein zerzauster Kirill erschien an der Tür und fragte verlegen:

„Was ist los?“

„Nichts Besonderes“, versammelte Victoria die Papiere wieder in der Mappe, „ich habe nur endlich erkannt, dass manche Menschen lieber einen erwachsenen Bruder unterhalten, als eine Familie zu bewahren.“

„Victoria, warte!“

Doch sie verließ die Küche, ohne das Gespräch weiterzuführen.

Der Anfang eines anderen Lebens

Nach einem Monat stand Victoria auf dem Balkon ihrer neuen Wohnung. Unter ihr rauschte eine fremde Stadt, und der Duft von blühenden Magnolien erfüllte die Luft. Im Nebenzimmer ordnete Alisa fröhlich ihre Sachen und summte ein Lied.

„Mama, wann sehen wir dein Studio?“ rief die Tochter.

„Morgen, mein Schatz. Ab jetzt liegt alles in der Zukunft.“

Ein neuer Abschnitt begann ohne Anrufe aus der Vergangenheit, ohne alkoholische Gerüche in der Küche, ohne fremde Menschen im eigenen Zuhause. Und zum ersten Mal seit langem fühlte sich Victoria innerlich ruhig und frei.

Draußen rauschte die Stadt, die nichts von ihrer Geschichte wusste – und das war genau richtig.

Zusammenfassung:

Victoria wird mit der Rückkehr ihres Schwagers Kirill konfrontiert, dessen schwieriger Zustand die Familie stark belastet. Ihr Mann Pavel besteht darauf, Kirill bei sich aufzunehmen, obwohl dies Spannungen verursacht und das familiäre Leben zerstört. Victoria ringt mit dieser Situation, fürchtet um das Wohl ihrer Tochter und letztlich zieht sie die Konsequenzen, indem sie sich für einen Neuanfang entfernt von dieser belastenden Lage entscheidet. Die Geschichte verdeutlicht Herausforderungen im Umgang mit Familienmitgliedern in der Krise und die schwierige Balance zwischen Verantwortung und Selbstschutz.