Die schleichende Erosion der Privatsphäre: Ein verletztes Herz und eine gebrochene Familie

Die letzten Tropfen des Regens verstummten hinter dem Fenster und hinterließen auf der Scheibe gewundene, nasse Spuren, die im Licht der Morgensonne glitzerten. In der Küche wehte der Duft von frisch gebrühtem Kaffee und warmem Brot. Lika genoss diese friedliche Atmosphäre, diesen Moment völliger Ruhe in ihrer neuen, geräumigen Wohnung. Langsam rührte sie mit einem Löffel in ihrer Tasse und beobachtete, wie die Kaffeekörner tanzten. Diese Wände, dieser Blick aus dem Fenster auf den erwachenden Innenhof – all das war ihr Geschenk für ihr gemeinsames Leben, ein Geschenk von Herzen.

Die Wohnung hatte sie mit dem Geld gekauft, das sie nach dem Tod ihrer Großmutter geerbt hatte. Ein kleines, aber bedeutungsvolles Erbe, das sie ohne Zögern in ihre und Sergejs Zukunft investierte. Sie erachtete diese Quadratmeter als ihre gemeinsame Festung, als einen sicheren Rückzugsort, der sie für viele Jahre schützen würde.

Sergej saß ihr gegenüber, vertieft in den Bildschirm seines Tablets. Sein Gesicht, das normalerweise einen Hauch von leichter Ermüdung ausstrahlte, wirkte jetzt entspannt. Er legte das Gerät beiseite und griff nach seiner Tasse.

— Heute ist der Kaffee wirklich gelungen, — sagte er, und seine Stimme trug ein seltenes Lob.

Lika lächelte.

— Danke. Ich denke, bis zum Abend wird der Regen ganz aufhören. Vielleicht sollten wir in den Park gehen?

— Mal sehen, — nickte er, doch sein Blick wurde wieder abwesend, als wäre er beschäftigt, im Kopf ein komplexes Rätsel zu lösen. Er nahm einen weiteren Schluck und stellte die Tasse mit einem leisen, aber deutlichen Klirren auf die Untertasse. Eine erdrückende Stille hing in der Luft, zu schwer und dick für diesen leichten Morgen.

— Übrigens, — sagte Sergej leise, als ob er seine Gedanken laut aussprach, — meine Mutter zieht nächste Woche zu uns. Mit ihrer alten Einzimmerwohnung steht fest, dass die Nachbarn sie verrückt machen. Sie wird vorübergehend bei uns wohnen, bis wir etwas Passendes in der Nähe finden. Also gehört die Wohnung jetzt zu dritt.

Er sprach in einem sachlichen, geschäftsmäßigen Ton, den er normalerweise für Arbeitspläne oder Zeitplanänderungen verwendete. Lika erstarrte, während ihr eine eisige Welle durch den Körper lief. Die Worte ihres Mannes klangen nicht wie ein Vorschlag oder eine Bitte. Es war ein Urteil. Ein Ultimatum, das beim Morgenkaffee ausgesprochen wurde.

Das Licht der Sonne, das gerade noch so sanft war, störte nun die Augen. Die Stille in der Küche wurde ohrenbetäubend und drückte auf ihr Trommelfell. Sie sah Sergej an, doch er hatte seinen Blick erneut auf das Tablet gerichtet, als hätte er gerade die Wettervorhersage verkündet. Der familiäre Streit, der alles auf den Kopf stellen würde, begann nicht mit Geschrei oder zerbrochenem Geschirr. Er begann mit dieser ohrenbetäubenden Stille, in der ihr Vertrauen in einem Augenblick zerbrach. Ein Kloß stieg ihr in den Hals, aber sie schluckte ihn hinunter, spürte, wie ihre Finger automatisch um das warme Porzellan ihrer Tasse klammerten.

Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie darauf wartete, dass Sergej zur Arbeit ging. Das Wort „unsere“, das aus seinen Lippen kam, hallte dumpf in ihren Schläfen. Unsere Wohnung? Ja, aber nur, weil sie sie so gemacht hatte. Jetzt jedoch verwandelte sich ihr Beitrag, ihr Erbe in einen schlichten Wohnraum, in dem jemand sein Bett aufstellen und Regeln aufstellen könnte, ohne sie zu fragen.

Mechanisch wusch sie die bereits saubere Tasse und fuhr mit dem Schwamm immer wieder über den Rand, bis ihre Finger durch das heiße Wasser steif wurden. Ihre Gedanken rasch überflogen sie wie Scherben zerbrochenen Glases. Das Gästezimmer. Das helle, mit Balkon, in dem sie sich wünschte, eine Staffelei aufzustellen und endlich zu malen. Darin lagerten Kisten mit ihren alten Sachen, Briefen, Fotos – alles, was ihre persönliche Geschichte bildete, unabhängig von Sergej. Nun sollte dieser Raum zur Heimat von Galina Petrowna werden.

Am Abend wartete sie auf seine Rückkehr. Das Abendessen verlief in beklemmender Stille. Durch das Klappern von Gabeln auf Tellern sagte Lika schließlich, wobei sie darauf achtete, dass ihre Stimme nicht zitterte:

— Sergej, wir müssen über das sprechen, was du am Morgen gesagt hast. Über deine Mutter.

Er legte das Messer beiseite, kaute langsam und schaute über die Salatschüssel hinweg zu ihr, mit einem ruhigen und festen Blick.

— Was genau gibt es zu besprechen? Ich habe alles bereits entschieden.

— Entscheidest du? — Ihr Stimme schnitt hoch. — Du hast entschieden, dass in meiner Wohnung, die ich mit meinem Geld gekauft habe, jemand wohnen wird, der mich nie respektiert hat? Du hast mich nicht einmal gefragt!

— Es ist nicht deine, sondern unsere, — korrigierte er kalt. — Wir sind verheiratet, oder hast du das vergessen? Und es geht um meine Mutter. Sie ist allein. Sie hat Probleme. Was gibt es da zu fragen?

— Die Frage ist, dass das eindringlich ist! — Lika stand auf und stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch. — Du weißt genau, wie sie zu mir steht. All die Jahre hat sie mir klargemacht, dass ich deinem Niveau nicht entspreche. Und jetzt wird sie bei uns leben? Ihre Ordnung festlegen?

— Hör auf, dramatisch zu sein, — schob er den Teller zur Seite und sein Gesicht nahm den Ausdruck eines müden Managers an, der sich mit einem nachlässigen Mitarbeiter unterhält. — Du verstehst keine einfachen Dinge. Sie ist meine Mutter. Wir können sie in ihrer schweren Zeit nicht im Stich lassen. Man nennt das Familienwerte. Hast du davon noch nie gehört?

In seiner Stimme war ein giftiger Ton. Diese Worte waren ein Schlag ins Gesicht. Familienwerte. Lika erinnerte sich daran, wie Galina Petrowna sie bei ihrem ersten Treffen mit einem wertenden Blick von oben bis unten musterte. Und später, bei der Hochzeit, flüsterte sie Sergej so, dass Lika es hörte: „Nun ja, Hauptsache, der Charakter ist gut, alles andere kann man lernen.“ Sie hatte sich immer wie ein gebrauchtes Möbelstück gefühlt, das man wegen der Zuneigung des Sohnes tolerierte.

— Deine Familienwerte, — zischte sie, während ihre Knie zitterten, — scheinen sehr praktisch zu sein. Sie funktionieren nur in eine Richtung – von mir zu deiner Familie. Meine Gefühle, mein Raum, mein Mitspracherecht im eigenen Haus – alles ist nicht entscheidend.

— Du bist egoistisch, Lika, — schloss er, während er aufstand. Das Gespräch war beendet. — Mama zieht am Montag um. Gewöhne dich daran.

Er verließ die Küche und ließ sie mit dem Gefühl völliger Leere und brennender Ungerechtigkeit zurück. Sie stand da und starrte auf seinen leeren Stuhl und begriff, dass ihre Ehe, die sie für eine Festung gehalten hatte, in Wirklichkeit ein brüchiges Kartenhaus war. Nur ein Hauch von seiner echten Familie würde genügen, um es zum Einsturz zu bringen und sie zu erdrücken. Seine Familienwerte waren heuchlerisch. Sie funktionierten nur in eine Richtung – von ihr zu ihm, forderten Opfer, gaben jedoch nichts zurück, außer Enttäuschung.

Der Umzug von Galina Petrowna am Montag wurde in der gleichen unwavering Unbarmherzigkeit organisiert, mit der Sergej ihn angekündigt hatte. Er nahm sich einen Tag frei, und zusammen mit seiner Mutter trugen sie Sachen hinein, während Lika bei der Arbeit war. Sie hatte sich absichtlich verspätet in der Hoffnung, dass dies den Moment der Konfrontation hinauszögern würde. Doch als sie am Abend zurückkam, spürte sie mit jeder Faser ihres Seins die eingetretenen Veränderungen.

Im Flur stand nun auf ihrem eleganten Konsolentisch ein massives sowjetisches Geschirrset aus dunklem Holz, daneben hing ein Plakat mit einer Katze, die sie nicht ausstehen konnte. Die Luft in der Wohnung roch nach fremdem Parfüm — schwer, süßlich, störte den gewohnten Duft ihrer Vanillekerze.

Galina Petrowna erwartete sie an der Küchentür, gelehnt an den Rahmen, als wäre sie nicht hereingekommen, sondern schon längst eingesessene Herrscherin. Sie trug einen alten, abgewetzten Morgenmantel, den Lika mental sofort als das „Flanellmonster“ bezeichnete.

— Na, da bist du ja, — sagte sie und musterte Lika mit einem bewertenden Blick. — Wir haben schon fast alles an seinen Platz gerückt. Deine Kisten aus dem Zimmer habe ich in den großen Schrank im Flur gepackt. Da stören sie niemanden.

Lika geriet ins Schwitzen. In diesen Kisten lagen ihre Studienzeichnungen, alte Fotoalben, Briefe.

— Sind Sie etwa in meine Sachen gegangen? — entfuhr es ihr.

— Beruhige dich, sei nicht übertrieben dramatisch, — der Satz, den sie offensichtlich von ihrem Sohn übernommen hatte, kam ihr wie ein Schlag ins Gesicht vor. — Ich musste Platz schaffen. In dem Raum steht jetzt mein Schminktisch, er braucht Licht vom Fenster.

Während Sergej in der Küche Tee eingoss und vorgab, das Gespräch nicht zu hören, strahlte sein Rücken völlige Distanz aus.

Beim Abendessen begann das Schlimmste. Galina Petrowna, schmatzend, murmelte beim Blick auf den Salat:

— Seltsames Dressing. In meiner Zeit hat man einfach mit Sauerrahm abgedeckt. Gesünder und der Geschmack war natürlicher.

Dann fiel ihr Blick auf die moderne Pendelleuchte über dem Tisch.

— Ach, wie umständlich das sich reinigen lässt. Der ganze Staub setzt sich darauf ab. Hätten wir besser etwas Einfaches mit Lampenschirmen genommen. Praktischer.

Jede ihrer Bemerkungen war ein kleiner Stich, der ihre Wahl, ihren Geschmack, ihr Recht, in ihrer eigenen Wohnung zu verfügen, herabsetzte. Sie kritisierte nicht nur – sie strich sie durch.

— Weißt du, Lika, — sagte sie, als sie ihren Teller beiseite schob, — als Sergej diese Wohnung kaufte, habe ich ihm geraten, sich nach Alternativen in dem neuen Komplex am Werk zu erkundigen. Dort sind die Grundrisse durchdachter. Aber offensichtlich respektierte er deine Wahl.

Lika erstarrte mit der Gabel in der Hand. Gekauft? Er?

Sie schaute zu Sergej. Er starrte auf seinen Teller, sein Gesicht war tiefrot, doch er sagte kein Wort. Das stille Einverständnis der Lüge war ohrenbetäubend.

Am Abend, als Lika ins Bett ging, konnte sie es nicht mehr ertragen.

— Hast du gehört, was sie gesagt hat? Dass du diese Wohnung gekauft hast!

— Erfinde keine Probleme aus dem Nichts, — murmelte Sergej, wandte sich der Wand zu. — Mama ist einfach von alter Schule. Sie erinnert sich nicht an Kleinigkeiten. Du musst nicht aus einer Mücke einen Elefanten machen.

Doch für Lika war es keine Mücke. Es war die Bestätigung ihrer schrecklichsten Vermutung. Sie war hier keine Herrin. Sie war eine vorübergehende Bewohnerin in einem fremden Raum, in dem alles fremd geworden war – nicht nur die Dinge, sondern auch die Wahrheit. Ihr Beitrag zu ihrem gemeinsamen Zuhause wurde verwischt wie eine Bleistiftzeichnung, und an seiner Stelle wurde mit fester Hand eine neue, bequeme Geschichte für sie geschrieben. Und ihr Mann war Komplize dieser Fälschung.

Drei Wochen des Lebens zu dritt wurden für Lika zu einem belastenden, erschöpfenden Ritual. Jeder Morgen begann mit Galina Petrowna, die mit leiser Stimme an die Tür klopfte und rief: „Serguschka, möchtest du Tee?“ – als ob es auf der Welt nur ihn gab. Jeden Abend beim Abendessen musste Lika sich Kommentare über ihren Geschmack, ihre Kochkünste und ihr Unverständnis für „richtiges“ Haushalten anhören.

Innerlich zog sie sich zusammen, versuchte nicht zu reagieren, atmete tiefer, wie die Artikel zur Psychologie es empfahlen. Sie versuchte, mit Sergej zu sprechen, doch er wischte es ab, wie von einer lästigen Fliege: „Sie will nur helfen. Nimm das nicht so zu Herzen.“ Seine Familienwerte waren wie eine taube Wand, an der alle ihre Argumente abprallten.

Der Wendepunkt kam an einem Samstag. Lika entschied sich, die Dinge im Kleiderschrank zu sortieren, um die Winterpullover zu sortieren. Als sie die Tür öffnete, erstarrte sie im Durchgang. Die Regale, die sie ordentlich organisiert hatte, waren zugestopft. Ihre Wollpullover lagen zerknüllt am Boden, während ihre Stelle ordentlich mit gehäkelten Pullovern und Röcken von Galina Petrowna befüllt war. Auf dem sichtbarsten Regal hing dieses flanellene Ungeheuer — der alte Morgenmantel.

Eine heiße Welle des Zorns durchfuhr sie. Es war nicht nur ein kleiner Angriff, sondern eine Verletzung ihres letzten, intimen Raums. Sie drehte sich hastig um und ging ins Wohnzimmer. Sergej schaute Fernsehen und seine Mutter strickte im Sessel und strahlte unerschütterliche Ruhe aus.

— Galina Petrowna, — ihre Stimme zitterte, aber sie versuchte, sie ruhig zu halten. — Sie haben meine Sachen aus dem Kleiderschrank geräumt.

Die Frau sah sie langsam an, ohne das Stricken zu unterbrechen.

— Ach, da war nicht viel Platz. Musste etwas von deiner Seite rücken. Meine Sachen fühlen sich auf Engen nicht wohl, die Wolle knittern dann.

— Das ist mein Kleiderschrank! — Lika konnte sich nicht länger zurückhalten. — Sie haben kein Recht, meine Dinge ohne zu fragen umzulagern!

Sergej stellte den Fernseher aus und schaute sie an, sein Gesicht war düster.

— Lika, beruhige dich. Das sind nur Sachen. Mama hat es nicht böse gemeint.

— Nicht böse? — Sie lachte hysterisch. — Sie mischt sich überall ein, kritisiert alles, räumt alles ein! Sie dringt in mein persönliches Leben ein, und du sagst „nicht böse“!

Galina Petrowna legte ihr Stricken mit einem Ruck beiseite.

— Immer das gleiche! — Ihre Stimme wurde schrill und klagend. — Ich versuche zu helfen, und ich werde beschuldigt! Kleiner, siehst du, wie sie auf mich losgeht? In meinem Alter habe ich nicht einmal meine eigene Ecke!

— Du hast ein ganzes Zimmer! — rief Lika und wandte sich jetzt an Sergej. — Ein Zimmer in meiner Wohnung! Einer Wohnung, die mit meinem Erbe gekauft wurde! Und du tust so, als wäre deine Mutter hier die volle Herrin, und ich bin nur die Untermieterin!

Sergej sprang abrupt auf. Wut verzerrte sein Gesicht. Er trat dicht an sie heran und in seinen Augen sah sie einen fremden, unbekannten Menschen.

— Genug mit deinem Theater! — zischte er, und der Spritzer Speichel traf sie im Gesicht. — Ja, es ist meine Mutter! Und sie wird hier wohnen, solange es nötig ist! Und wenn dir etwas nicht gefällt — ertrage es! Die Wohnung ist auf dich registriert, aber ich sehe, dass dir das kein Mitspracherecht gibt. Du bist einfach nicht in der Lage zu verstehen, was eine echte Familie ist!

Diese Worte klangen wie ein Urteil. Lika zuckte zurück, als wäre sie geschlagen worden. Die ganze Wut, der ganze Schmerz verschwanden und hinterließen eine kalte, kristallene Leere. Er verstand nicht nur nicht, was sie fühlte. Er verachtete ihre Gefühle. Ihr Recht auf eigenen Raum, Respekt, eine Stimme in ihrem eigenen Zuhause – all das existierte für ihn nicht.

Schweigend drehte sie sich um und verließ den Raum. Der Streit war beendet, aber der Krieg, so erkannte sie, hatte gerade erst begonnen. Und jetzt würde sie ihn anders führen. Nicht mit Schreien, sondern mit Stille. Nicht mit Emotionen, sondern mit kaltem, gnadenlosem Kalkül.

Die eisige Ruhe, die den Zorn ablöste, war schlimmer als jedes Geschrei. Lika knallte nicht die Türen, sie weinte nicht. Sie hob still ihre zerknitterten Pullover aus dem Kleiderschrank auf, faltete sie ordentlich und verstaut sie in einem Vakuumbeutel unter dem Bett. Jede Bewegung war langsam und absichtlich, als würde sie nicht lediglich Dinge sammeln, sondern Scherben ihrer eigenen Geduld, um sie zu etwas Neuem, Festem und Scharfen zu verbinden.

Am nächsten Tag nahm sie sich frei, unter dem Vorwand, Migräne zu haben. Doch ihr Kopf war klarer denn je. Während Sergej bei der Arbeit war und Galina Petrowna ihre Morgenshows genoss, setzte sich Lika an den Familiencomputer. Sie öffnete ihre gemeinsame Buchhaltung – eine Tabelle, die sie seit der Hochzeit geführt hatten. Früher waren diese Zahlen eine langweilige Reflexion ihres gemeinsamen Lebens. Jetzt wurden sie zum Untersuchungsfeld.

Sie schaute sich die Ausgaben des letzten Jahres an. Plötzlich fiel ihr ein seltsames Muster auf. Dreimal, mit einem Abstand von mehreren Monaten, hatte Sergej große Beträge abgehoben – zweihundert, dreihunderttausend Rubel. Im Verwendungszweck standen lakonische Einträge: „Investitionen“, „Projekt“, „Reserve“. Auf ihre direkten Fragen hatte er sich früher abgewandt: „Ich investiere in ein vielversprechendes Projekt, es wird sich auszahlen.“ Sie hatte daran geglaubt. Jetzt klangen diese Worte bittererweise spöttisch.

Ein Gedanke kam plötzlich und schrecklich. Sie stand auf und ging zu seinem Schreibtisch. In der unteren Schublade, unter einem Stapel alter Quittungen, lag ein Schlüsselbund. Unter den neuen, modernen befand sich ein kleiner, abgenutzter Schlüssel von einem alten Briefkasten in ihrem ersten gemeinsamen Haus, das sie vor fünf Jahren vermietet hatten. Sergej hatte damals gesagt: „Ich behalte ihn zur Erinnerung“. Jetzt hatte diese Erinnerung eine neue Bedeutung.

Sie nahm den Schlüssel und fuhr in dieses alte Viertel. Die Briefkästen hingen in einem so vertrauten und doch fremden Treppenhaus. Ihre Hand zitterte, als sie den Schlüssel steckte. Drinnen lagen nur Rechnungen vom Telefonanbieter und … ein einfacher, unscheinbarer Telefon. Ein altes Modell, ohne Passwort. Ihr Herz pochte am Hals.

Sie kehrte nach Hause zurück, wartete, bis Galina Petrowna in ihr Zimmer für den Nachmittagsschlaf ging, und schaltete den Fund ein. Das Telefon erwachte, und auf dem Bildschirm blinkten Benachrichtigungen. Sie öffnete den Messenger. Der Chat. Name – „Katja“. Und die erste Nachricht, die sie sah, ließ ihr Blut zu Eis werden.

— Ich vermisse dich. Wann wird das endlich vorbei sein? Ich bin es leid, mich zu verstecken.

Lika blätterte nach unten. Ihr eigenes Name erschien in seinen Antworten, und jedes Mal – wie ein Name eines Hindernisses, eines Problems.

— Geduld, mein Kätzchen. Lika hält das Dasein der Mama nicht aus. Bald wird sie selbst nicht mehr durchhalten und abhauen. Dann bleibt die Wohnung mir. Dann sind wir zusammen. In unserer neuen Wohnung.

Sie saß dort und hielt den kalten Plastik in ihrer Hand, spürte nichts. Weder Schmerz noch Zorn. Nur absolute, bodenlose Leere. Die ganze Geschichte mit dem Umzug der Schwiegermutter, all die Gespräche über „Familienwerte“ waren nicht mehr als Theater. Kaltes, zynisches Kalkül. Er hatte seine eigene Mutter als Ramme benutzte, um ihr Leben zu ruinieren, sie aus ihrem eigenen Zuhause zu drängen und sich mit der Geliebten in ihrem Erbe niederzulassen.

Untreue ist nicht immer eine physische Affäre. Manchmal ist es ein leiser, durchdachter Schlag in den Rücken, bei dem dein Herz die Währung ist und dein Zuhause der Preis für die andere. Sie steckte das Telefon zurück in ihre Tasche. Der Krieg war erklärt. Doch nun kannte sie das Gesicht des Feindes und verstand seine wahren Motivationen. Und dieses Wissen war schrecklicher als jeder Skandal.

Von diesem Tag an herrschte im Haus eine seltsame, klingende Stille. Lika stritt nicht mehr, widersprach nicht mehr, versuchte nicht, ihre Richtigkeit zu beweisen. Ihr Gesicht wurde glatt, unergründlich wie eine Maske. Auf Galina Petrowna’s scharfe Bemerkungen über nicht frische Produkte oder Staub auf den Regalen nickte sie nur kurz: „Gut, ich werde darauf achten.“ Ihre Ruhe war so unnatürlich, dass zunächst Schwiegermutter und dann auch Sergej verwirrt waren.

Eines Morgens, nicht länger hinnehmend, warf Galina Petrowna beim Frühstück schneidend:

— Was ist mit dir heute so bescheiden? Oder hast du dir endlich beigebracht, dich richtig zu benehmen?

Lika richtete langsam ihren Blick auf sie. Er war leer, gleichgültig, als schaue sie auf Mobiliar.

— Ich habe einfach alles überdacht. Sie haben recht, man muss harmonisch leben.

Sie nahm ihre Tasse und verließ die Küche, während die Frau in Verwirrung zurückblieb. Diese eisige Höflichkeit wirkte auf die Nerven stärker als jeder Schrei. Auch Sergej spürte, dass etwas nicht stimmte. Er versuchte, ein Gespräch zu beginnen, alles wieder wie früher zu machen, doch er stieß auf dieselbe höfliche Wand.

— Lika, vielleicht gehen wir ins Kino? Wie früher? — schlug er vor, und seine Stimme klang unsicher.

— Wenn du willst, — antwortete sie gleichgültig. — Aber du hast viel Arbeit. Du solltest dich nicht zwingen.

Er verstand nicht, was vor sich ging. Sein Plan, der auf ihren Ausbrüchen und Wutausbrüchen basierte, funktionierte nicht mehr. Ohne ihre emotionale Reaktion fiel er ins Bodenlose. Er und seine Mutter begannen, sich untereinander zu streiten, ohne Widerstand von ihrer Seite.

— Sergej, sag ihr, dass sie meine Blumen auf dem Fensterbrett nicht anfassen soll! — murmelte Galina Petrowna. — Die werden doch verwelken!

— Mama, lass es, — murmelte er gereizt zurück. — Du mischt dich überall ein.

Lika beobachtete das Ganze aus der Ferne, wie eine Zuschauerin. Während sie sich gegenseitig anfeindeten, handelte sie. Sie ging zu einem Anwalt, der bestätigte, dass die Wohnung, die mit geerbtem Geld gekauft wurde, ihr persönliches Eigentum ist. Der Ehemann hat darauf kein Recht. Sie sammelte alle Dokumente und machte Kopien. Sie machte einen separaten Ordner am Computer, in den sie Kontoauszüge speicherte, die besagte fragwürdige Überweisungen zeigten.

Sie kaufte ein kleines Diktiergerät und begann, es zuhause in der Tasche zu tragen. Nun wurde jeder giftige Kommentar von der Schwiegermutter, jede Bemerkung, dass „Sergj gekauft hat“, jeder herablassende Rat aufgezeichnet. Sie wurde zur Schattenbogenarchivarien ihres eigenen Untergangs.

Abends, als sie am Flur vorbeiging, hörte sie Sergej, der seiner Mutter leise sagte:

— Halte durch, Mama. Sie wird bald nicht mehr durchhalten. Katja fragt schon, wann das alles endet.

— Ich habe alles satt! — schnitt Galina Petrowna zurück. — Ich lebe wie am Bahnhof! Du hast versprochen, dass es schnell gehen wird.

Lika lächelte leise in der Dunkelheit. Ihre Verbindung riss. Gier und Ungeduld der Geliebten, der Druck der herrschsüchtigen Mutter, Sergejs Angst, alles zu verlieren – seine eigene Falle schloss sich. Und sie, Lika, wartete nur und hielt die Fäden in der Hand, um in dem richtigen Moment daran zu ziehen und dieses Kartenhaus, das sie Familie nannten, zu zerstören. Ihre Rache würde nicht heiß und skandalös sein. Sie würde kalt, still und unumkehrbar sein, wie der Einzug des Winters.

Sie wählte den Abend am Freitag. Sergej war zuhause, Galina Petrowna, die sang, räumte gerade frisch gewaschene Tassen auf den Regalen des Wohnzimmers und stellte sie auf neue, geflochtene Servietten, die sie selbst mitgebracht hatte. Die Luft war voller gewohnter Anspannung, gewürzt mit ihrem vorgetäuschten Triumph. Lika kam aus dem Schlafzimmer. Sie trug eine einfache Jeans und ein T-Shirt, aber trat mit so kalter, unerschütterlicher Sicherheit auf, dass beide unwillkürlich schwiegen und etwas Fremdes spürten.

Sie ging still zum Esstisch und stellte auf dessen Glasplatte nicht Tassen mit Tee, sondern einen dünnen, aber schweren Kartonordner ab. Der dumpfe, feste Klang ertönte wie ein Schuss.

— Wir müssen reden, — sagte Lika. Ihre Stimme war gleichmäßig, ohne jede emotionale Note. — Setzt euch hin.

Sergej runzelte die Stirn, zuckten genervt mit der Schulter.

— Beginnt das wieder? Lass das Theater sein!

— Das ist kein Theater, — parierte sie. — Das ist das Ende. Setz dich.

Ihr Ton erlaubte keine Widerrede. Er ließ sich unwillig auf den Stuhl fallen. Galina Petrowna, mit einer abfälligen Haltung, blieb stehend, die Arme vor der Brust verschränkt.

Lika öffnete langsam den Ordner. Sie handelte wie eine Ermittlerin, die ein Urteil vorträgt.

— Ich fange mit dem Wichtigsten an. Die Wohnung. Sie wurde mit Mitteln gekauft, die ich von meiner Großmutter geerbt habe. Laut Artikel 36 des Familiengesetzbuchs ist das Vermögen, das einer der Ehepartner durch eine unentgeltliche Transaktion erhält, dessen persönliches Eigentum. – Sie zog eine beglaubigte Kopie des Erbscheins und einen Auszug aus dem öffentlich-rechtlichem Register aus dem Ordner. — Deine Rechte an dieser Wohnfläche, Sergej, sind gleich null.

Er wurde blass, versuchte aber, zu widersprechen:

— Was hast du gemacht? Hast du dich mit Juristerei befasst? Wir leben in einer Ehe!

— Ehe ist kein Grund für Verrat, — schnitt sie kalt ab und legte die nächsten Papiere bereit. — Jetzt zu den Finanzen. In diesem Jahr hast du von unserem gemeinsamen Konto insgesamt achthundert-siebzigtausend Rubel abgehoben unter dem Vorwand „Investitionen“. — Sie legte ausgedruckte Kontoauszüge auf den Tisch, auf denen die strittigen Transaktionen mit bunten Markierungen hervorgehoben waren. — Wohin sind diese Gelder geflossen? Für Geschenke? Für die Miete einer Wohnung für Katja?

Der Name, laut ausgesprochen, hing in der Luft wie der Geruch von Rauch. Sergej erstarrte, seine Augen weiteten sich vor Schreck. Galina Petrowna hörte auf zu atmen.

— Was redest du? Welche Katja? — versuchte er, in der Stimme Halt zu finden, aber es klang nur wie ein jämmerlicher Abklatsch.

Lika würdigte das keiner Antwort. Stattdessen holte sie ihr Telefon heraus, fand ihre Audioaufnahmen und spielte eine davon ab. Aus dem Lautsprecher drang ihre eigene, erschöpfte Stimme: „Galina Petrowna, Sie haben kein Recht, meine Sachen umzulagern!“ Und gleich darauf die schrille Antwort der Schwiegermutter: „Sohnchen, siehst du, wie sie auf mich losgeht? In meinem Alter habe ich nicht einmal meine eigene Ecke!“ Und Sergejs metallische Stimme: „Genug mit den Wutausbrüchen! Die Wohnung ist auf dich registriert, aber dir das Mitspracherecht auszuräumen hat keinen Sinn!“

— Ich denke, das Gericht wird es interessant finden zu hören, wie ihr beiden unerträgliche Bedingungen geschaffen hattet, um mich aus meiner eigenen Wohnung zu vertreiben, — bemerkte Lika, als sie die Aufnahme ausschaltete.

Dann legte sie das letzte Dokument auf den Tisch – Screenshots der Korrespondenz von diesem alten Telefon. In großen Buchstaben war die Nachricht hervorgehoben: „Lika hält das Dasein der Mama nicht aus. Bald wird sie selbst nicht mehr durchhalten und abhauen. Dann bleibt die Wohnung mir. Dann sind wir zusammen.“

Im Raum trat eine Grabesstille ein, nur durch ein ersticktes Stöhnen von Galina Petrowna unterbrochen. Sergej saß da, starre auf den Tisch, sein Gesicht wurde erdfarben, seine Hände zitterten.

Lika sah abwechselnd auf sie — auf den Mann, dessen Lüge und Kalkül vor ihnen offen und hässlich dalagen, und auf seine Mutter, deren überheblicher Ausdruck endlich von Panik abgelöst wurde.

— Du wolltest, dass ich gehe? — sprach sie leise, aber deutlich, während sie Sergej in die Augen sah. — Da irrst du dich. Du wirst gehen. Mit deiner Mutter. Morgen. Ihr beide. Es ist mein Erbe. Meine Wohnung. Und meine Regeln. Und meine Regel ist einfach: Verrätern und denen, die ihnen helfen, ist in meiner Festung kein Platz.

Sie stand auf und ließ den Ordner mit den unbestreitbaren Beweisen ihres Niedergangs auf dem Tisch liegen.

— Morgen früh um neun will ich, dass ihr und eure Sachen hier nicht mehr sind. Legt die Schlüssel auf den Tisch. Wenn ihr das nicht macht, gehen die nächsten Kopien dieser Dokumente ins Gericht und an eure Firmenleitung. Ich denke, das wird sie interessieren, wofür die „Projekte“ die Unternehmensgelder abgezogen wurden.

Sie drehte sich um und verließ den Raum, ohne sich umzublicken. Hinter ihr ertönte der ohrenbetäubende Schrei von Galina Petrowna: „Was hast du getan!“ — und Sergejs gedämpftes, ersticktes Weinen. Sie fühlte sich nicht daran getroffen. Sie ging zum Fenster und sah auf den sich verdunkelnden Himmel. Zum ersten Mal seit vielen Monaten atmete sie tief und frei. Ihre Festung hatte standgehalten. Und um sich zu bewahren, musste sie das zerstören, was sie einst Familie nannte. Auch wenn es ihre eigene Festung war.