Lisa saß im Wohnzimmer und hörte, wie ihr Sohn Artem laut am Telefon stritt. Er sprach erregt mit einem Freund, und sie konnte nicht anders, als Teile ihres Gesprächs aufzuschnappen.
„Ja, Mama versteht überhaupt nichts!“, rief er wütend, und Lisa zuckte unwillkürlich zusammen. „Sie hat nie gewusst, was ich wirklich brauche.“
Ein stechender Schmerz durchfuhr ihr Herz. Sie konnte nicht glauben, dass ihr Sohn, für den sie ihr ganzes Leben gearbeitet und gesorgt hatte, so über sie dachte. Als Artem die Tür zu seinem Zimmer laut zuschlug, stiegen ihr Tränen in die Augen. Sie zögerte einen Moment, ging dann aber doch zu seinem Zimmer, um mit ihm zu sprechen. Doch als sie die Tür erreichte, blieb sie wie erstarrt stehen.
Auf seinem Schreibtisch lag ein Zettel mit den Worten: „Mama, vergib mir für alles…“
Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Was bedeutete das? Mit zitternden Händen griff sie nach ihrem Telefon, um Artem anzurufen, doch in diesem Moment hörte sie, wie sich leise der Schlüssel im Türschloss drehte.
Lisa eilte in den Flur und sah Artem an der Tür stehen. Sein Gesicht war angespannt, seine Augen voller Unsicherheit. In der Hand hielt er einen Rucksack, als wäre er kurz davor, das Haus zu verlassen.
„Artem, warte“, sagte sie mit bebender Stimme. „Kannst du mir erklären, was hier los ist?“
Er erstarrte, wich ihrem Blick aus, blieb jedoch stehen. Lisa trat vorsichtig näher.
„Ich habe deinen Zettel gefunden“, sagte sie leise. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr er mich erschreckt hat.“
„Mama, es ist nicht so, wie du denkst“, murmelte er. „Ich… ich weiß nur nicht, wie ich es dir erklären soll.“
Lisa sah, wie seine Schultern leicht sanken, als würde eine unsichtbare Last auf ihm lasten. Sie atmete tief durch und versuchte, ruhig zu bleiben.
„Artem, du kannst mir alles sagen. Egal, was es ist, ich bin auf deiner Seite.“
Langsam hob er den Blick, seine Augen voller innerem Kampf.
„Ich bin müde, Mama“, sagte er schließlich. „Müde davon, jemand zu sein, den du in mir sehen willst. Ich weiß, dass du nur das Beste für mich möchtest, aber ich habe das Gefühl, mich selbst zu verlieren.“
Diese Worte trafen Lisa unvorbereitet. Sie hatte nicht erwartet, so etwas von ihm zu hören.
„Denkst du wirklich, ich will, dass du jemand anderes bist?“ fragte sie leise.
„Manchmal fühlt es sich so an“, gab er zu. „Ich versuche, deine Erwartungen zu erfüllen, aber es ist einfach zu viel.“
Lisas Herz zog sich zusammen. Sie erkannte, dass all ihre Fürsorge und Liebe für Artem vielleicht wie ein unsichtbarer Druck gewirkt hatten.
„Artem“, sagte sie sanft, „du bist mir wichtiger als all meine Erwartungen. Wenn ich Fehler gemacht habe, dann tut es mir leid. Ich wollte nur, dass du glücklich bist.“
Tränen traten in Artems Augen. Der Rucksack fiel ihm aus der Hand, und im nächsten Moment umarmte er seine Mutter fest.
„Ich wollte nur, dass du mich verstehst“, flüsterte er.
„Ich werde es versuchen“, erwiderte Lisa und hielt ihn ebenso fest. „Wir werden das gemeinsam schaffen, Artem.“
Es war der Beginn eines neuen Abschnitts für sie beide – einer, in dem sie lernten, einander wirklich zuzuhören und zu verstehen.