Im späten März, als der Schnee noch schmutzig auf den Straßen lag, jedoch die Vorboten des Frühlings in der Luft spürbar waren, erhielt Olga eine unerwartete Beförderung. Sie saß im Büro ihres Vorgesetzten und betrachtete einen Umschlag mit ihrem neuen Arbeitsvertrag, unfähig, ihren Augen zu trauen. Ihre Gehaltszahlen waren beeindruckend – nun verdiente sie zwanzig Prozent mehr als Denis.
„Herzlichen Glückwunsch, Olga“, lächelte Igor Valeryevich, „du hast es dir verdient. Drei Jahre lang hast du tadellos gearbeitet, und die zwei erfolgreichen Projekte im letzten Jahr sind Beweis genug. Solche Mitarbeiter schätzen wir sehr.“
Als sie nach Hause ging, verspürte sie ein merkwürdiges Gefühl – eine Mischung aus Stolz und seltsamer Verlegenheit. Denis war stets der Hauptverdiener der Familie, was stillschweigend so akzeptiert wurde. Als Ingenieur in einer Baugesellschaft hatte er ein stabiles Einkommen und Sicherheit für die Zukunft. Olga hingegen arbeitete als Managerin in einer Logistikfirma, mit etwas geringeren Verdiensten. Damit waren beide zufrieden – keine Fragen darüber, wer das Sagen hatte, keine Streitigkeiten über Geldanlagen.
„Denis, ich habe Neuigkeiten“, sagte sie, als sie die Wohnung betrat und ihre Schuhe auszog.
Er kam aus der Küche, eine Tasse Tee in der Hand, in bequemen Jogginghosen und einem alten T-Shirt. Nach fünf Jahren Ehe hatte Olga seine Stimmunglagern nach seinem Gesichtsausdruck und der Art, wie er seine Tasse hielt, erlernt.
„Ich wurde befördert. Jetzt bin ich Abteilungsleiterin.“
„Wirklich?“, Denis stellte die Tasse ab und umarmte sie. „Das ist großartig! Ich wusste, dass du es schaffen würdest. Es wurde endlich Zeit.“
Sie schmiegte sich an ihn und nahm den vertrauten Duft seines Aftershaves und Waschmittels wahr.
„Und mein Gehalt ist jetzt höher als deins“, flüsterte sie, fast herausfordernd.
Denis trat zurück, sah ihr in die Augen und lachte:
„Na und? Ich bin jetzt auf die Unterstützung einer wohlhabenden Frau angewiesen. Ich werde mich auf die Couch lümmeln und Bier trinken.“
Ein leichter Schlag auf die Brust bescherte beiden ein Lächeln, und die Anspannung löste sich. Der Abend verbrachten sie mit Sekt in ihrer kleinen Küche und schmiedeten Pläne.
„Wie wäre es, wenn wir ein gemeinsames Konto eröffnen?“, schlug Denis vor, während er ihr ein weiteres Glas einschenkte. „Wir sollten für ein Auto sparen. Unseres ist jetzt über zehn Jahre alt und knarrt bei jeder Ungleichmäßigkeit. Es wird Zeit für ein neues.“
- „Einverstanden“, stimmte Olga zu. „Aber keine Kredite. Lass uns sparen, und dann kaufen wir es. Ich werde jeden Monat zwanzig Prozent meines Gehalts sparen, du auch. Bald haben wir genug für einen anständigen Neuwagen.“
Sie stießen an, und in diesem Moment fühlte sich Olga wie die glücklichste Person der Welt. Sie hatten ein Ziel; sie waren ein Team. Was könnte noch fehlen?
Eine Woche später eröffneten sie das Konto. Olga bestand darauf, dass es auf ihren Namen lief – einfach, weil sie als Erste Zeit hatte, zur Bank zu gehen. Denis hatte nichts dagegen und meinte, es sei ihm gleich, solange das Geld wuchs. In den ersten Monaten verlief alles nach Plan: Sie überwies ihre zwanzig Prozent, er seine. Bis Anfang Sommer hatte sich schon eine ansehnliche Summe angesammelt.
Doch dann erhielt Olga einen Anruf von Svetlana.
Olga arbeitete, als Denis ihr in Messenger schrieb: „Svetlana kommt aus Moskau zurück. Sie wird in einer Woche da sein.“ Nichts weiter. Keine Emotionen, keine Details.
Svetlana. Die jüngere Schwester von Denis, im selben Alter wie Olga – achtundzwanzig Jahre. Vor drei Jahren war sie nach Moskau gezogen, mit dem lauten Bekenntnis, dass sie in ihrer Heimatstadt erstickte und dringend Perspektiven, Karriere und ein richtiges Leben brauchte. Olgas Schwiegermutter, Tamara Ivanovna, hatte eine Woche lang geweint und ihre Tochter gebeten, nicht zu gehen. Aber Svetlana blieb unbeeindruckt. In Moskau wartete ein Freund auf sie, ein Einheimischer, und es wurde ein zahlungskräftiger Job versprochen.
„Was ist passiert?“, stellte Olga die Frage.
„Ich erzähle es dir abends.“
Abends war Denis düsterer als gewöhnlich. Er ging durch die Wohnung, stöhnte und murmelte unverständliche Worte als Antwort auf ihre Fragen. Schließlich setzte er sich ihm gegenüber am Tisch und ließ es heraus:
„Sie haben sich von Andrej getrennt. Er hat sie verlassen, einige Monate in der gemeinsamen Wohnung hat er taken. Svetlana wird mit ihrer Mutter zurückkehren. Sie wird alleine die Miete nicht bezahlen können, und auch die Arbeit hat nicht geklappt. Sie hatten große Versprechungen gegeben, aber die Wahrheit ist, dass sie kaum verdienen kann. Sie kommt zurück zu Mama.“
Olga legte langsam die Gabel auf den Teller.
„Zu Mama? Tamara Ivanovna ist beinahe siebzig Jahre alt. Sie ist schon in Rente.“
„Sie arbeitet noch. In der Schulkantine. Nebenbei.“
„Denis“, Olga spürte, wie eine Welle innerer Unruhe aufsteigt, „deine Schwester ist achtundzwanzig Jahre alt. Sie ist eine erwachsene Frau. Wie kann sie zurückkehren und von ihrer alten Mutter leben?“
Denis presste seine Kiefer zusammen.
„Was soll sie tun? Soll sie auf der Straße leben? Sie ist meine Schwester.“
„Sie soll einen Job finden. Ein Zimmer mieten. Wie alle normalen Menschen.“
„Sie wird einen Job finden. Es braucht nur Zeit. Mama ist damit einverstanden.“
Olga wollte etwas anderes sagen, aber sie schwieg. Sie sah es an Denis’ Gesicht: Es war sinnlos, zu streiten. Er liebte seine Schwester und war bereit, sie immer zu beschützen, auch wenn er zugab, dass sie unbeständig und leichtlebig war. Nach dem Tod des Vaters, als Denis sechzehn und Svetlana zehn Jahre alt war, hatte er die Verantwortung für die Familie übernommen. Er arbeitete, half seiner Mutter, fuhr seine Schwester zum Tanzunterricht und Englischen. Sie waren eng verbunden, und Olga akzeptierte das.
Aber das bedeutete nicht, dass sie mit der Situation einverstanden sein sollte.
Eine Woche später kam Svetlana. Sie klingelte am Samstagmorgen an der Tür, während Olga noch im Bademantel Tee in der Küche trank. Denis eilte zur Tür und in der Diele ertönte ein fröhlicher Schrei:
„Denis! Ich habe dich so vermisst!“
Olga trat aus der Küche und erstarrte. Svetlana stand in der Diele in einem beigen Cashmere-Mantel, mit einer offensichtlich teuren Ledertasche und modischen Stiefeln. Ihre Haare waren ordentlich frisiert, das Make-up makellos, und sie duftete nach teuren französischen Parfums.
„Olga!“ – Svetlana strahlte und eilte, sie zu umarmen. – „Wie geht es dir? Du siehst toll aus!“
„Danke“, sagte Olga mechanisch und erwiderte die Umarmung. „Du siehst auch gut aus.“
Sie gingen in den Raum. Svetlana legte ihren Mantel ab, und Olga bemerkte das modische Kleid, das dünne goldene Armband am Handgelenk und die Uhr, die sicher mehr kostete als Olgas Monatsgehalt.
„Wie geht es Tamara Ivanovna?“, fragte Olga und goss Tee ein.
„Mama ist in Ordnung, arbeitet wie immer. Sie sagt, dass ihr ohne Arbeit langweilig ist“, – Svetlana wischte sorglos mit der Hand. „Ich sage ihr: Mama, entspann dich, du hast es dir verdient. Aber sie ist nicht bereit dazu.“
„Vielleicht braucht sie Hilfe?“, fragte Olga vorsichtig.
„Ach, wir kommen zurecht“, winkte Svetlana ab und wandte sich an ihren Bruder: „Denis, ich habe Moskau so satt! Dieses Durcheinander, die Menschen. Alle sind so falsch, tun so als wären sie Freunde, aber haben eigentlich nur an sich selbst gedacht.“
Denis nickte mitleidig, Olga trank schweigend ihren Tee.
„Und der Andrej“, Svetlana fuhr fort, und ihr Ton fiel ins Klagen, „hat große Versprechungen gemacht. Er sagte, ich sei die Einzige für ihn, dass wir heiraten würden. Und dann ist er einfach gegangen. Er hatte noch jemand anderen. Kannst du dir das vorstellen?“
„Was für ein Mistkerl“, sagte Denis. „Ich sollte mit ihm reden.“
„Ach, das ist alles Vergangenheit“, seufzte Svetlana und lächelte wieder. „Das Wichtigste ist, dass ich jetzt wieder zu Hause bin. Ich werde hier mein Glück suchen.“
Olga beobachtete sie und dachte: Verstehst du das wirklich nicht? Hast du keine Scham, hier in Designerkleidung zu sitzen und zu erzählen, wie unglücklich du bist, wenn deine alte Mutter in der Schulkantine aushelfen muss, um für dich zu zahlen?
„Svetlana“, konnte sie sich nicht zurückhalten, „suchst du überhaupt nach einem Job?“
„Natürlich!“, Svetlana lebte auf. „Ich habe schon einige Lebensläufe versendet. Aber du verstehst, in Moskau war ich an ein gewisses Niveau gewöhnt. Ich kann doch nicht irgendwo für wenig Geld arbeiten. Ich muss etwas Anständiges finden.“
„Verstehe“, Olga nahm einen Schluck Tee und spürte, wie ihr Widerwillen wuchs.
„Und außerdem“, Svetlana beugte sich vertraulich näher, „muss ich meinen Ruf wahren. Ich möchte schließlich heiraten, und in unserem Alter müssen wir in der bestmöglichen Form sein. Kein guter Mann schaut sich eine Frau in billiger Kleidung an.“
„Und woher hast du das Geld für all das?“, fragte Olga direkt, während sie auf Svetlanas Tasche deutete.
Svetlana lächelte geheimnisvoll:
„Ich habe meine eigenen Quellen. Mach dir keine Sorgen.“
„Ein Sponsor“, dachte Olga. „Ein wohlhabender Liebhaber. So kommt all das zustande.“ Und sie fühlte ein widersprüchliches Gefühl der Erleichterung: Zumindest erklärt das, dass es nicht ihre Mutter war, die sie unterstützte, was bedeutet, dass Svetlana nicht mal in dieser Hinsicht lügt.
Nach diesem Besuch begann Svetlana regelmäßig zu erscheinen. Einmal pro Woche, manchmal öfter. Sie kam zu ihnen oder rief Denis zu der Mutter. Denis kehrte jedes Mal nachdenklich zurück, doch auf Fragen antwortete er kurz: alles in Ordnung, Mama geht’s gut, Svetlana sucht nach einem Job.
Olga mischte sich nicht ein. Sie hatten ungeschriebene Vereinbarung: Seine Familie war sein Verantwortungsbereich. Sie mischte sich nicht in Denis’ Beziehungen zu seiner Mutter und Schwester ein; er mischte sich nicht in ihre Angelegenheiten. Das hatte fünf Jahre gut funktioniert, warum sollte es jetzt brechen?
Der Sommer verging unbemerkt. Es gab viel zu tun; Olga lebte fast im Büro, um sich ihre neuen Verpflichtungen einzuarbeiten. Denis unterstützte sie, beschwerte sich nicht, als sie spät nach Hause kam. Sie legten Geld auf das Konto, und Olga schaute regelmäßig in die App, überprüfte den Kontostand und freute sich über die steigenden Zahlen.
Anfang September erhielt sie eine fette Jahresprämie, die fast ein Drittel des Wertes des begehrten Autos abdeckte. Sofort entschied sie sich: Sie müsse ihre gesamten Ersparnisse zu einem besseren Zinssatz anlegen. Die Bank bot vorteilhafte Bedingungen für Einlagen über einem bestimmten Betrag an.
In ihrer Mittagspause ging sie in die Filiale. Die Beraterin war eine sympathische Frau um die vierzig, die sie anlächelte:
„Ich sehe einmal nach ihrem Konto… Oh! Eine beachtliche Summe für den Anfang einer Anlage.“
„Ja, wir sparen auf ein Auto“, sagte Olga stolz.
„Eine hervorragende Zielsetzung. Aber…“, die Beraterin runzelte die Stirn und sah auf den Bildschirm. „Es gibt einige merkwürdige Transaktionen, die regelmäßig durchgeführt werden. Sind Sie sich dessen bewusst?“
Das Herz von Olga setzte einen Schlag aus.
„Welche Abhebungen?“
„Schauen Sie hier. Fünfzehntausend am zehnten Juni. Zwanzigtausend am fünfundzwanzigsten Juni. Zehntausend am dritten Juli und so weiter.“
Olga sah auf den Bildschirm, und es wurde ihr eiskalt. Ihre Ersparnisse. Ihr gemeinsames Geld, das sie für die Zukunft gespart hatten. Mehr als die Hälfte des Kontos war leer.
„Kann ich nachsehen, wohin das Geld überwiesen wurde?“, fragte sie leise.
„Ja, selbstverständlich. Ich mache das sofort.“
Auf dem Weg nach Hause fuhr Olga mit dem Bus, starrte aus dem Fenster und sah nichts. In ihrem Kopf war ein Geräusch wie in einem alten Fernseher. Sie versuchte, eine Erklärung, eine Rechtfertigung zu finden. Vielleicht hatte Svetlana etwas Ernstes durchgemacht? Eine Krankheit? Schulden? Aber warum hatte Denis es ihr nicht gesagt? Warum hatte er – ja, wirklich gestohlen – ihr gemeinsames Geld genommen?
Sie erinnerte sich an Svetlanas schicke Kleidung, die teure Tasche, die Gespräche über den „Markt der Bräute“ und „Sich Anspruch auf etwas erheben“. Sie erinnerte sich an das geheimnisvolle Lächeln: „Ich habe meine eigenen Quellen.“
Es gab tatsächlich eine Quelle. Ihr Mann. Der das Geld von seinem gemeinsamen Konto abgehoben und es seiner Schwester für ihre Garderobe gegeben hatte.
Olga betrat die Wohnung um halb sieben. Denis war zu Hause, saß mit seinem Handy in der Küche. Als er ihre Schritte hörte, hob er den Kopf, und sein Gesicht zeigte Besorgnis.
„Olga, ist alles in Ordnung? Ich wollte dir Geld überweisen, aber die Karte funktioniert nicht.“
Sie stellte die Tasche auf den Boden und zog langsam ihre Schuhe aus. Langsame, vorsichtige Bewegungen. Innerlich brodelte es, aber nach außen hin blieb sie völlig ruhig, eisern ruhig.
„Ich habe die Karte sperren lassen.“
„Was? Warum das?“
„Ich war heute in der Bank. Ich wollte das Geld zu einem höheren Zinssatz anlegen und entdeckte, dass die Hälfte der Summe verschwunden ist.“
Denis erbleichte. Er schwieg eine Sekunde, zwei, drei.
„Hast du wirklich die Karte gesperrt? Wie sollen Mama und Svetlana leben?“, schrie ihr Mann, doch Olga lächelte nur.
„Du hast unser Geld an Svetlana überwiesen“, es war keine Frage, es war eine Feststellung.
„Ich wollte nur sagen…“
„Wie lange?“
„Was?“
„Wie lange hast du das gemacht?“
„Nur seit Juni. Als sie zurückkam. Olga, sie hat es schwer, sie braucht Hilfe…“
„Hilfe?“, Olga lächelte bitter. „In einem Cashmere-Mantel und mit einer Tasche für mehrere Hunderttausend?“
„Das alles kam noch aus Moskau…“
„Sie trägt neue Kleidung! Ich habe es gesehen! Jedes Mal in etwas Neuem!“
„Es ist nötig… sie sagt, dass sie einen anständigen Mann finden möchte…“
„Einen Mann finden?!“ Olga fühlte, wie sie zu zittern begann. „Denis, wir haben auf ein Auto gespart! Wir planten unser Leben! Und du hast einfach unser Geld verschenkt, damit deine erwachsene Schwester sich vor potenziellen Männern aufhübschen kann?“
„Das ist nicht so! Sie hat versprochen, es zurückzuzahlen!“
„Wann? Aus welchen Quellen? Sie sucht seit drei Monaten nach einem ‚würdigen‘ Job!“
Denis lief in der Küche auf und ab, fuhr sich mit den Händen durch die Haare.
„Ich konnte nicht ablehnen. Sie ist meine Schwester. Sie hat es wirklich schwer. Andrej hat sie verlassen, sie hat nichts…“
„Und darum soll Mama sie unterstützen? Und wenn Mama nicht ausreicht, greifst du auf unser gemeinsames Konto zu?“
„Olga, verstehe…“
„Nein, das verstehst du!“, trat sie auf ihn zu. „Deiner Schwester ist achtundzwanzig. Sie ist gesund, hat einen Hochschulabschluss und ist ganz in Ordnung. Aber anstatt sich irgendeinen Job zu suchen und auf eigenen Beinen zu stehen, denkt sie, die Welt schuldet ihr etwas. Mama soll kommen und helfen, der Bruder soll helfen!“
„Sie ist nicht so…“
„Sie ist genau so! Und du unterstützt sie! Du hast mich drei Monate lang belogen!“
Denis schwieg. Er stand mit gesenktem Kopf da, und Olga sah, wie sich die Muskeln an seinen Wangen zusammenzogen.
„Entsperr die Karte“, sagte er leise.
„Nein.“
„Olga…“
„Nein!“ – sie schrie fast. „Das waren unser Geld! Unser gemeinsames Ziel! Du hattest kein Recht dazu!“
„Ich hatte das Recht! Ich habe auch gespart!“
„Und ich habe gespart! Mehr als du! Denk daran, dass ich mehr verdiene.“
Er zuckte zusammen, als hätte sie ihn geschlagen. Olga sah, wie sich etwas in seinem Gesicht veränderte, wie sich seine Gesichtszüge verhärteten.
„Aha, so ist es, dachte ich.“ Er sprach mit kalter Stimme. „Jetzt entscheidest du, weil du mehr verdienst?“
„Nein, ich entscheide, weil ich der Einzige bin, der einen klaren Kopf hat.“
„Wir hatten eine Vereinbarung…“
„Du hast die Vereinbarung als Erster gebrochen!“
Sie standen sich gegenüber, und zwischen ihnen entstand plötzlich eine Kluft. Fünf Jahre Ehe, all das Verständnis, all das Vertrauen – alles war in diesen paar Minuten zusammengebrochen.
Denis’ Telefon klingelte. Er schaute auf den Bildschirm, und sein Gesicht verzerrte sich.
„Svetlana“, warf er hin und ging in den Flur.
Olga blieb in der Küche stehen. Sie hörte Fragmente des Gesprächs:
„Ja, sie hat die Karte gesperrt. Ich weiß nicht… Olga hat es herausgefunden… Nein, jetzt kann ich nicht… Wart mal, ich kümmere mich darum…“
Er kam eine Minute später zurück. Sein Gesicht war rot, sein Blick wild.
Aber Olga lächelte nur. Merkwürdig, sie hatte selbst nicht mit diesem Lächeln gerechnet. Aber plötzlich fiel ihr eine Last von den Schultern. Der Schleier war gefallen. Sie sah alles klar, deutlich ohne Schönfärberei.
Sie sah ihren Mann, der es für normal hielt, ihr drei Monate lang zu lügen. Der ohne ein Wort ihr Geld ausgibt. Der sie anschreit, um seine erwachsene Schwester zu beschützen, die auf fremde Kosten lebt.
Sie sah eine Zukunft, in der sie hart arbeitet, spart, Pläne schmiedet, während Denis mal eben die gesparten Mittel ausgibt, weil „Familie“, „Schwester“, „konnte nicht ablehnen“.
Und sie lächelte, denn die Entscheidung wurde plötzlich einfach. Klares und einfaches.
„Olga, hörst du mich?!“, Denis schüttelte sie an den Schultern. „Mama kann das nicht alleine schaffen! Sie braucht Hilfe!“
„Tamara Ivanovna braucht Hilfe“, antwortete Olga gelassen, „und nicht Svetlana. Deine Schwester ist nicht hilfsbedürftig. Sie braucht einfach Geld, um ihre Kleidung zu finanzieren.“
„Du verstehst nicht…“
„Ich verstehe vollkommen. Und weißt du was, Denis? Ich werde das nicht mehr verstehen.“
Sie drehte sich um und ging ins Schlafzimmer. Sie holte ihre Tasche aus dem Schrank und begann, ihre Sachen einzupacken.
„Was tust du da?“
„Ich packe ein. Ich werde ein paar Tage bei Lena wohnen und dann eine Wohnung mieten.“
„Olga, tu das nicht… Lass uns reden…“
„Über was?“, drehte sie sich um. „Darüber, wie du deine Schwester weiter unterstützen wirst? Über das, wie wir jetzt noch zwei Jahre auf ein Auto sparen müssen, weil die Hälfte des Geldes für ihre Garderobe ausgegeben wurde? Darüber, dass ich dir nicht mehr vertraue?“
„Ich werde nicht mehr! Ich verspreche es!“
„Denis“, sie trat zu ihm und schaute ihm in die Augen, „du wirst. Denn für dich ist das normal. Weil du denkst, ich sollte das beachten. Aber ich muss es nicht. Ich bin nicht verantwortlich für den Lebensunterhalt deiner Schwester.“
„Es geht hier nicht um den Lebensunterhalt…“
„Es geht genau darum. Du hast ihr jeden zweiten Sonntag zwanzig bis dreißig Tausend überwiesen. In drei Monaten über einhunderttausend. Das ist keine Hilfe, Denis. Das ist ein Unterhalt.“
Er schwieg. In seinen Augen waren Empörung, Unverständnis und Zorn, aber kein Bedauern. Und Olga erkannte, dass er sich nicht schuldig fühlte. Er dachte, sie hätte es akzeptieren, verstehen und verzeihen sollen.
„Du wirst es bereuen“, sagte er dumpf.
„Möglicherweise“, nickte sie und schloss die Tasche. „Aber das wird meine Entscheidung sein.“
Sie verließ an diesem Abend die Wohnung. Sie blieb bei einer Freundin und mietete sich dann eine kleine Studiowohnung am Stadtrand. Zwei Wochen später reichte sie die Scheidung ein.
Denis versuchte zu telefonieren, zu schreiben und bat um ein Treffen, versprach, dass sich alles ändern würde. Doch Olga schwieg. Sie hatte die wichtigste Lektion gelernt: Vertrauen kann man nicht mit Versprechungen kitten.
Die Scheidung verlief schnell – es gab nicht viel gemeinsam. Die Wohnung war gemietet, die Möbel billig, das Auto war alt und auf Denis zugelassen. Olga verlangte nichts, nahm nur ihre Sachen und das Geld, was ihr von ihrem Konto blieb.
Nach einem halben Jahr wechselte sie die Arbeitsstelle. Sie ging zu einem internationalen Unternehmen mit noch höherem Gehalt. Sie mietete eine größere Wohnung und kaufte sich ein gebrauchtes, aber zuverlässiges Auto.
Einige Monate nach ihrer Scheidung sah sie zufällig Svetlana im Einkaufszentrum. Sie ging mit einem etwa fünfzigjährigen Mann, der einen teuren Anzug und eine goldene Kette trug. Svetlana war perfekt zurechtgemacht, lachte und hielt den Mann liebevoll an der Hand.
„Sie hat sich einen Sponsor gefunden“, dachte Olga. „Oder einen Mann. Was für einen Unterschied macht das?“
Sie ging vorbei, ohne stehen zu bleiben. Ihr Leben überschneidet sich nicht mehr mit dieser Familie. Und seltsamerweise empfand sie keine Traurigkeit mehr. Nur ein leichtes Gefühl der Erleichterung.
Zu Hause, in ihrer kleinen, aber gemütlichen Wohnung, bereitete Olga Tee zu und setzte sich ans Fenster. Sie schaute auf ihr eigenes Auto im Hof. Nicht neu. Nicht das, von dem sie und Denis geträumt hatten. Aber es gehörte ihr. Gekauft mit ihrem eigenen Geld. Ohne Kompromisse, ohne Verpflichtungen, ohne die Notwendigkeit, fremde Erwachsene zu unterhalten.
Auf dem Handy erhielt sie eine Mitteilung von der Bank: Gehalt wurde gutgeschrieben. Olga öffnete die App und übertrug ein Drittel des Betrags auf ihr Sparkonto. Ihr neues Ziel – die Anzahlung für eine eigene Wohnung. Bis dahin ist es noch weit, aber sie wird es schaffen. Alleine. Nach ihren Regeln.
Und seltsamerweise fühlte sie sich gut. Leicht. So, als hätte sie einen schweren Rucksack abgeworfen, den sie ständig mit sich herumgetragen hatte, ohne das Gewicht zu bemerken.
Sie lächelte ihr Spiegelbild im dunklen Fenster zu und erhob ihre Tasse in einem stillen Toast.
Auf die Freiheit. Auf die Entscheidung. Auf das Recht, das Unrecht anderer nicht zu verstehen.