Nina stand inmitten der verlassenen Straßen der Stadt, als ein eisiger Windstoß ihre dünne Jacke durchdrang. Sie wusste nicht, wohin sie gehen sollte. Alles, was sie besaß, passte in eine einzige Reisetasche. Tomasz hatte sie ohne ein Wort der Erklärung vor die Tür gesetzt – nach fünf Jahren Ehe, in denen sie ihm alles gegeben hatte.
„Ich kann nicht hierbleiben“, flüsterte sie sich selbst zu. Und dann erinnerte sie sich: das alte Häuschen ihrer Großmutter im Dorf. Es war kaum mehr als eine Ruine, aber es war ihr letzter Zufluchtsort.
Ohne zu zögern stieg sie in den Zug, drückte ihre Stirn gegen das kalte Fenster und ließ die Erinnerungen an die letzten Jahre vorbeiziehen. Ihre Eltern waren früh gestorben, und sie hatte stets gekämpft, um sich durchzuschlagen. Tomasz war ihre Hoffnung gewesen – doch diese Hoffnung hatte sich als Illusion entpuppt.
Als der Zug hielt, stieg Nina in die Dunkelheit hinaus. Die Straße zum Haus war überwuchert, das Dach teilweise eingestürzt, und die Tür ließ sich nicht öffnen. Sie ließ sich erschöpft auf die Stufen der Veranda sinken und vergrub das Gesicht in den Händen.
„Brauchst du Hilfe?“ Eine tiefe, ruhige Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
Sie hob den Kopf und sah einen älteren Mann mit müden, aber freundlichen Augen vor sich stehen. Seine Kleidung war schlicht, aber sauber, und er hatte einen warmen Ausdruck im Gesicht.
„Ich… die Tür ist fest. Ich kann sie nicht öffnen“, stammelte sie.
„Lass mich mal sehen“, sagte der Mann, stellte seinen alten Rucksack ab und drückte mit geübten Händen gegen das Holz. Nach ein paar kräftigen Stößen sprang die Tür auf.
„Danke“, sagte Nina und sah ihn neugierig an. „Leben Sie hier in der Nähe?“
„Mehr oder weniger“, antwortete er mit einem leichten Lächeln. „Ich heiße Miguel Fernandez.“
„Nina“, stellte sie sich vor.
Als sie gemeinsam das Innere des Hauses betraten, bemerkte Nina, dass der Wind durch die kaputten Fenster pfiff. Sie fröstelte.
„Du wirst hier erfrieren“, bemerkte Miguel. „Ich kann dir Feuerholz bringen.“
Dankbar nickte sie. Während er verschwand, begann sie, den Staub wegzuwischen und ein paar alte Decken auszubreiten. Eine halbe Stunde später kehrte Miguel mit Holz zurück und entfachte ein kleines Feuer im Kamin.
In den nächsten Tagen half er ihr, das Haus wieder bewohnbar zu machen. Er wusste erstaunlich viel über Reparaturen und erzählte ihr, dass er früher Universitätsprofessor gewesen war – bis seine eigene Familie ihn hintergangen und mit seinem gesamten Besitz davongelaufen war.
„Ich habe alles verloren“, sagte er eines Abends, während sie gemeinsam am Feuer saßen. „Aber es gibt immer einen neuen Anfang.“
Nina sah ihn lange an. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich nicht allein.
„Vielleicht“, sagte sie leise. „Vielleicht ist dies hier mein neuer Anfang.“
Miguel lächelte und warf ein weiteres Stück Holz ins Feuer.
„Dann fangen wir an.“
Und so begann eine unerwartete Freundschaft – eine, die beide aus der Dunkelheit zurück ins Licht führte.