– Wer könnte Ihnen um zwei Uhr morgens eine Nachricht schicken? fragte der Ehemann.

In der völligen Stille des Raumes durchbrach ein kurzer Piepton die Dunkelheit: Der Telefonbildschirm projizierte einen blauen Schein an die Decke. Es war zwei Uhr morgens. Larisa griff nach dem Nachttisch und hoffte, ihren Mann nicht zu wecken. Zu spät: Viktor saß bereits da, seine Augen waren weit aufgerissen und er starrte in die Dunkelheit.

– Wer kann zu so einer Stunde schreiben? Er atmete, und seine heisere Stimme verriet eine Qual, die er nur schwer verbergen konnte.

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In seinem Ton lag eine Besorgnis, die Larisa erstarren ließ. Er fürchtete sich vor der Antwort, sie spürte es sofort. Wortlos neigte sie den Bildschirm, damit er die neueste Benachrichtigung sehen konnte. Das Bild eines etwa zehnjährigen Jungen erschien: helles Haar, Sommersprossen und dieses Lächeln … ein seltsam vertrautes Lächeln, das beim Anblick fast schmerzte.

Viktor wurde blass. Im diffusen Licht der Nachtlampe erstarrte sein Gesicht, jede Emotion war ihm entzogen.

– Wie… Wo hast du das her? stammelte er mit zugeschnürter Kehle.

„Ich weiß alles, Vitya“, murmelte Larisa mit ruhiger und fast distanzierter Stimme, als würde sie mit sich selbst sprechen. Ich weiß über Kirill Bescheid. Für Nadia in Nischni. Für das Geld, das Sie bis letztes Jahr jeden Monat überwiesen haben.

Seine Stimme war so ruhig, dass es beunruhigend war. So sprechen wir, wenn wir unser Leiden akzeptiert haben und uns nichts anderes übrig bleibt, als die Tatsachen darzulegen.

„Lass mich ausreden“, sagte sie leise und schob die Hand weg, die er nach ihr ausstreckte. Ich kenne seinen Vornamen, ich weiß, dass er Anfang März geboren wurde. Dass er Zitrusfrüchte nicht ausstehen kann, dass er vom Fußball träumt. Ich erfuhr auch, dass seine Mutter nicht mehr lebt, da sie letztes Jahr an Krebs gestorben ist.

Viktor stand wie erstarrt da, starrte ins Leere und zupfte nervös mit den Fingern am Rand des Einbands herum – ein verräterischer alter Tick.

— Seit wann weißt du das alles?

„Drei Jahre“, antwortete sie ohne zu zögern. Denken Sie daran, dass Sie vor dieser berühmten Reise Ihr Handy vergessen haben. Sie hat dir geschrieben. Ich habe gelesen … ich konnte nicht anders.

Sie sah sich selbst wieder, an jenem Tag, wie sie zitternd durch die Nachrichten scrollte, atemlos bei jeder Enthüllung, und mechanisch in der Küche eine Tasse Eistee umrührte.

– Aber warum haben Sie die ganze Zeit geschwiegen?

— Was hätten Sie gewollt? Ein Skandal? Eine Scheidung? Unsere Tochter machte damals gerade ihr Abitur. Sie brauchte Stabilität. Ich konnte nicht alles kaputt machen.

„Verzeihen Sie mir …“ Seine Stimme zitterte. Ich hätte dir sofort die Wahrheit sagen sollen, aber … ich hatte Angst.

— Angst wovor? Dass ich den Schock nicht ertragen kann? Soll ich gehen? Vitya, wir teilen seit 25 Jahren dasselbe Leben. Dachtest du wirklich, ich könnte damit nicht umgehen?

Er senkte den Kopf, unfähig zu antworten.

— Was machen wir jetzt? er hat es schließlich gewagt.

– JETZT ? wiederholte Larisa und warf einen Blick auf das Foto. Jetzt müssen wir es holen.

– Was ?! Viktor explodierte fassungslos. Das können wir nicht von heute auf morgen entscheiden!

– Er ist dein Sohn. Er hat seine Mutter verloren. Er lebt seit fast einem Jahr in einem Heim. Glauben Sie wirklich, dass ich dieses Kind ohne Familie aufwachsen lassen werde?

— Und Katja? Wie sollen wir ihm das alles erklären?

– Wir werden ihm die Wahrheit sagen. Sie ist erwachsen, sie wird es verstehen.

Was Larisa nicht erwähnte, war, dass sie seit Monaten mit ihrer Tochter darüber gesprochen hatte. Dass es in Wirklichkeit Katia war, die darauf bestanden hatte, ihren Bruder zu finden. Dass sie diejenige war, die einen Privatdetektiv engagiert hatte, um Kirill zu finden.

— Was ist, wenn er uns nicht will? Was ist, wenn er mich ablehnt?

– Wir werden warten. So lange es dauert.

Viktor sah seine Frau an. Er entdeckte in ihr eine neue Stärke, eine Weisheit, die aus Schmerz und Zeit geboren wurde. Aus dem Mädchen, das er vor 25 Jahren kennengelernt hatte, war eine Frau geworden, die in der Lage war, eine Wunde in Liebe zu verwandeln.

In diesen drei Jahren hatte Larisa nicht nur den Verrat überwunden, sondern auch gelernt, dieses Kind wie ihr eigenes zu lieben. Es erschien ihm fast unglaublich.

– Aber warum liebst du mich noch? fragte er, fast wider Willen.

Sie lachte leise:

– Weil du wahr bist. Mit deinen Ängsten, deinen Schwächen, sogar deinen Geheimnissen. „Komm, schlaf ein“, hauchte sie und streichelte seine Schulter. Morgen werden wir all unsere Kraft brauchen.

– Wofür ?

— Weil wir nach Nischni Nowgorod fahren. Ich habe bereits Kontakt mit der Leiterin des Waisenhauses aufgenommen.

Viktor wollte protestieren, aber sie hatte sich bereits auf die andere Seite gedreht und sich in die Bettdecke gehüllt. Schnell beruhigte sich seine Atmung. Wie immer schlief sie im Handumdrehen ein, während er wach lag, die Augen in der Dunkelheit offen, und über das Leben nachdachte, das sich gerade verändert hatte.

Am nächsten Morgen war es Katia, die sie aus dem Bett holte:

— Mama, Papa, ich habe meine Sachen schon gepackt! Ich bin in einer Stunde da!

– Geschäft? murmelte Viktor halb wach.

– Natürlich ! Wir fahren übers Wochenende weg, oder? Wir müssen das Zimmer für Kirill vorbereiten. – Wer könnte Ihnen um zwei Uhr morgens eine Nachricht schicken? fragte der Ehemann.