Nachts kletterte ein ehemaliger Häftling durch das Fenster einer gelähmten alten Frau, die die Ärzte bereits „entlassen“ hatten. Und am Morgen stand sie zum ersten Mal seit Jahren wieder auf.

Baba Lyuba hob mühsam den Eimer mit Eiswasser von der Pumpe und ging mit schweren Beinbewegungen den ausgetretenen Weg zum Haus entlang. Der Frost kitzelte sein Gesicht, seine Finger glitten ungehorsam über den rostigen Griff. Direkt an der Tür blieb sie stehen, um Luft zu holen: Sie stellte einen Eimer auf die Stufe, griff nach dem zweiten … und rutschte plötzlich aus.

„Oh, mein Gott! …“, war alles, was sie flüstern konnte, bevor sie zu Boden sank.

Die Schulter schlug schmerzhaft an der Stufenkante auf und der Hinterkopf reagierte mit einem dumpfen, ziehenden Schmerz. Mehrere Sekunden lang lag die Frau da und konnte sich nicht bewegen.

Dann versuchte sie aufzustehen, aber ihre Beine gehorchten nicht. Es war, als wäre es von der Taille abwärts abgeschnitten worden. Vor Schmerz und Angst erstickend, begann sie zur Tür zu kriechen und klammerte sich an allem fest, was ihr in die Hände fiel: einem alten Hocker, einem kaputten Besen, dem Saum ihres eigenen Rocks. Mein Rücken schmerzte, meine Stirn war schweißbedeckt, alles um mich herum schwebte und schwankte.

„Komm schon, Lyubanya … komm schon …“, murmelte sie leise und kletterte auf das alte Sofa im Flur.

Das Telefon lag auf der Fensterbank. Mit zitternden Fingern wählte sie die Nummer ihres Sohnes.

„Paschenka … Sohn … mir geht es schlecht … komm …“, flüsterte sie und verlor das Bewusstsein.

Pavel kam am Abend an. Mit einem Knall stürmte er ins Haus und ließ einen Schwall kalter Luft herein. Ohne Hut und vom Wind zerzaust, erstarrte er im Türrahmen und sah seine Mutter halb liegend auf dem Sofa liegen.

– Mama… was ist los? – Er kam auf sie zu und nahm vorsichtig ihre Hand. – Gott, sie ist ganz erfroren …

Ohne nachzudenken, rief er seine Frau an.

– Olja, komm dringend … Ja, ihr geht es nicht gut … Es sieht so aus, als würde sie sich überhaupt nicht bewegen.

Baba Lyuba hörte alles, obwohl ihr Gesicht keinerlei Emotionen ausdrückte. In mir flammte Hoffnung auf: Mein Sohn hatte Angst, was bedeutete, dass es ihm nicht gleichgültig war. Vielleicht kommt die Familie endlich zusammen? Vielleicht können sie sie retten?

Sie versuchte vergeblich, ihre Beine zu bewegen. Nur die Fingerspitzen zitterten leicht. Und plötzlich begann sie zu weinen – nicht vor Schmerz, sondern bei dem Gedanken, dass vielleicht doch nicht alles verloren war.

Olya erschien nur zwei Tage später. Sie stand auf der Schwelle und hielt Anyas Hand, gereizt, müde, als wäre sie von wichtigen Angelegenheiten losgerissen worden.

„Na, dann hast du genug, alte Frau“, murmelte sie durch die Zähne und warf ihrer Schwiegermutter einen Blick zu. – Jetzt leg dich hin wie ein Murmeltier, denn so ist es nun einmal gekommen.

Anya ergriff die Hand ihrer Mutter und sah ihre Großmutter besorgt an. Sie versuchte zu lächeln, aber ihr Gesicht gehorchte nicht.

Olya kam ins Haus, ohne auch nur Hallo zu sagen. Pavel brachte sie in die Küche. Dort sprachen sie leise, aber angespannt. Baba Lyuba konnte die Worte nicht hören, aber sie spürte, dass das Gespräch bitter und voller unfreundlicher Bedeutung war.

Ein paar Minuten später kam der Sohn zurück. Er kam auf sie zu und nahm sie schweigend in seine Arme.

„Wohin?“ flüsterte sie.

Er antwortete nicht. Er presste nur seine Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und atmete den vertrauten Geruch ein – eine Mischung aus Maschinenöl und Tabak.

„Ins Krankenhaus?“ fragte sie noch einmal.

Schweigen. Nur die Schritte wurden schneller.

Aber er ging nicht ins Krankenhaus. Er trug sie am Haus vorbei zum Nebengebäude, wo einst Kartoffeln, alte Skier und Eiseneimer gelagert wurden. Die Kälte drang durch die Kleidung, der Wind blies durch die Fensterritzen und der Boden war mit rissigen Brettern bedeckt. Es roch nach Feuchtigkeit und Vergessen.

Pavel legte sie auf eine harte Pritsche, die mit einer abgenutzten Decke bedeckt war.

„Du kannst hier liegen“, sagte er, ohne ihr in die Augen zu sehen. — Es ist sowieso zu spät, etwas zu ändern. Du bist fast achtzig, Mama.

Er drehte sich um und ging, ohne mir die Chance zu geben, ein Wort zu sagen.

Der Schock kam langsam aber deutlich. Baba Lyuba lag da, ohne zu blinzeln, blickte zur Decke und spürte, wie die Kälte unter ihre Haut drang. Warum ist er so? Wofür?

Bilder der Vergangenheit tauchten vor ihren Augen auf: wie sie ihren Sohn alleine großzog, wie sie als Putzfrau arbeitete, wie sie ihm auf Kredit eine Jacke kaufte. Wie sie ihre Hochzeit bezahlte, weil die Eltern ihrer Schwiegertochter sich abwandten – „passte nicht zusammen, war ungebildet.“

„Und ich habe mich immer für ihn eingesetzt“, flüsterte sie und konnte nicht glauben, was geschah.

Ich erinnerte mich auch an das Bild von Olya – immer zurückhaltend, ätzend, kein einziges warmes Wort. Kein Tropfen Dankbarkeit für die Hilfe. Mindestens einmal kam sie selbst, ohne darauf zu warten, dass man sie darum bat. Aber nein, ich bin nur einmal vorbeigekommen, zum Geburtstag meiner Enkelin.

Und jetzt lag sie hier, in einem kalten kleinen Käfig, wie nutzloser Müll. Und sie wusste nicht einmal, ob sie den Morgen überleben würde.

Mit jedem Tag wuchs die Gewissheit, dass etwas Schreckliches passierte. Pavel kam immer seltener herein – er stellte eine Schüssel Suppe hin und verschwand sofort. Olya öffnete manchmal die Tür und warf aus der Ferne einen kurzen Blick darauf, um zu prüfen, ob sie noch lebte.

Doch eines Morgens hörte Baba Lyuba eine seltsame Stimme vor dem Fenster – fröhlich, glücklich.

– Schönes Haus. Hell, geräumig. Gibt es Benzin?

„Natürlich“, antwortete Olja. — Soll ich Ihnen die Küche zeigen?

Baba Lyuba erstarrte. Mein Herz begann zu rasen. Wirklich? Werden sie das Haus verkaufen?

Später hörte sie Stimmen – jemand lobte das Badehaus und fragte nach dem Fundament. Sie fühlte sich wie etwas, das noch nicht begraben war, das man aber bereits zu verkaufen versuchte. Tränen flossen heiß und still in das Kissen.

„Das ist es also…“, schoss es mir durch den Kopf. – Ich brauche keine Hilfe. Ich stehe ihnen im Weg. Und das Haus ist ein gutes Geschäft.“

Sie lag regungslos da. Nur die Lippen bewegten sich leicht – längst vergessene Gebete wurden geflüstert. Und plötzlich – eine leichte, fast unmerkliche Bewegung der rechten Hand. Sie erstarrte. Ich habe es noch einmal versucht – ja, meine Finger haben gehorcht. Auch die Stimme kam zurück – heiser, aber lebendig.

Sie erstarrte zunächst. Dann lachte sie – nicht bitter, sondern warm, aus tiefstem Herzen.

– Mikhail … Du bist gekommen.

– Ich habe es versprochen. Und wie geht es dir?

– Ich stehe. Ich gehe zu Fuß. Und ich lächle sogar.

Sie setzten sich an den Tisch. Schweigend. Wir lauschten dem Tropfen des Wassers im Samowar. Es waren keine Worte nötig. Alles ist schon durchlebt. Überlebt. Durchgeweint.

Und erst jetzt verstand Baba Lyuba wirklich:
Sie ist zu Hause.
Sie lebt.
Und nicht mehr allein.