Marina stand am Fenster des Notariats und hielt das Testament in der Hand. Ihr Herz pochte, als ob es aus der Brust springen wollte, und ihre Hände zitterten kaum merklich. “Unterschreiben Sie hier”, sagte der Notar leise. Es war keine Illusion, keine Fantasie. Sie war wirklich Erbin geworden.
Noch vor einem Monat hatte sie in einer bescheidenen Ein-Zimmer-Wohnung gesessen, die sie nach der Scheidung gemietet hatte. Ihr Ex-Mann hatte die Tür hinter sich zugeschlagen und mit einem letzten, bitteren Lachen seinen Abschied verkündet. “Du bist ohne mich nichts!” hatte er geschrien. “Du wirst schon sehen, du kriechst zurück!” Doch sie hatte nicht zurückgekriecht. Marina packte ihre wenigen Habseligkeiten zusammen, umarmte das alte Kissen, das nach Baldrian und Tränen roch, und sagte sich: „Es reicht. Ich lebe nicht länger für andere.“
Und nun hielt sie das Testament in den Händen. Es war das Vermächtnis ihrer Tante Agatha, von deren Existenz sie erst kürzlich erfahren hatte. Agatha war eine Einsiedlerin, die in einem abgelegenen Dorf namens Berezovka lebte und mit den meisten Menschen keinen Kontakt hatte. Warum gerade Marina die Erbin war, konnte niemand erklären. Doch ein paar Zeilen im beiliegenden Brief gaben ihr einen Hinweis:
„Ich sehe eine wahre Frau in dir. Lebe hier. Du wirst verstehen, warum.“
Der Ex-Mann hatte nur gelacht, als er die Nachricht hörte. „Ein Haus in einem verlassenen Nest? Du wirst mit einer Kuh dort leben, viel Glück!“ Doch Marina hatte nicht geantwortet. Sie hatte ihre Sachen gepackt, den Bus genommen und war ohne einen Blick zurück gefahren. Der lange, holprige Weg führte sie durch endlose Felder, und als sie schließlich in einem von Birken gesäumten Dorf ankam, spürte sie, wie sich eine unbekannte Aufregung in ihr regte. Es fühlte sich an, als hätte jemand ewig auf sie gewartet.
Das Haus, das sie geerbt hatte, stand auf einem Hügel und war von Moos bedeckt. Es war alt, mit verdunkelten Fensterläden, aber robust. Die Nachbarn, hauptsächlich alte Männer, schüttelten verwundert die Köpfe, als sie sie sahen. „Tante Agatha hat dir also alles überlassen? Sie war eine interessante Frau, mit einem schweren Schicksal…“
Zuerst zog Marina einfach dorthin, um ein neues Leben zu beginnen. Doch nach und nach erkannte sie, dass es mehr war als ein einfacher Neuanfang. Es war eine wahre Wiedergeburt. Sie lebte nicht nur mehr, sie lebte jetzt wirklich. Das Wasser kam aus einem Brunnen, der Ofen war aus Holz, und es gab kein Internet. Doch jeden Morgen fühlte sie sich mehr mit ihrer wahren Natur verbunden.
Marina hatte nie mehr ein anderes Ziel als das Leben im Einklang mit der Natur. Sie kochte Marmelade aus den Beeren des Waldes, bewunderte das Morgenlicht auf dem Gras und lauschte dem sanften Schnurren ihrer Katze, die stets an ihrer Seite war.
Eines Tages, während sie einen alten Schrank durchsuchte, stieß sie auf eine Kiste voller Briefe. Über hundert waren es. Alle waren an einen Mann adressiert und unterschrieben von Agatha. Der Empfänger war der Name ihres Ex-Mannes’ Vaters.
Marina hielt den ersten Brief in den Händen und las. Sie erfuhr von einer verbotenen Liebe, von einer Trennung und von einer freiwilligen Einsamkeit, die Agatha gewählt hatte, um die Familie eines anderen nicht zu zerstören. Einer der Briefe endete mit den Worten:
„Wenn ich nicht bei ihm sein kann, möge seine Familie glücklich sein. Aber eines Tages werden die Nachkommen zurückkehren, und vielleicht werden sie es verstehen.“
In diesem Moment verstand Marina. Sie hatte nicht nur ein Haus geerbt, sondern auch das Erbe von Kraft, Weisheit und der Möglichkeit, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.
Sechs Monate später, als Marina gerade dabei war, Kräuter für eine heilende Salbe zu sammeln, rollte ein teures Auto in das Dorf. Ein Mann stieg aus, jung, modisch gekleidet und auf der Suche nach ihr.
„Ich bin es“, sagte er, als er sich ihr näherte. „Dein Ex-Mann. Ich habe gehört, dass du hier bist. Ich wollte dich sehen.“
Marina blickte ihn ruhig an. Er stand da, wie ein verlorenes Kind. „Das habe ich nicht erwartet“, sagte er. „Du hast dich verändert. Man sagt, du hilfst den Leuten hier. Die ganze Nachbarschaft spricht von dir.“
Marina sah ihn eine Weile an und fragte dann: „Warum bist du gekommen?“