Eine Geschichte aus dem Leben: Die entfremdete Großmutter
Es war ein kühler Herbstabend in Berlin, als ich mich an eine schwierige Episode aus meiner Vergangenheit erinnerte. Damals hatte meine Schwiegermutter, Helga, beschlossen, unsere Tochter Luisa, heute sechzehn Jahre alt, aus ihrem Leben auszuschließen. Thomas und ich sind seit fast zwei Jahrzehnten ein Paar, und in all der Zeit war die Liebe zu unserer Tochter stets das Fundament unserer Familie. Luisa ist mittlerweile eine intelligente, sensible junge Frau mit einem großen Herzen. Unser familiäres Glück wäre vollkommen gewesen – wäre da nicht die belastende Beziehung zu Helga.
Die erste Spannung entstand bereits während meiner Schwangerschaft. Bei einem gemeinsamen Abendessen stellte Helga, eine Frau, die an traditionelle Werte glaubte, ihr Glas ab und äußerte: „Ich hoffe, es wird ein Junge. Mädchen haben wir reichlich in der Familie. Ich erwarte einen Enkel, keinen Enkelin.“
Ich versuchte, diese Worte mit einem nervösen Lächeln abzutun, hoffte, es handle sich nur um überholte Ansichten einer älteren Generation. Doch schnell verstummte mein Lachen, als Helga nach Luisas Geburt nicht einmal das Krankenhaus besuchte. Kein Anruf, kein Geschenk, keine Karte. Erst drei Jahre später traf sie Luisa zufällig auf der Straße. Luisas fröhliches Gespräch erschallte, doch Helga schenkte ihr keinen Blick und begrüßte mich lediglich mit einem knappen „Hallo“.
„Mama, wer ist diese unfreundliche Frau?“, fragte Luisa damals, noch ein kleines Mädchen, mit großen, fragenden Augen. Ich vermied die Wahrheit und sagte, es sei nur eine Bekannte von Papa.
Einige Jahre später brachte Luisas Cousine, also die Tochter meiner Schwägerin, einen Sohn namens Leon zur Welt. Dies offenbarte für mich die Grenze zwischen ‚eigenem‘ und ‚fremdem‘ Kind in Helgas Augen. Von diesem Moment an galt ihre ganze Aufmerksamkeit und Zuneigung Leon. „Mein kleiner Schatz“, nannte sie ihn liebevoll und überhäufte ihn mit Geschenken. Luisas Name fiel nie.
Als Luisa acht Jahre alt war, hatten wir uns in Frankfurt niedergelassen. Thomas war in einem großen Unternehmen tätig, und auch ich hatte beruflich erhebliche Fortschritte gemacht. Endlich standen wir als Familie auf festen Beinen. Unerwartet kündigte Helga einen Besuch an:
„Wir kommen mit Leon für ein paar Tage vorbei. Ich möchte ihm die Stadt zeigen. Er ist so ein schlaues Kind, das sollte Kultur erleben!“
Ich stimmte zögernd zu. Es war immerhin Familie, doch ich ahnte, dass ihr Besuch vor allem Leon zugutekommen sollte. Luisa hingegen hegte die Hoffnung, dass ihre Großmutter sich geändert haben könnte.
Die fünf Tage des Aufenthaltes wurden zu einer Qual. Helga umarmte Leon herzlich, führte ihn in Museen und überschüttete ihn mit Geschenken. Luisa blieb hingegen nahezu unsichtbar. Höchstens erhielt sie strenge Blicke oder Kritik:
- „Deine Tochter sieht ungepflegt aus“, tadelte sie mich in der Küche.
- „Sie hat Haare wie ein Junge. Wie kannst du das zulassen?“
Trotz ihrer Bemühungen – Tee anbieten, ihre Bilder zeigen, vom Klavierunterricht erzählen – wurde Luisa mit Ignoranz bestraft. Kühle Stille war ihre einzige Antwort.
Eines Tages hörte ich Luisa leise zu Thomas sagen: „Warum mag sie mich nicht? Ich gebe mir doch so viel Mühe.“ Diese Worte rührten mich zu Tränen.
Am Tag der Abreise verabschiedete sich Leon liebevoll von seiner Großmutter, während Luisa einige Schritte entfernt stand. Plötzlich rief sie laut über den Bahnsteig: „Komm nicht wieder! Ich mag dich nicht!“
Helga antwortete darauf selbstbewusst: „Frechheit. Ich habe es doch gesagt – die bekommt keine gute Erziehung.“ Ich hielt Luisa fest im Arm, wissend, dass weitere Erklärungen überflüssig waren.
Inzwischen sind acht Jahre verstrichen. Luisa ist erwachsen und zeigt eine bewundernswerte Reife. Die Erinnerung an jedes Schweigen, jeden kalten Blick und jede Vernachlässigung begleitet sie noch immer. Nie hat sie nach einem Besuch gefragt oder den Wunsch geäußert, Helgas Stadt kennenzulernen.
Ein Wiedersehen der beiden hat es nicht gegeben – und ich glaube, es wird keines mehr geben.
Manche meinen, man müsse vergeben, weil Helga alt sei. Doch wenn ich Luisa sehe, erkenne ich: Gleichgültigkeit lässt sich nicht einfach verzeihen. Besonders dann nicht, wenn ein Kind dringend Fürsorge benötigte und einzig darauf hoffte, von seiner Großmutter geliebt zu werden – nur um stattdessen Leere zu erfahren.
Kerngedanke: Die Kluft zwischen Luisa und Helga entstand nicht aus Eigenverschulden der Enkelin. Vielmehr hat Helga die Liebe versäumt, die sie schenken hätte können.
Liebe kann man verpassen – und im Fall von Helga geschah eben das.
Diese Geschichte zeigt eindrucksvoll, wie schmerzhaft familiäre Ablehnung sein kann und wie wichtig Fürsorge in der Entwicklung junger Menschen ist.