Ich sitze in der Küche und starre auf meine leere Tasse. Draußen regnet es ununterbrochen, und eine tiefe Leere breitet sich in mir aus. André und ich hatten schon wieder Streit. Er knallte die Tür zu, als er ging, und ließ mich allein im Haus seiner Eltern zurück. Ich fühle mich wie ein ungebetener Gast, niedergeschlagen, verloren.
„Alles in Ordnung?“ Eine Stimme hinter mir lässt mich zusammenzucken. Es ist Igor, Andrés kleiner Bruder. Er steht in der Tür, einen Teller mit Sandwiches in der Hand. „Du hast heute noch nichts gegessen. Iss etwas.“
Ich schaue auf, und Tränen rollen mir über die Wangen. Anders als sein großer Bruder ist Igor ruhig, fürsorglich, mit sanften haselnussbraunen Augen, die direkt in meine Seele zu blicken scheinen. Er setzt sich neben mich, umarmt mich, und ich kuschle mich schluchzend an seine Schulter.
„Alles wird gut“, murmelt er und streichelt sanft meinen Rücken. „Du bist nicht allein.“
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In diesem Moment dachte ich nicht an die Konsequenzen. Ich brauchte einfach nur Gehör. Verstanden.
Ein Monat vergeht. Die Streitereien mit André gehen weiter. Er verbringt immer mehr Zeit bei der Arbeit, kommt kalt und distanziert nach Hause. Und Igor … Igor ist immer da. Er bringt mir morgens Kaffee, erzählt Witze, um mich zum Lächeln zu bringen. Eines Abends, als das Haus leer ist und André wieder weg ist, ändert sich alles.
Wir schauen einen Film auf der Couch. Wie immer nimmt Igor mich in die Arme. Doch diesmal bleiben seine Hände etwas länger als sonst umschlossen. Ich schaue ihn an, und etwas Neues leuchtet in seinen Augen: Verlangen, Sorge und etwas Unbeschreibliches.
„Es ist falsch“, flüstere ich mit zitternder Stimme.
„Ich weiß“, antwortet er. „Aber ich kann nicht so tun, als wäre es dir egal.“
Wir wissen beide, was wir tun. Und niemand hält uns davon ab.
Einen Monat später stehe ich im Badezimmer, einen Schwangerschaftstest in der Hand. Zwei Striche. Die Welt um mich herum bleibt stehen. Ich bin schwanger. Aber von wem?
André, mit dem wir trotz allem noch zusammen sind? Oder Igor, mit dem ich nur eine Nacht verbracht habe?
Ich stecke den Test in die Tasche und gehe in die Küche. André ist da. Zum ersten Mal seit Langem sieht er mich zärtlich an.
„Du siehst blass aus“, sagt er und kommt näher. „Stimmt etwas nicht?“
Ich kann es nicht länger zurückhalten, breche in Tränen aus und platze heraus:
„Ich bin schwanger.“
Sein Gesicht strahlt. Er umarmt mich fest, sodass mir das Atmen schwerfällt.
„Er ist unser Kind“, flüsterte er. „Ich liebe ihn jetzt schon.“
Ich lächelte unter Tränen, doch tief in mir verkrampfte sich die Angst. Er war sich sicher, dass es sein Kind war. Und ich kannte die Wahrheit nicht.
Ich konnte nicht länger in diesem Haus bleiben. Jeder Blick, jede Berührung von André auf meinem Bauch schmerzte mich. Igor schwieg, doch ich sah in seinen Augen – Hoffnung und Schmerz. Ich konnte es nicht ertragen.
„Ich gehe“, sagte ich eines Abends. „Wir müssen getrennt leben.“
Er bettelte und schrie, doch ich blieb standhaft. Ich packte meine Sachen und ging zu einem Freund. Ein paar Monate später fand Igor mich.
„Ich kann nicht ohne dich leben“, sagte er, als er mich vor der Tür traf. „Ich will bei dir sein. Bei dir und dem Kind.“
Ich sah ihn an und verstand: Ich liebe ihn. Tiefer, gelassener als zuvor mit André. Wir fingen an, uns zu treffen, dann machte er mir einen Heiratsantrag. Ich nahm ihn an. Jetzt bin ich mit Igor verheiratet. Er hat meinen Sohn als seinen eigenen akzeptiert.
Doch die Wahrheit verfolgt mich weiterhin wie ein Schatten.
Mein Sohn ist zwei Jahre alt. Er sieht beiden genauso ähnlich: dieselben haselnussbraunen Augen, dasselbe sture Kinn. Manchmal sehe ich Igors Blick, wenn er ihn ansieht, und ich glaube, er ahnt etwas. Auch André kommt zu ihm: Er ist überzeugt, dass es sein Sohn ist, und ich kann ihn nicht davon abhalten.
„Er ist mir so ähnlich“, sagt André und spielt mit dem Kleinen. „Mein Sohn.“
Ich lächle, aber innerlich erstarrt alles. Was wäre, wenn jemand einen Test machen würde? Was wäre, wenn die Wahrheit ans Licht käme?
„Bist du glücklich?“, fragte mich Igor neulich, als wir unseren Sohn ins Bett brachten.
„Ja“, log ich und klammerte mich an meinen Mann. „Sehr.“
Aber ich bin nicht glücklich. Ich lebe in Angst. Jede Nacht frage ich mich: Soll ich alles gestehen? Einen Test machen und die Wahrheit herausfinden? Oder schweigen und hoffen, dass es niemand erfährt?
„Mama“, ruft mein Sohn und breitet die Arme aus. Ich nehme ihn in die Arme, atme seinen Duft ein und denke: Für ihn muss ich stark sein. Aber wie?
Ein Jahr vergeht, und mein Geheimnis ist nicht verschwunden. Es ist ein Teil von mir geworden: wie eine unsichtbare Narbe, die in regnerischen Nächten schmerzt. Mein Sohn Artjom ist jetzt drei Jahre alt. Er wächst, rennt, lacht und stapelt Bauklötze. Und ich sehe ihn an und sehe die Züge der beiden Männer in meinem Leben.