1993 wurde ein taubes Baby vor meiner Tür abgelegt. Ich übernahm die Rolle seiner Mutter, hatte aber keine Ahnung, was die Zukunft für ihn bereithalten würde.

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Mein Mann trat unbeholfen über die Schwelle, gebeugt unter dem Gewicht eines Eimers voller Fische. Die morgendliche Kälte des Julis kroch mir bis in die Knochen, doch was ich auf der Bank sah, ließ mich die Kälte vergessen.

„Was ist los?“ Mikhail stellte den Eimer ab und kam auf mich zu.

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Auf einer alten Bank am Zaun stand ein geflochtener Korb. Darin lag, in ein verblichenes Tuch gewickelt, ein Kind. Ein Kleinkind, etwa zwei Jahre alt.

Seine großen braunen Augen starrten mich direkt an – ohne Angst, ohne Neugier – einfach nur starr.

„Mein Gott“, hauchte Mikhail. „Wo kommt er her?“

Zart fuhr ich ihm mit dem Finger durchs dunkle Haar. Der Junge zuckte nicht zusammen, weinte nicht – er blinzelte nur.

In seiner winzigen Faust hielt er einen Zettel. Vorsichtig löste ich seine Finger und las die Nachricht: „Bitte helft ihm. Ich kann nicht. Verzeiht mir.“

„Wir müssen die Polizei rufen“, sagte Mikhail stirnrunzelnd und kratzte sich am Kopf. „Und informiere den Dorfrat.“

Aber ich hob den Jungen schon in meine Arme und drückte ihn an mich. Er roch nach staubigen Straßen und ungewaschenem Haar. Sein Strampler war abgetragen, aber sauber.

„Anna“, Mischa sah mich besorgt an, „wir können ihn nicht einfach aufnehmen.“

„Doch, das können wir“, ich begegnete seinem Blick. „Mischa, wir warten schon seit fünf Jahren. Fünf. Die Ärzte sagen, wir werden nie Kinder bekommen. Und jetzt …“

„Aber das Gesetz, der Papierkram … die Eltern könnten zurückkommen“, wandte er ein.

Ich schüttelte den Kopf.
„Das werden sie nicht. Ich spüre es.“

Der Junge lächelte mich plötzlich breit an, als verstünde er unser Gespräch. Und das genügte. Über Bekannte gelang es uns, die Vormundschaft und die Dokumente zu arrangieren. 1993 war eine schwierige Zeit.

Eine Woche später bemerkten wir etwas Merkwürdiges. Der Junge – ich hatte ihn Ilja genannt – reagierte nicht auf Geräusche. Zuerst dachten wir, er wäre nur nachdenklich und in Gedanken versunken.

Doch als der Traktor des Nachbarn direkt an den Fenstern vorbeidonnerte und Ilja nicht einmal mit der Wimper zuckte, sank mir das Herz.

„Mischa, er kann nicht hören“, flüsterte ich an jenem Abend, nachdem wir ihn in einer alten Wiege, die wir von einem Neffen bekommen hatten, schlafen gelegt hatten.

Mein Mann starrte lange ins Feuer im Ofen und seufzte dann: „Wir bringen ihn zu Dr. Nikolai Petrowitsch nach Saretschje.“

Der Arzt untersuchte Ilja und breitete die Hände aus. „Angeborene Taubheit. Vollständig. Hoffen Sie nicht einmal auf eine Operation – so einen Fall ist es nicht.“

Ich weinte den ganzen Heimweg. Michail schwieg und umklammerte das Lenkrad so fest, dass seine Knöchel weiß wurden. Am Abend, nachdem Ilja eingeschlafen war, holte er eine Flasche aus dem Schrank.

„Misha, vielleicht solltest du nicht…“

„Nein“, er schenkte sich ein halbes Glas ein und trank es in einem Zug aus. „Wir geben ihn nicht auf.“

„Wen?“

„Ihn. Wir geben ihn nicht auf“, sagte er entschieden. „Wir schaffen das.“

„Aber wie? Wie sollen wir ihn unterrichten? Wie…“

Mikhail unterbrach mich mit einer Geste. „Wenn es sein muss – du wirst es lernen. Du bist Lehrer. Du wirst schon etwas finden.“

In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich lag da, starrte an die Decke und dachte:
„Wie unterrichtet man ein Kind, das nicht hören kann? Wie gibt man ihm alles, was es braucht?“

Und am Morgen kam die Erkenntnis:
Er hat Augen, Hände und ein Herz. Das heißt, er hat alles, was er braucht.

Am nächsten Tag schnappte ich mir ein Notizbuch und begann, einen Plan zu entwerfen. Ich suchte nach Büchern. Ich überlegte, wie man ohne Ton unterrichten könnte. Von diesem Moment an veränderte sich unser Leben für immer. In diesem Herbst wurde Ilja zehn. Er saß am Fenster und zeichnete Sonnenblumen. In seinem Skizzenbuch waren sie nicht einfach nur Blumen – sie tanzten, wirbelten in ihrem ganz eigenen Tanz.

„Mischa, schau mal“, ich berührte die Schulter meines Mannes, als ich das Zimmer betrat. „Schon wieder gelb. Er ist heute glücklich.“

Im Laufe der Jahre lernten Ilja und ich, uns zu verstehen. Zuerst beherrschte ich das Fingeralphabet – das Fingeralphabet –, dann die Gebärdensprache.

Michael lernte langsamer, aber die wichtigsten Wörter – „Sohn“, „Liebe“, „stolz“ – hatte er längst auswendig gelernt.

In unserem Dorf gab es keine Schule für gehörlose Kinder, also brachte ich es ihm selbst bei. Er lernte schnell lesen: Alphabet, Silben, Wörter. Noch schneller lernte er zählen. Aber vor allem – er zeichnete. Ständig, auf allem, was er finden konnte.

Zuerst mit dem Finger auf beschlagenen Fenstern. Dann mit Kohle auf einer Tafel, die Mikhail für ihn gebaut hatte. Später – mit Farben auf Papier und Leinwand. Ich bestellte Farben per Post aus der Stadt und sparte an allem anderen, damit der Junge gute Materialien hatte.

„Dein stummer Junge kritzelt schon wieder?“, höhnte unser Nachbar Semjon und spähte über den Zaun. „Was nützt er denn?“

Michael hob den Kopf vom Gartenbeet: „Und du, Semjon, was nützt du denn, außer zu reden?“

Es war nicht leicht mit den Dorfbewohnern. Sie verstanden uns nicht. Sie ärgerten Ilja und beschimpften ihn – besonders die Kinder.

Eines Tages kam er mit einem zerrissenen Hemd und einem Kratzer auf der Wange nach Hause. Wortlos zeigte er auf den Täter – Kolka, den Sohn des Dorfvorstehers.

Ich weinte, während ich seine Wunde versorgte. Ilja wischte mir die Tränen mit den Fingern ab und lächelte, als wollte er sagen: „Schon gut, keine Sorge.“

An diesem Abend reiste Michail ab. Er kam spät zurück, sagte nichts, hatte aber einen blauen Fleck unter dem Auge. Danach belästigte Ilya niemand mehr.

In seiner Jugend zeichnete Ilya

Am Abend reiste Michail ab. Er kam spät zurück, sagte nichts, hatte aber einen blauen Fleck unter dem Auge. Danach belästigte Ilja niemand mehr.

In seiner Jugend zeichnete Ilja

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