Der schatten der wahrheit

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Alexandru saß auf seinem Bett, die Kamera in den Händen, während er auf den Bildschirm starrte. Der Ton der Aufnahme war fast lautlos, aber jedes Detail in der Szene vor ihm war für ihn von entscheidender Bedeutung. Er spulte zurück und ließ die Bilder noch einmal an sich vorbeiziehen. Seine Mutter, Irina, mischte mit einer Hand die üblichen Medikamente, die er täglich einnahm, mit einer weiteren Substanz, die nicht auf der Liste der verschriebenen Medikamente stand. Ein weißes Pulver, das sie jedes Mal nach den Pillen hinzufügte. Alexandru fühlte, wie sein Herz schneller schlug. Es gab keinen Zweifel mehr: Seine Mutter hatte ihn jahrelang manipuliert, ihm eine unbekannte Substanz verabreicht, die sein Leben immer wieder auf den Kopf gestellt hatte.

Tagein, tagaus hatte er heimlich weiter Beweise gesammelt. Jeden Morgen zeichnete er mit seiner Kamera auf, wie Irina ihm die Tabletten gab, wie sie in der vertrauten Routine die Dosis veränderte. Das Ritual war immer dasselbe – die verschriebenen Medikamente, dann das geheimnisvolle Pulver. Immer wieder. Und Alexandru, der sich selbst als gesund wähnte, konnte langsam keine Erklärungen mehr finden. Der schleichende Verdacht wuchs, dass er manipuliert wurde, aber die Wahrheit war zu beängstigend, um sie zu akzeptieren.

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Eines Nachmittags, als Irina bei der Arbeit war, konnte Alexandru die Versuchung nicht mehr widerstehen. Er schlich sich in das Schlafzimmer seiner Mutter, er wusste, dass er mit seinem Vorhaben gegen das Gesetz verstieß, aber er musste die Wahrheit herausfinden.

Unter dem Bett fand er eine verschlossene Schachtel. Mit einer Haarnadel knackte er das Schloss und öffnete sie. Was er fand, ließ ihm den Atem stocken: medizinische Unterlagen, seine eigenen medizinischen Akten. Diese hatte er noch nie gesehen. Die Diagnosen auf den Zetteln waren erschreckend – „Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom“, „Gesunder Patient, keine nachweisbaren Herzkrankheiten“, „Verdacht auf chronische Vergiftung“. Dutzende von Berichten aus verschiedenen Krankenhäusern, die in den letzten Jahren gesammelt worden waren. Aber das war noch nicht alles.

Am Boden der Schachtel lag ein Tagebuch. Alexandru schlug es auf und erkannte sofort die ordentliche Handschrift seiner Mutter. Die Worte darin ließen ihm das Blut in den Adern gefrieren.

„15. März. Sasha ist heute 15 geworden. Ich habe die Dosis erhöht. Die Ärzte beginnen Fragen zu stellen, wir müssen wieder die Klinik wechseln. Ich darf ihn nicht verlieren. Niemals.“

„7. Juli. Heute hatte ich eine Panikattacke, als Sasha sagte, er wolle zum Studium in eine andere Stadt ziehen. Ich konnte ihn überzeugen, dass sein Gesundheitszustand es ihm nicht erlaubt, allein zu leben. Er schien mir zu glauben.“

„22. November. Sasha wird immer selbstständiger. Ich habe Angst, dass er eines Tages merkt, dass er mich nicht braucht. Ich muss eine dauerhafte Lösung finden.“

Mit zittrigen Händen legte Alexandru das Tagebuch zur Seite. Die Wahrheit war viel schlimmer, als er es sich je hätte vorstellen können. Er war nie krank gewesen. Seine Mutter hatte ihn vergiftet, um ihn von sich abhängig zu machen, ihn immer an ihrer Seite zu halten. Ihre Lügen, ihre Manipulationen – alles war absichtlich, systematisch.

Er wusste, was er tun musste. Doch er konnte es nicht sofort konfrontieren. Alexandru packte die Dokumente und die Beweise zusammen, um sie sicher zu verwahren. Dann ging er zurück in sein Zimmer, ließ alles auf sich wirken und begann, sich einen Plan zu schmieden. Er konnte sich nicht einfach der Wahrheit stellen und hoffen, dass sie ihm glauben würde. Er musste vorsichtig sein.

Am nächsten Tag versuchte er, seine Mutter zu beruhigen, während er weiterhin die Nebenwirkungen einer geringeren Dosis simulierte. Mehr Energie, mehr Klarheit, ein untypisches Gefühl von Lebensfreude. Jeden Tag wurde der Widerstand gegen die geheimen Manipulationen seiner Mutter stärker. Und eines Abends brachte er das Thema auf die Ärzte. Vielleicht, so dachte er, war es der richtige Moment, einen Schritt weiterzugehen.

„Mama“, sagte Alexandru eines Abends, „in letzter Zeit fühle ich mich wirklich gut. Ich glaube, die Medikamente wirken endlich.“

Irina sah ihn mit schiefem Blick an. „Ach ja? Das freut mich zu hören.“

„Eigentlich habe ich überlegt… Vielleicht sollte ich mich mal untersuchen lassen. Zu sehen, ob sich mein Herz verbessert. Vielleicht brauche ich eines Tages keine Medikamente mehr.“

Irinas Gesicht verdüsterte sich. Die Augen blitzten für einen Moment auf, doch dann legte sie ihre Hand beruhigend auf seinen Arm. „Das ist keine gute Idee, Sasha. Dein Arzt hat gesagt, es ist eine lebenslange Erkrankung. Wir wollen doch kein Risiko eingehen.“

Alexandru hielt dem Blick seiner Mutter stand. Er war entschlossen. „Aber vielleicht gibt es neue Behandlungsmethoden“, drängte er weiter. „Es ist Jahre her, seit ich einen Spezialisten aufgesucht habe.“

„Nein!“, schrie Irina plötzlich, ehe sie sich wieder beruhigte. „Ich meine… nicht jetzt. Lass uns noch ein wenig warten.“

Alexandru nickte, als hätte er nachgegeben, doch in Wirklichkeit war sein Plan längst in Gang gesetzt. Heimlich hatte er einen Termin bei einem Arzt in einer anderen Stadt organisiert und eine Probe seiner „Medikamente“ in ein Labor geschickt. Es würde Zeit brauchen, aber er war bereit.

Woche für Woche lebte er weiter unter der Fassade, doch die Ergebnisse kamen schließlich. Die Medikamente, die ihm seine Mutter gab, enthielten mehr als nur die verschriebenen Mittel. Eine Mischung aus leichten Beruhigungsmitteln, dazu ein giftiges Pulver – Arsen, in kleinen Dosen, das langsam, aber stetig seine Gesundheit schädigte.

Mit diesen Beweisen in der Hand wandte sich Alexandru an die Polizei. Die Beweise waren erdrückend. Die Videoaufnahmen, das Tagebuch, die Laborergebnisse – sie reichten aus, um eine Ermittlung einzuleiten.

Eines Morgens, als Irina das Frühstück zubereitete, stand die Polizei an der Tür. Alexandru hörte die Stimme des Beamten, der seine Mutter ergriff. „Frau Irina Popescu? Sie sind wegen versuchten Mordes und Kindesmissbrauchs verhaftet.“

Irina drehte sich zu Alexandru um, Tränen in den Augen. „Sasha? Was hast du getan?“, flüsterte sie. „Du verstehst es nicht… alles, was ich getan habe, war aus Liebe. Ich brauchte dich… an meiner Seite.“

Als sie abgeführt wurde, blieb Alexandru in der Tür stehen. Er fühlte sich leer, aber zugleich auch befreit. „Ich werde dich besuchen kommen“, rief er ihr nach. Er wusste nicht, ob er es aus Pflichtgefühl oder wegen der alten Liebe tat. Doch die Freiheit, endlich die Wahrheit zu wissen, war für ihn wichtiger.

Mit einem letzten Blick auf die Frau, die ihn so viele Jahre lang in ihren Griff gehalten hatte, verließ er das Haus. Irina war im Polizeiwagen, und Alexandru blieb zurück. Endlich frei. Ein neues Leben begann – ohne Lügen, ohne Angst, ohne Gift.

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